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[ox] Demokratie vs. Freie Gesellschaft



Liebe Leute,

in einer anderen - KL-lokalen - Mailing-Liste hatte ich eine kurze
Debatte mit einem Menschen zum Thema des Subjects. Das paßt hier sehr
gut hin und ich möchte die wichtigste Mail daher gerne hier zitieren,
in der ich auf einige Argumente der Person eingehe. Sicher fällt euch
dazu auch etwas ein.

Leider hat die betreffende Person nicht zugestimmt, daß ich sie direkt
zitiere - auch nicht anonym. Ich werde daher versuchen, ihre
Argumentation einigermaßen korrekt widerzugeben - nicht einfach, da
sie sehr geballt argumentiert hat. Um die AutorInnenschaft
einigermaßen klarzukriegen, lasse ich die Formatierung jedoch wie sie
war.

Ausgelöst wurde die Debatte übrigens dadurch, daß ich auf die
`divercity'-Seite zur Freien Stadtplanung verwiesen hatte, deren Link
ich auch hier rumgeschickt hatte und der auf der Link-Seite zu finden
ist. Das ist der Text, auf den sich im folgenden mehrfach bezogen
wird.


						Mit li(e)bertären Grüßen

						Stefan

--- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< ---

Es gibt in der BRD vernünftige Modelle, wie mittels Gesetzen und
Verordnungen im Rahmen der Freiheitlich Demokratischen Grundordnung
(FDGO) bestimmte Entwicklungen ablaufen sollten - zumindest in der
Theorie.

Ich möchte mal festhalten: Im Rahmen der parlamentarischen Demokratie
in der BRD gibt es gewisse Modelle für Entwicklungen - ok.

Wie diese Modelle zu bewerten sind, halte ich aber durchaus für eine
erste, wichtige Frage. Inwieweit diese Modelle angewandt werden, ist
schon eine zweite Frage, die m.E. eben spätestens dann nicht mehr
vernachlässigt werden kann, wenn strukturelle Defizite die Anwendung
dieser Modelle verhindern.

So gesehen hätte ich schon eine Kritik an diesen Modellen und wünsche
mir eine positive Überwindung.

Das Modell ist ein demokratisches (nicht: basisdemokratisches), das
aus meiner Sicht mit dem Modell "Open Source" nicht voll
übereinstimmt.

Demokratie - ein weites Feld.

Ich würde dir aber zustimmen, daß demokratische Modelle mit den
Modellen, die in der Freien Software entstanden sind, nur bedingt
etwas zu tun haben. Mein Eindruck ist, daß diese Freien Modelle besser
mit Konsensorientierung als mit Demokratie beschrieben sind.

Das ist aber auf jeden Fall ein Punkt, wo sich noch mehr analytisch
und begrifflich gekümmert werden müßte.

"Open Source" ist im Fall freier Software quasi ein Spiel, das von
einer begrenzten Zahl von Menschen freiwillig in einem Teilbereich
der Gesellschaft betrieben wird. Das sollte die Gesellschaft solange
tolerieren, wie sie dadurch nicht in ihrem Bestand bedroht wird.

Na ja, im Sinne der oben erwähnten positiven Überwindung des
Bestehenden wäre eine Bedrohung des Bestandes der jetzigen
Gesellschaft ja durchaus erwünscht - vorausgesetzt, daß die Prinzipien
Freier Software von vielen eben als positive Überwindung gesehen
werden können. Das ist natürlich zu zeigen.

Durch die Übertragung der Idee in die Herrschaftssphäre gewinnt die
Thematik eine andere Qualität, weil das Ideal plötzlich verbindlich
und für alle Menschen zur Lebensrealität wird.

Ganz genau. Und wenn dieses Ideal "besser" ist als die FDGO, dann
sollte das auch genau so sein. Ob es besser ist, müssen allerdings die
Menschen entscheiden.

In dem Text werden nach meiner Meinung ganz klar andere Strukturen
der Legitimation von Macht(-ausübung) gefordert als die heute in der
BRD vorhandenen.

Perspektivisch auf jeden Fall, ja.

Für mich keine Grenzen oder Schutzmechanismen ersichtlich sind, die
einen Machtmißbrauch effektiv verhindern könnten.

Zunächst mal fällt mir auf, daß Offenheit grundsätzlich ein guter
Schutzmechanismus gegen Machtmißbrauch ist. "Wissen ist Macht" hat
schon seine tiefere Bedeutung und schon im Modell unserer Demokratie
spielt die Presse als Verteilerin von Wissen eine wichtige Rolle.

