[ox] Hommage von Kurz an Euch
- From: UlrichLeicht t-online.de (Ulrich Leicht)
- Date: Sun, 8 Oct 2000 11:11:06 +0200
Ulrichleicht t-online.de
hallo "free software fighters"
Habe die Tage zur Vorbereitung auf meinen gestrigen Auftritt im
Marx-Engels-Zentrum in Wuppertal bei den "old-class-struggle-fighters" noch
einmal in einen Aufsatz von Robert Kurz und Ernst Lohoff aus dem Jahre 1989 -
"Der Klassenkampffetisch, Thesen zur Entmythologisierung des Marxismus"
reingeschaut und dabei folgende Passage gefunden, die analysiert und
theoretisch untermauert, warum die Zukunft und der befreiende
gesellschaftliche Fortschritt letztlich in den Händen von Menschen wie Euch
liegt.
In den Krisis-Texten steckt wirklich viel Gescheites drin. Stefan Mz.
hat mir einmal geschrieben: "Krisis und Kritische Psychologie - das wäre eine
unüberwindliche Mischung". Mich dem letzteren zu nähern habe ich Probleme. Ich
vertraue da voll Stefan, der sich auskennt, und würde nur erweitern:
Krisis - Kritische Psychologie - Oekonux und das alles als "open theory"
weiterentwickelt - das wäre die befreiende Mischung.
Und deshalb sollten wir auch eine gemeinsame, vernetzte Arbeit und auch
Konferenz hinbekommen, für die nach wie vor unser Angebot aus Dortmund (IG
Medien) steht. Meinen bescheidenen Möglichkeiten als Mitglied des
Fördervereins von Krisis und Teilnehmer an der krisis-list versuche ich
unablässig in diese Richtung Geltung zu verschaffen.
******************************* Die Textpassage ****************************
(aus: "Der Klassenkampffetisch, Thesen zur Entmythologisierung des Marxismus"
Neuntes Kapitel, 3. Absatz bis Ende. Im Internet zu finden unter:
http://www.giga.or.at/others/krisis/r-kurz-e-lohoff_klassenkampf-fetisch_
mk7-1989.html)
"(...)
Die Kritik des "Klassenkampffetischs" kann nur das Prolegomenon zur Analyse der
Entstehungsbedingungen von Antiklasse und negativem Klassenbewusstsein sein.
Vorweggenommen sei nur, was nach dem Gesagten auf der Hand liegt. Ein neues
revolutionäres Subjekt ist dort zu suchen, wo innerhalb der gesellschaftlichen
Gesamtarbeit schon unter kapitalistischen Bedingungen Elemente einer ideellen
und praktischen Negation der Arbeit selber auftauchen, d.h. des abstrakten
Verausgabungsprozesses menschlicher Arbeitskraft als einer vermeintlich
"natürlichen" und "sinnstiftenden" Angelegenheit. Diese Negation der
proletarischen Arbeit geschieht am ehesten nicht in den traditionellen
Industrien, sondern in den fortgeschrittensten Sektoren des
Verwissenschaftlichungsprozesses, wo Lohnabhängige sich heute schon durch die
Negation familiärer Reproduktion ("Familienverweigerung"), Teilzeitarbeit,
bewusstes Ausnützen der sozialstaatlichen Netze usw. von einer totalen
Subsumtion unter die abstrakte Arbeit zu entkoppeln und die Höhe des
Vergesellschaftungsprozesses der Reproduktion für sich selber zu mobilisieren
suchen, im offenen Gegensatz zur traditionellen Arbeiterbewegung ebenso wie zu
den "alternativen" Reaktionären der kruden "Selbermacher"- und
Selbstausbeutungs-Szene (den Schwachsinn der "Belegschaftsbetriebe"
eingeschlossen). Diese fortschrittliche negatorische Einstellung zur abstrakten
Arbeit existiert bereits real, sie scheint auf in den gängigen soziologischen
(und natürlich begriffslosen) Analysen des "Wertewandels", in dem sich das
Obsoletwerden der abstrakten Arbeit widerspiegelt.
