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Virtuelles Kettensaegenmassaker? (Re: [ox] Zu Stefan Merten)



Hi,

hoffentlich kommt ich nicht unter die Säge, wenn ich mich einmische.

Nach meinem Eindruck seid ihr nicht so weit auseinander, um so
verwunderlicher finde ich die Schärfe der Auseinandersetzung. Ich
sehe zwei Möglichkeiten: Abbruch, weil man's nicht aushält in Form
und/oder Inhalt (könnte ich voll verstehen); oder Argumente
verstehen und argumentieren. Ich mische mich mit Argumenten ein. Ein
Versuch.

rhizom 00 schrieb:
Bei einigen Linken ersetzt halt anscheinend der Glaube an irgendwelche
zweifelhaften virtuellen Alternativen die konkrete politische Praxis.

Das Praxisproblem trifft zur Zeit so ziemlich alle, was
interventionsfähige Politik betrifft. Freie Software ist insofern
was anderes, weil sie gar nicht primär politisch sein will, dies
aber _praktisch_ doch ist. Denn eins ist sie ganz sicher: praktisch.

Das Ganze ist äußerst reformistisch und technik-deterministisch.

Redest du von Oekonux oder von der Freien Software? Über beides kann
man eigentlich keine zusammenfassenden Aussagen machen. Da gibst
solche und solche und die Mehrheit, die in keine Schublade passt.

Diese ganzen Texte die es da gibt, interessieren mich eigentlich nicht, da
ich meine Zeit besser verbringen kann als damit, daß ich stundenlang Unsinn
lese und dann eine Kritik formuliere, von der ich sowieso schon weiß, wie
sie ausschaut. Nämlich ein Reformismusvorwurf.

Du kannst wohl hellsehen. Aber mich würde schon mal interessieren,
wie den Reformismusvorwurf begründest. Das wäre mal was neues, denn
- jetzt spreche ich mal nur für mich - mir wurde meist "Utopismus"
oder "Fundamentalismus" vorgeworfen, aber noch nie Reformismus.

Entweder Fundamentalkritik des Kapitalismus oder Reformismus. Dazwischen
gibt es nichts. Für mich ist nur das erste akzeptabel, das letzte zu
kritisieren.

Na, wenn das so ist, dann kannst Du das doch begründen.

Alles was als politische Emanzipationsbewegung interpretiert werden könnte
war geschichtlich gesehen zwar nicht sehr erfolgreich, aber immerhin
erfolgreicher als ökonomische Emanzipationsversuche. Solche Projekte sind
nämlich meist Selbstzweck, es geht nicht darum, Menschen von etwas zu
überzeugen, sondern sich mit sich selbst zu beschäftigen.
Genau so sieht das auch bei diesem Linuxgequatsche aus. Tatsächliche Politik
findet ohnehin nicht in Mailinglisten statt. Aber um Politik scheint es Dir
ja nicht zu gehen.
Wenn es irgendwann mal eine Hoffnung auf Emanzipation vom Kapitalismus
gegeben haben sollte, dann noch am ehesten in der Arbeiterbewegung in ihren
guten Tagen. Und das war nun mal kein ökonomisches Projekt, sondern eine
politische Bewegung.

Also, die eine Abteilung der Arbeiterbewegung in ihrer staatlich
verfassten Form war ein ökonomisches Projekt und ist als solches
gescheitert. Die andere Abteilung der keynsianistischen Variante
versuchte es innerhalb des bürgerlichen Staates mit Reformen und ist
auch ökonomisch gescheitert. Politisch waren sie, insofern sie für
eine andere Ökonomie eintraten - was denn sonst?

Heute ist das zwar eher unrealistisch, da das
Bewußtsein in seiner Eindimensionalität massenhaft hergestellt wird und das
Resultat der rassistische Arbeiter für sich ist. Das heißt aber nicht, daß
sich das Bewußtsein nicht auch positiv verändern könnte. Aber wenn, dann nur
durch einen politischen Trigger, nicht durch einen ökonomischen.

Wieso nicht? Nichts ist überzeugender als ein gutes Leben - und es
gibt auch IMO keinen anderen Grund für politisches Engagement. Mit
dem Verhältnis von Sein und Bewußtsein und dem Sein als dem
bestimmenden Moment sieht auch Marx das anders.

Wo waren denn historisch gesehen die großen gesellschaftlich relevanten
konkreten ökonomischen Emanzipationsbewegungen?

Die grosse erlebte (und überlebte) ist die bürgerliche
Emanzipationsbewegung. Sie hat die personal-willkürlichen
Abhängigkeitsbeziehungen des Feudalismus zerschlagen. Sie hat sie
ökonomisch durchgesetzt, in vielen Ländern sogar gegen andersartige
äußere politische Formen. Ein klassisches Beispiel.

Glaubst Du tatsächlich, daß Linux, GPL, etc. den rassistischen
Arbeiteridioten auf der Straße interessieren??? Nein, hier zählen Argumente.

Du glaubst, dieser von dir so gesehene Mensch würde deine Argumente
hören wollen? Wahrscheinlich greift der lieber zu Linux, denn das
kostet wenigstens nix - hier und heute.

Darauf käme es nämlich an. Linux und dessen angebliche Keimform etc.
interessiert einige mit Spezialinteressen, aber von wirklicher Relevanz ist
es heute nicht.