Dies wird bei der Freien Software exemplarisch vorgemacht und das
finde ich schon mal einen wichtigen Schutzmechanismus gegen
Machtmißbrauch.

Wenn wir die oben erwähnte Konsensorientierung als gegeben annehmen,
so wäre eine solche Kultur m.E. die stärkste Grenze für Machtmißbrauch
die ich mir überhaupt vorstellen kann.

Beides übrigens Punkte, wo die Prinzipien Freier Software der
Demokratie haushoch überlegen sind, wo gesellschaftlich relevantes
Wissen allerspätestens in den Betrieben (Betriebsgeheimnis) aber auch
schon in der Verwaltung geheim gehalten wird und wo Minderheiten eben
jederzeit überstimmt werden können.

So entstehende Machtvakua ermöglichen es beliebigen wirtschaftlichen
oder ideologischen Interessenvertretern, in Teilbereichen Macht an
sich zu ziehen, ohne daß ein wirksamer Schutz Einzelner oder von
Minderheiten gewährleistet zu sein scheint.

Die Verfügbarkeit von Wissen und die Abwesenheit formaler Strukturen
ermöglicht immerhin den Minderheiten, daß sie sich einbringen können -
so viel können wir vielleicht mal festhalten.

Immerhin kann sich bei Freier Software jedeR einbringen, der einen
Beitrag leisten kann oder auch nur einen Bug-Report oder
Verbesserungsvorschlag hat. Das Beispiel M$ zeigt, wie hartnäckig die
Produkte einer Demokratie sich gegen so etwas wehren können.

Aber ich würde dir Recht geben, daß die Abwesenheit formaler
Strukturen auch Unklarheit mit sich bringen kann - was aber vielleicht
auch nur eine Kulturfrage ist: Wenn du nicht weißt, wie Abstimmungen
funktionieren und sie ein legitimes Mittel sind, dann ist Demokratie
genauso unklar.

Das wäre aber auf jeden Fall auch ein Aspekt der Kümmerung verdient
hätte.

Der Text fordert eine Radikalisierung, ein Wegfall
staatlicher/behördlicher Lenkung oder Überwachung oder Beschränkung,
der ein Vakuum erzeugt.

Es gibt aber schon eine andere Form von Macht: Die der Beteiligten an
dem Prozeß, die die Macht in ihre Hände genommen haben. Das finde ich
im Sinne von Freiheit allemal besser, als wenn mir irgendein (nicht
mal demokratisch gewählter) Verwaltungs-Fuzzi meint in die Suppe
spucken zu müssen. Natürlich bedeutet Freiheit hier nicht
Grenzenlosigkeit sondern hat viel mit Verantwortung zu tun.

Die Geschichte zeigt, daß solche Situation eben Potential zum
Machtmißbrauch birgt. Unser Staat versucht diesem Mißbrauch
vorzubeugen, z.B. durch rechtsstaatliche Prinzipien,
Gewaltenteilung, klar definierte Bürgerrechte, Rechtssicherheit,
unabhängige Richter etc.

Nun, zunächst mal ist es ja nicht völlig undenkbar, daß auch eine
Freie Gesellschaft sich Regeln gibt, an die die Leute sich halten -
aus Einsicht in allererster Linie.

Ansonsten würde ich sagen, daß für eine positive Überwindung der
heutigen Mißstände wir grundsätzlich nicht damit rechnen können, daß
wir im Vorhinein alles wissen und können. Solche Dinge entwickeln sich
auch auf dem Weg.

Es ist allerdings eine - politisch - extrem wichtige Frage, wieviele
Leute einem solchen Weg vertrauen. Dazu sind praktische Beispiele wie
die Freie Software ausgesprochen wichtig.

Der Text beschreibt einen Apparat, der die Aufgaben der Verwaltung
für den Bereich der Stadtplanung übernehmen soll. Dieser Apparat
soll jedem offenstehen, der die Kenntnisse zu seiner Nutzung
mitbringt, und er *verschleiert* die Entscheidungsfindung.

Mag sein, daß die Entscheidungsfindung in einem autokratischen System
von Verwaltungsbeamten weniger schleierhaft ist - was ich noch stark
bezweifele. Daß die Entscheidungsfindung in einem solchen System
besser für die Menschen ist, halte ich aber für Humbug.

Außerdem verstehe ich nicht, warum du auf Verschleierung kommst. Wenn
sich jedeR beteiligen kann, der das will, was wird da verschleiert?

Anstatt von einer Behörde / Amt / Gericht wirst du von einer
kafkaesken Maschinerie zur Rechenschaft gezogen, die von zufällig
zusammengewürfelten Individuen mit unterschiedlichsten
Partikularinteressen beeinflußt wird.

