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[ox] Hommage von Kurz an Euch



Ulrichleicht t-online.de


hallo "free software fighters"

Habe die Tage zur Vorbereitung auf meinen gestrigen Auftritt im 
Marx-Engels-Zentrum in Wuppertal bei den "old-class-struggle-fighters" noch 
einmal in einen Aufsatz von Robert Kurz und Ernst Lohoff aus dem Jahre 1989 - 
"Der Klassenkampffetisch, Thesen zur Entmythologisierung des Marxismus" 
reingeschaut und dabei folgende Passage gefunden, die analysiert und 
theoretisch untermauert, warum die Zukunft und der befreiende 
gesellschaftliche Fortschritt letztlich in den Händen von Menschen wie Euch 
liegt. 
In den Krisis-Texten steckt wirklich viel Gescheites drin. Stefan Mz.
hat mir einmal geschrieben: "Krisis und Kritische Psychologie - das wäre eine 
unüberwindliche Mischung". Mich dem letzteren zu nähern habe ich Probleme. Ich 
vertraue da voll Stefan, der sich auskennt, und würde nur erweitern:
Krisis - Kritische Psychologie - Oekonux und das alles als "open theory" 
weiterentwickelt - das wäre die befreiende Mischung.
Und deshalb sollten wir auch eine gemeinsame, vernetzte Arbeit und auch 
Konferenz hinbekommen, für die nach wie vor unser Angebot aus Dortmund (IG 
Medien) steht. Meinen bescheidenen Möglichkeiten als Mitglied des 
Fördervereins von Krisis und Teilnehmer an der krisis-list versuche ich 
unablässig in diese Richtung Geltung zu verschaffen. 

*******************************  Die Textpassage ****************************

(aus: "Der Klassenkampffetisch, Thesen zur Entmythologisierung des Marxismus"  
Neuntes Kapitel, 3. Absatz bis Ende. Im Internet zu finden unter: 
http://www.giga.or.at/others/krisis/r-kurz-e-lohoff_klassenkampf-fetisch_
mk7-1989.html)

"(...)
Die Kritik des "Klassenkampffetischs" kann nur das Prolegomenon zur Analyse der 
Entstehungsbedingungen von Antiklasse und negativem Klassenbewusstsein sein. 
Vorweggenommen sei nur, was nach dem Gesagten auf der Hand liegt. Ein neues
revolutionäres Subjekt ist dort zu suchen, wo innerhalb der gesellschaftlichen 
Gesamtarbeit schon unter kapitalistischen Bedingungen Elemente einer ideellen 
und praktischen Negation der Arbeit selber auftauchen, d.h. des abstrakten 
Verausgabungsprozesses menschlicher Arbeitskraft als einer vermeintlich 
"natürlichen" und "sinnstiftenden" Angelegenheit. Diese Negation der 
proletarischen Arbeit geschieht am ehesten nicht in den traditionellen 
Industrien, sondern in den fortgeschrittensten Sektoren des 
Verwissenschaftlichungsprozesses, wo Lohnabhängige sich heute schon durch die 
Negation familiärer Reproduktion ("Familienverweigerung"), Teilzeitarbeit, 
bewusstes Ausnützen der sozialstaatlichen Netze usw. von einer totalen 
Subsumtion unter die abstrakte Arbeit zu entkoppeln und die Höhe des 
Vergesellschaftungsprozesses der Reproduktion für sich selber zu mobilisieren 
suchen, im offenen Gegensatz zur traditionellen Arbeiterbewegung ebenso wie zu 
den "alternativen" Reaktionären der kruden "Selbermacher"- und 
Selbstausbeutungs-Szene (den Schwachsinn der "Belegschaftsbetriebe" 
eingeschlossen). Diese fortschrittliche negatorische Einstellung zur abstrakten 
Arbeit existiert bereits real, sie scheint auf in den gängigen soziologischen 
(und natürlich begriffslosen) Analysen des "Wertewandels", in dem sich das 
Obsoletwerden der abstrakten Arbeit widerspiegelt.

