[ox] Werttheorie und Marx-Exegese
- From: Hans-Gert Graebe <graebe informatik.uni-leipzig.de>
- Date: Fri, 24 Nov 2000 13:40:42 +0100 (MET)
Hallo allerseits,
Ihr merkt es schon, freitags habe ich manchmal etwas mehr Zeit.
Deshalb heute auch eine etwas längere Mail. Habe trotzdem nur mails
bis zum 21 Nov berücksichtigt.
Stefan Meretz (20 Nov)
Mal folgenden Gedanken gedacht, nun auf stoffliche Produkte bezogen:
Wenn der der eigentlichen stofflichen Realisierung vorausgehende
nichtstoffliche Anteil der Produktion "verwertlost" und
"verunproduktiviert" wird - zum Beispiel in dem es als Freies
GPL-Wissen hergestellt wird - dann steht dieser dann allen
weltweiten stofflichen Realisierern zur Verfügung. Angenommen, das
passiert effektiv und durchgreifend und erfolgreich, dann wird das
Kostenniveau allein durch die stoffliche Realisierung bestimmt.
Reden wir mal nicht von Kosten, sondern von Ressourcen. Die braucht
nämlich auch der erste Teil. Es geht dann
1. um den Umfang des allgemeinen Ressourcentransfers in den
Infrastrukturbereich ("Reichtum teilen, Armut bekämpfen" - ich
empfehle der PDS seit langem, diesen ihren Slogan auch mal so zu
denken, bisher leider vergebens),
2. um die Verteilung dieser Ressourcen in der Infrastruktursphäre,
ohne sie zu "vergeuden" (sorry, ich kann es nicht lassen),
d.h. nach irgendwelchen Effizienzkriterien,
3. um diese Effizienzkriterien selbst (wenigstens heute, wo das
Kapital aus durchsichtigen Gründen gern "Steuerverschwendung"
schreit und meist genügend "Mitschreier" findet).
Weiter Stefan
Wenn nun das Verhältnis von nichtstofflichem wertlosem Wissen und
stofflichem werthaltigem Ding sich zu Gunsten des Letzterem
verschiebt, dann gehen tendenziell alle proprietären Produzenten
pleite. Die Kapitalverwertung entzieht völlig immanent ihre eigene
Substanz - den Wert.
Nicht so fix. Die Infrastruktur _allein_ liefert genauso wenig
materielle Produkte wie es die _produktive Arbeit allein_ vermag. Das
Problem ist, dass auf dem verbleibenden "dünnen Fädchen" zwischen
Infrastruktur und Produkt in diesem System _der gesamte Wert_ des
Produkts entsteht, der dann nach allen Seiten umverteilt werden muss.
Es ist für mich nicht stringent zu schlussfolgern, dass dazu diese
Wertbasis außer Kraft zu setzen ist. Einzige Forderung, die sich
logisch ergibt, ist mE die folgende: ein ausreichender Teil dieses
Werts muss _sofort_ in die "Büchse" kommen, also zur Umverteilung
vergesellschaftet werden. Stichwort: Wertschöpfungsabgabe (aber eine
wirkliche und keine Alibiveranstaltung)
Das wäre natürlich auch schon eine andere Gesellschaft, aber eben mit
einem "domestizierten Markt", nicht einem abgeschafften. Trotzdem eine
leicht andere Perspektive als bei Ralf (21 Nov).
Graham (21 Nov)
Any increase in productivity decreases the value of individual
goods; becoming increasingly value-exempt is the normal tendency of
capitalism.
Das ist für den einzelnen Kapitalisten sicher richtig. Es wäre aber
mal interessant (und in dem hier eröffneten Kontext schlicht
notwendig) zu schauen, ob die Rechnung auch "im Großen" stimmt,
d.h. wenn alle Infrastrukturkosten (insbesondere Kosten für
Wissens(re)produktion und ökologische Folgekosten) mitgerechnet
werden. Oder anders: ob die fallenden produktiven Kosten nicht durch
wachsende externalisierte Kosten (mehr als) aufgewogen werden.
Franz (21 Nov)
Es würde sehr gut in meine Visison passen, wo unsere
Siedlungsformen (bolos) sehr stark dem "Paradigma der Pflanze"
verpflichtet sind, das heißt der Nutzung lokaler materieller
Ressourcen - was aber durch immer intensiveren (!)
Informationsaustausch unterstützt wird. Mein Bild ist also etwas
anders als das von Stefan Mn. ich glaube an eine Form der Synergie
von lokaler Gestaltung und globaler Zusammenarbeit, die
hundertprozent nach dem Muster von open Source verläuft, dieses
aber sozusagen in doppeltem Sinn "auf den Boden" bringt.