Revolutionäre Subjektivität wird sich also gerade dort herausbilden, wo die
Charaktermasken nicht mehr als zweite Haut organisch mit ihren Trägern
verwachsen, und die eigene Sozialkategorie den Individuen selber ein
äußerliches und eher befremdliches Merkmal wird. Die zentrale Voraussetzung
für die Genesis eines transzendierenden Bewusstseins ist die Entstehung einer
inneren Distanz zu allen Emanationen der Wertbeziehung in Menschengestalt, also
auch zur eigenen Sozialfunktion. Diese radikal neue Grundhaltung ist keine
fiktive Zukunftsmusik, sie zeichnet sich längst massenhaft empirisch ab. Von
den marxistischen Nostalgikern unbemerkt hat sich eine breite soziale Schicht
herauskristallisiert, für deren Angehörige die Nichtidentifikation mit der
eigenen Sozialkategorie längst zum essentiellen Bestandteil ihres eigenen
Selbstverständnisses und zur alltäglichen Lebenspraxis geworden ist. In den
nachwachsenden Generationen ist zunehmend ein ausgesprochen "pragmatischer"
und desillusionierter Umgang mit diversen wechselnden Einkommensquellen
salonfähig und weit verbreitet. Die Übergänge vom Arbeitslosengeldbezieher zum
Jobber, vom Kleinunternehmer zum Bafög-Empfänger sind fließend und in beide
Richtungen durchgängig geworden, ohne dass diese wechselnden bis beliebigen
Bestimmungen einen besonders nachhaltigen Eindruck im Selbstverständnis der
Einzelnen hinterlassen müssten. Die mit dem Totalwerden der Geldbeziehung
gesetzte Gleichgültigkeit der Einkommensquellen führt gerade in den modernsten
Schichten der bürgerlichen Gesellschaft dazu, dass ein spezifischer Broterwerb
nicht länger zum identitätsstiftenden Merkmal taugt. Die Selbstkonstituierung
des revolutionären Subjekts kann an diese von der bürgerlichen Verkehrsform
selber geschaffene flexible Grundhaltung anknüpfen. Zum revolutionären Subjekt
sind daher Angehörige all jener Schichten und Gruppen prädestiniert, die das
moderne flexibel werdende Kapitalverhältnis schon aus dem engen Horizont
identifikatorischer Lebensformen entlässt; Menschen, die alle Rollen, zwischen
denen die bürgerliche Gesellschaft den freien und gleichen Individuen die Wahl
lässt, im Grunde gleichermaßen als Zwang und Zumutung empfinden müssen.
Das Programm der fundamentalen Kritik von Ware und Geld kann nur bei den
modernen Individuen Widerhall finden, die ihrem eigenen Selbstverständnis nach
weder Arzt noch Sozialhilfeempfänger, weder Arbeiter noch Student noch
Bankangestellter "sind", selbst wenn sie die eine oder andere dieser
Positionen gerade innehaben. Der Weg zur konkreten revolutionären
Subjektivität öffnet sich dort, wo die Menschen mit ihren Bedürfnissen und
Fähigkeiten in ihrer abstrakten, an sich selber inhaltsleeren, von Geld und
Ware konstituierten Subjektivität nicht mehr aufgehen und über sie
hinausdrängen.
Es wäre allerdings ein fataler Fehlschluss, wollten wir in Anlehnung an die
von der bürgerlichen Soziologie konstatierten Phänomene wie "Wertewandel" und
"Abkehr vom protestantischen Arbeitsethos" uns freudiger Erwartung hingeben
und auf die allmähliche und friedliche Herausbildung eines "postindustriellen
Menschen" spekulieren, der weniger auf sein unmittelbares Geldinteresse
versessen wäre und dem Pflänzchen Gemeinwohl Licht und Raum ließe, weil er
sich in friedlicher Koexistenz "neben" den Formationen der abstrakten Arbeit
gemütlich niederlassen könnte. Die "Antiklasse" kann erst mit der vollen Wucht
der Krise von Wert und Ware überhaupt zum vollen Bewusstsein gelangen. Ihr
Beruf ist nicht die Kreierung eines postindustriellen Hedonismus neben Ware
und Geld, sondern die bewusste revolutionäre Zerstörung dieser Form von
Gesellschaftlichkeit, weil sie untragbar geworden ist.
Die revolutionäre Theorie hat diesen Bewusstwerdungsprozess gegen die
abstrakte Arbeit in Übereinstimmung mit dem objektiven
Verwissenschaftlichungsprozess der Reproduktion zu unterstützen und zu
beschleunigen, nicht aber die Vergangenheit des "Klassenkampfes" wieder
hilflos heraufzubeschwören. Kommunistisches Bewusstsein und "proletarisches
Klassenbewusstsein" schließen sich gegenseitig aus. Deswegen gibt es auch
keine "revolutionäre Klassenpartei des Proletariats" oder dergleichen mehr
"aufzubauen". Die meisten derjenigen, die in den letzten zehn Jahren von
dieser "Titanic" des "klassenbewussten Parteiaufbaus" etc. abgesprungen sind,
haben jedoch nicht einmal die Hälfte der Wahrheit für sich, weil sie das
Obsoletwerden der proletarischen Arbeit ausgerechnet mit einer Verewigung der
Warenproduktion identifizieren, innerhalb der es bestenfalls noch für
"demokratische Reformen" zu kämpfen gelte. Das genaue Gegenteil ist richtig.
Mit der objektiven und zunehmend subjektiven Negation der abstrakten Arbeit
steht erst wirklich der Kommunismus auf der Tagesordnung, nicht als
"proletarische Revolution", sondern als Revolution gegen die proletarische
Arbeit, d.h. als Revolution gegen den Wert.
1 Paul Mattick, Marxismus und die Unzulänglichkeiten der Arbeiterbewegung, in:
Arbeiterbewegung Theorie und Geschichte Jahrbuch 1, Frankfurt 1973, S. 193.
2 Boudin, das theoretische System von Karl Marx, Stuttgart 1909, S. 172
3 Karl Kautsky, zitiert nach Henryk Grossmann, Das Akkumulations- und
Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems, Frankfurt M., 1970, S. 73
4 Alfred Braunthal, Die Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Wirtschaft,
Berlin 1927, S.7.
5 Henryk Grossmann, das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des
kapitalistischen Systems, Frankfurt M., 1970, (Ersterscheinung 1929), S.140
6 Nikolaj Bucharin: Ökonomik der Transformationsperiode, Hamburg 1970 S. 63
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