Revolutionäre Subjektivität wird sich also gerade dort herausbilden, wo die 
Charaktermasken nicht mehr als zweite Haut organisch mit ihren Trägern 
verwachsen, und die eigene Sozialkategorie den Individuen selber ein 
äußerliches und eher befremdliches Merkmal wird. Die zentrale Voraussetzung 
für die Genesis eines transzendierenden Bewusstseins ist die Entstehung einer 
inneren Distanz zu allen Emanationen der Wertbeziehung in Menschengestalt, also 
auch zur eigenen Sozialfunktion. Diese radikal neue Grundhaltung ist keine 
fiktive Zukunftsmusik, sie zeichnet sich längst massenhaft empirisch ab. Von 
den marxistischen Nostalgikern unbemerkt hat sich eine breite soziale Schicht 
herauskristallisiert, für deren Angehörige die Nichtidentifikation mit der 
eigenen Sozialkategorie längst zum essentiellen Bestandteil ihres eigenen 
Selbstverständnisses und zur alltäglichen Lebenspraxis geworden ist. In den 
nachwachsenden Generationen ist zunehmend ein ausgesprochen "pragmatischer" 
und desillusionierter Umgang mit diversen wechselnden Einkommensquellen 
salonfähig und weit verbreitet. Die Übergänge vom Arbeitslosengeldbezieher zum 
Jobber, vom Kleinunternehmer zum Bafög-Empfänger sind fließend und in beide 
Richtungen durchgängig geworden, ohne dass diese wechselnden bis beliebigen 
Bestimmungen einen besonders nachhaltigen Eindruck im Selbstverständnis der 
Einzelnen hinterlassen müssten. Die mit dem Totalwerden der Geldbeziehung 
gesetzte Gleichgültigkeit der Einkommensquellen führt gerade in den modernsten 
Schichten der bürgerlichen Gesellschaft dazu, dass ein spezifischer Broterwerb 
nicht länger zum identitätsstiftenden Merkmal taugt. Die Selbstkonstituierung 
des revolutionären Subjekts kann an diese von der bürgerlichen Verkehrsform 
selber geschaffene flexible Grundhaltung anknüpfen. Zum revolutionären Subjekt 
sind daher Angehörige all jener Schichten und Gruppen prädestiniert, die das 
moderne flexibel werdende Kapitalverhältnis schon aus dem engen Horizont 
identifikatorischer Lebensformen entlässt; Menschen, die alle Rollen, zwischen 
denen die bürgerliche Gesellschaft den freien und gleichen Individuen die Wahl 
lässt, im Grunde gleichermaßen als Zwang und Zumutung empfinden müssen. 
Das Programm der fundamentalen Kritik von Ware und Geld kann nur bei den 
modernen Individuen Widerhall finden, die ihrem eigenen Selbstverständnis nach 
weder Arzt noch Sozialhilfeempfänger, weder Arbeiter noch Student noch 
Bankangestellter "sind", selbst wenn sie die eine oder andere dieser 
Positionen gerade innehaben. Der Weg zur konkreten revolutionären 
Subjektivität öffnet sich dort, wo die Menschen mit ihren Bedürfnissen und 
Fähigkeiten in ihrer abstrakten, an sich selber inhaltsleeren, von Geld und  
Ware konstituierten Subjektivität nicht mehr aufgehen und über sie 
hinausdrängen.

Es wäre allerdings ein fataler Fehlschluss, wollten wir in Anlehnung an die 
von der bürgerlichen Soziologie konstatierten Phänomene wie "Wertewandel" und 
"Abkehr vom protestantischen Arbeitsethos" uns freudiger Erwartung hingeben 
und auf die allmähliche und friedliche Herausbildung eines "postindustriellen 
Menschen" spekulieren, der weniger auf sein unmittelbares Geldinteresse 
versessen wäre und dem Pflänzchen Gemeinwohl Licht und Raum ließe, weil er 
sich in friedlicher Koexistenz "neben" den Formationen der abstrakten Arbeit 
gemütlich niederlassen könnte. Die "Antiklasse" kann erst mit der vollen Wucht 
der Krise von Wert und Ware überhaupt zum vollen Bewusstsein gelangen. Ihr 
Beruf ist nicht die Kreierung eines postindustriellen Hedonismus neben Ware 
und Geld, sondern die bewusste revolutionäre Zerstörung dieser Form von 
Gesellschaftlichkeit, weil sie untragbar geworden ist.

Die revolutionäre Theorie hat diesen Bewusstwerdungsprozess gegen die 
abstrakte Arbeit in Übereinstimmung mit dem objektiven 
Verwissenschaftlichungsprozess der Reproduktion zu unterstützen und zu 
beschleunigen, nicht aber die Vergangenheit des "Klassenkampfes" wieder 
hilflos heraufzubeschwören. Kommunistisches Bewusstsein und "proletarisches
Klassenbewusstsein" schließen sich gegenseitig aus. Deswegen gibt es auch 
keine "revolutionäre Klassenpartei des Proletariats" oder dergleichen mehr 
"aufzubauen". Die meisten derjenigen, die in den letzten zehn Jahren von 
dieser "Titanic" des "klassenbewussten Parteiaufbaus" etc. abgesprungen sind, 
haben jedoch nicht einmal die Hälfte der Wahrheit für sich, weil sie das 
Obsoletwerden der proletarischen Arbeit ausgerechnet mit einer Verewigung der 
Warenproduktion identifizieren, innerhalb der es bestenfalls noch für 
"demokratische Reformen" zu kämpfen gelte. Das genaue Gegenteil ist richtig. 
Mit der objektiven und zunehmend subjektiven Negation der abstrakten Arbeit 
steht erst wirklich der Kommunismus auf der Tagesordnung, nicht als 
"proletarische Revolution", sondern als Revolution gegen die proletarische 
Arbeit, d.h. als Revolution gegen den Wert.


1 Paul Mattick, Marxismus und die Unzulänglichkeiten der Arbeiterbewegung, in: 
Arbeiterbewegung Theorie und Geschichte Jahrbuch 1, Frankfurt 1973, S. 193.

2 Boudin, das theoretische System von Karl Marx, Stuttgart 1909, S. 172

3 Karl Kautsky, zitiert nach Henryk Grossmann, Das Akkumulations- und 
Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, Frankfurt M., 1970, S. 73

4 Alfred Braunthal, Die Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Wirtschaft, 
Berlin 1927, S.7.

5 Henryk Grossmann, das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des 
kapitalistischen Systems, Frankfurt M., 1970, (Ersterscheinung 1929), S.140

6 Nikolaj Bucharin: Ökonomik der Transformationsperiode, Hamburg 1970 S. 63



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