Andere sagen dazu "Global denken - lokal handeln". Die materiellen
Ressourcen (und Folgen!) sind lokal (oder eher regional?)
strukturiert, weil immobil. Die geistigen Güter, der "Wissenspool"
dagegen global. Vielleicht sollten wir hier auch mal "Standort" und
"Globalisierung" unter _diesem_ Aspekt durchdeklinieren. Ein Versuch
meinerseits ("Zur Globalisierung der Ökonomie") liegt unter
http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe/projekte/infopapers/glob.html
im Netz.
Die emphatischen Schlussfolgerungen von Franz teile ich nicht. Dass
eine Region der anderen in Zukunft nicht an den Kragen geht, ist
_nicht_ aus lokaler Selbstorganisation zu motivieren, sondern nur aus
einem global wirksamen moralischen Prinzip (einem Kantschen
kategorischen Imperativ für Regionen wie er im Gorbatschowschen,
inzwischen lang vergessenen oder sogar verfemten "Neuen Denken"
entwickelt wurde). Quelle für ein solches moralisches Prinzip sehe
ich nur in der Einsicht, dass Schäden, die eine Region einer anderen
zufügt, unmittelbar auf die Reproduzierbarkeit des Wissenspools zurück
schlagen. Nur aus einem solchen _globalen_ Argument ergibt sich der
Drang, _lokal_ Frieden zu halten. Ohne einen solchen globalen Konsens
entwickeln sich die Dinge schnell wie derzeit in Palästina.
Ich bringe noch einmal das Marxzitat, das Graham (20 Nov) in der
englischen und Ralf (21 Nov) in der deutschen Version posteten, weil
auch ich es für zentral halte
... die Schöpfung des wirklichen Reichtums weniger abhängt von der
Arbeitszeit und dem Quantum angewandter Arbeit als von der Macht
der Agentien, die während der Arbeitszeit in Bewegung gesetzt
werden und die selbst wieder [...] in keinem Verhältnis steht zur
unmittelbaren Arbeitszeit, die ihre Produktion kostet, sondern
vielmehr abhängt vom allgemeinen Stand der Wissenschaft und dem
Fortschritt der Technologie. (MEW 42, S. 592)
Ich interpretiere das aber, gerade auch im Kontext der Quelle, wo es
steht, nur als Aussage von Marx über die _Grenzen seiner ökonomischen
Theorie_. Ob Kapitalismus in der Lage ist, (auch) diese Grenze zu
nehmen, thematisiert Marx nicht (wäre auch etwas früh gewesen). Marx
sieht ziemlich genau, auf welchen Prämissen (Axiomen) seine
ökonomische Theorie steht. Wenn deren Grenzen, nach Meinung des
Meisters selbst, erreicht sind, dann muss hier _über Marx hinaus_
gedacht werden (ein Greuel und Frevel für die Mehrzahl der lokalen
"Marx-Exegeten"; Kostprobe unter
http://people.freenet.de/LisaLeipzig.de/Pro.htm)
ME wird dabei aber keine Überflußgesellschaft heraus kommen (wie hier
oft argumentiert und auch bei Marx ... "Springquellen" etc. ...
angedacht; meine Gegenargumente: 1. Ökologie, 2. Natur organisiert
sich sonst auch meist nach einem Sparsamkeitsprinzip), sondern
zunächst eine Kompetenz- oder Vorsorgegesellschaft, in der das
Bereithalten von Konzepten für verschiedene Alternativen größeres
Gewicht hat als deren Realisierung. Nur so wird Offenheit von Zukunft
und damit die bisherige Spontanität menschlicher Vergesellschaftung
operationalisierbar. Und so verstehe ich auch obiges Zitat von Marx
als Hinweis, in welcher Richtung seine ökonomische Theorie zu
verallgemeinern ist. Es muss die Dynamik der "Macht der Agentien",
des "allgemeinen Stands der Wissenschaft und des Fortschritts der
Technologie" _direkt_ ins Visier genommen werden, von der das "Quantum
angewandter Arbeit" nur ein Teilaspekt ist.
Ansonsten voll Zustimmung zu Uli (21 Nov). Allerdings schreibst Du an
einer Stelle
Automatisch zusammenbrechen tut nichts, es wird nur prekäreer,
perverser und letztlich wohl auch barbarischer.
Dem halte ich die Erfahrung der "Implosion" der DDR und des ganzen
Ostblocksystems (als _Möglichkeit_) entgegen. Außerdem belegen Klix,
Lanius in "Die Wege und Irrwege der Menschenartigen", dass solche
"lautlosen Zusammenbrüche" auch in der bisherigen
Menschheitsgeschichte eher die Regel und der je große Krach die
Ausnahme waren. Hier halte ich es mit dem Konzept der "Revolution im
Fünferschritt". Aber da sind wir auch wieder bei Oekonux und Ulis
Argumenten.
Mit freundlichen Grüßen, Hans-Gert Gräbe
_________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de