Ich würde nicht sagen, daß das heute in irgendeiner Form besser ist.
Na ja, heute *weißt* du wenigstens, daß viele der Partikularinteressen
strukturell gegen deine eigenen gerichtet sind - z.B. die
Profitinteressen.

Das will ich für mich nicht.

Dein gutes Recht. Dennoch sehe ich nicht, warum dieses (theoretisch)
demokratische System irgendwie besser sein soll. Für mich ist
jedenfalls das, was uns als Demokratie verkauft wird, alles andere als
transparent.

Ich halte es darüber hinaus auch für nicht verfassungsgemäß.

Na, daß die Verfassung heute schon als Periodikum gehandelt wird (z.B.
Asylrecht) und die schlimmsten Verfassungsbrecher demokratisch gewählt
sind, stützt deine Argumentation jedenfalls nicht gerade.

Nach dem Text verleiht dir keine formale Instanz nach einem klar
vorgegebenen Verfahren irgendwelche Rechte, sondern nur dein
Wohlverhalten gegenüber allen.

Das ist ein Einwand, den ich strukturell teile. Die Frage ist nur, was
Wohlverhalten ist.

Wenn z.B. den anderen Mitspielern Deine Nase/Hautfarbe nicht
gefällt, bist Du in diesem Modell ihrer Willkür ausgeliefert. Das
ist ein klarer Qualitätsverlust. Ich sehe darin den Ansatz zu einer
Entrechtung.

Was du hier letztlich ansprichst ist die Frage von Konflikten - wo
mindestens eine Person ein Nicht-Wohlverhalten einer anderen
feststellt. Noch so ein weites Feld.

Dein Lösungsvorschlag ist, daß es eine übergeordnete Instanz - vulgo:
Staat - geben muß. Diese Instanz muß nach deiner Diktion Willkür
verhindern, was m.E. nur heißen kann, daß diese Instanz irgendwelche
Regeln durchsetzt.

Dazu wäre zu sagen, daß diese Instanz zunächst mal mit den nötigen
Gewaltmitteln ausgestattet sein muß, um tatsächlich auch etwas
durchsetzen zu können. Bei solchen zentralisierten Machtsystemen sehe
ich schon mal eine große Gefahr, des auch von dir befürchteten
Machtmißbrauchs.

Andererseits - und das wäre für mich die noch wichtigere Frage: Woher
kommen denn diese Regeln. Nachdem die Gottgegebenheit flach fällt,
können sie doch auch nur wieder von (intereressegeleiteten) Menschen
kommen. Und hier natürlich die der Mächtigsten unter denen - das
dürfte wohl klar sein.

Wenn ich das jetzt so zusammenfasse, dann sehe ich wieder nicht, was
an dieser Demokratie eigentlich so viel besser sein soll. Hier gibt es
ganz klare Machtkonzentrationen und die werden ganz klar eingesetzt
und die vielleicht theoretisch interessanten Modelle von oben werden
bis zur Unkenntlichkeit verbogen. Das hat natürlich eine gewisse
Kohärenz zur Folge, die das Leben vielleicht sogar einfacher macht
Zusammengefaßt vielleicht: Verhalte dich marktkonform und du hast eine
Chance. Für ein in langen Jahren zugerichtetes Menschlein sicher eine
einfache Regel.

Ich habe versucht, Bedenken gegen eine Entwicklung vorzubringen, die
die Grundlagen unseres Staates potentiell bedroht, an dem ich
durchaus auch gute Seiten erkenne die ich gerne bewahren möchte.

Da sind wir uns einig: Ich möchte in jedem Fall auch die
Errungenschaften dieser Epoche in der nächsten nicht nur bewahren,
sondern sie weiter ausbauen. Ob das mit den Prinzipien Freier Software
möglich ist, ist Gegenstand der Diskussion.

Ich habe etwas gegen gesellschaftliche "Experimente" mir unklarem
Ziel,

Das Ziel ist klar: Eine positive Aufhebung des Kapitalismus und mit
ihm tendenziell der demokratischen Form, die sich historisch als
politische Form des Kapitalismus in den hochentwickelten Staaten
herausgebildet hat. Daß dabei die Errungenschaften des Kapitalismus
und der Demokratie - die nochmal genauer zu bestimmen wären -,
erhalten bzw. weiterentwickelt werden, gehört da selbstverständlich
dazu.

die auch meine Lebensgrundlagen erschüttern können

Das Ziel wäre, die Lebensgrundlagen aller durch bessere zu ersetzen.

In diesem Sinne.


						Mit li(e)bertären Grüßen

						Stefan


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http://www.oekonux.de/



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