Computer alltäglich nutzen zu können, ist kein Spezialinteresse.
Dass die meisten es _noch_ mit M$ tun, ist eine andere Frage. Linux
ist ein praktisch existentes Faszinosum. Ob es eine Keimform
darstellt, ist in der Tat ein Spezialfrage, etwa so eine
Spezialfrage wie Spartakus' Zeiten die nach dem "freien Menschen"
(in bürgerlicher Form, die damals allerdings noch nicht denkbar
war).

Nennt Euch doch reformistische Informatik, denn Kritik ist etwas anderes.

Na, was denn?

Eine ökonomische "Keimform" kann es im Kapitalismus nicht geben, da du hier
niemals den Tausch aufheben kannst und Du letzen Endes immer an die Geldform
gebunden bleibst. So einfach ist das.

Da sind wir uns einig, denn ich sage, dass diese "Keimform" nicht
_im_ Kapitalismus existiert, sondern quasi _daneben_. Sie ist aber
im Kapitalismus entstanden, konnte aber nur Keimform werden, weil
sie sich praktisch von den Formen von Geld, Ware, Markt etc.
abgeschnitten hat. Was ist daran reformistisch?

Du kannst kritisieren, dass die Bestimmung der Keimform falsch ist.
Du kannst sagen, dass sie sich nie entfalten können wird und
deswegen wieder zurückfallen wird in die alten Formen. Du kannst
kritisieren, dass den Akteuren der Prozess nicht bewusst ist. Du
kannst kritisieren, dass es viele Widersprüche gibt, dass der
wertfreie Kern von Zusatzwerten ummantelt wird, um ihn verwertbar zu
machen. Usw. Die jeweiligen Begründungen für solche Kritiken wären
spannend, denn sie bringen uns weiter. Das hingeknallte "Das ist
reformistisch" nicht sehr.

Resultate sind in diesen
"Alterativprojekten" eben immer wieder die Reproduktion der ganzen alten
Scheiße, ob in Tauschringen, selbstverwalteten Betrieben oder sonstwas.

Das sehe ich zu großen Teilen auch so, obwohl genaues Hinsehen
lohnt. Du verwechselst Freie Software mit "Alternativprojekten".

Und viel von dieser ganzen Reformismuskacke will eben den Tausch auch nicht
unmittelbar aufheben, sondern will eine Übergangsphase.

Freie Software hat im Kernbereich den Tausch unmittelbar aufgehoben.
Genaugenommen hat sie verhindert, das der dort einzieht, aber so
genau nehmen wir das jetzt nicht. Davon hast auch du was: Das Zeug
kostet nix. Das gilt genau für die kritisierten Alternativprojekte
nicht, das ist richtig.

Und jede
Übergangsphase verharrt im Alten, ist kein Fortschritt und wird auch niemals
einer sein. Ich bezweifle, daß es ein Hinüberwachsen in eine andere
Gesellschaft gibt, nur einen qualitativen Bruch samt Aufhebung im
Bifurkationspunkt.

War der Übergang vom Feudalismus in den Kapitalismus ein
Hinüberwachsen oder ein qualitativer Bruch samt Aufhebung? Es gab
doch sicher beides - mit dem bestimmenden Moment des Bruches und der
Aufhebung. Doch auch der Bruch und die Aufhebung passierten nicht an
einem singulären zeitlichen Punkt, sondern zogen sich zeitweise
lange hin. Herausragende Ereignisse wie die frz. Rev. markieren doch
nur Kulminationspunkte in einem historischen Prozess.

Jeder qualitative Sprung hat Übergänge, ob dir das gefällt oder
nicht. Danach zu fragen, ist absolut legitim. Um die Antwort ist zu
streiten.

Natürlich wird der Kapitalismus auf dem Feld der Ökonomie nicht für
unschlagbar gehalten, aber postuliert, daß er dabei nur politisch schlagbar
ist, da eine Veränderung nur durch eine Massenbewegung erfolgen kann. Und
diese Massen gilt es zur Selbstorganisation zu bewegen.

Ein "Widerspruch in sich": jemanden zur Selbstorganisation bewegen?
Wie willst Du glaubhaft sein, wenn du dich nicht selbst
organisierst, es nicht praktisch vormachst? Selbstorganisation nur
als politische Selbstorganisation - und das "normale" Leben läuft
friedlich daneben in den beschissenen alten Formen? Und dann haben
es deine von dir selbst organisierten Massen geschafft, was dann?
Kommt _dann_ die ökonomische Selbstorganisation?

Ansonsten kommt
wiederum nur Herrschaft heraus. Fortschritt ist nur die Aufhebung jeder
Herrschaft und die Aufhebung aller kapitalistischen Kategorien. Sofort.

Ja, wie die Freie Software, dort gibt's noch nicht mal mehr
Demokratie. Ist zwar nur ein winziger Bereich und auch wenig
reflektiert - aber eine höchst praktische Aufhebung. Das hat
historisch noch keiner hinbekommen sonst.

Nicht später. Denn dieses später wird es sonst nicht geben, da es neue
Herrschende unter anderen Vorzeichen geben wird.

Du verschiebst doch das Leben auf später, und willst jetzt nur die
Politik. Da geht doch nicht auf, das ging es noch nie. Da hat auch
niemand Lust drauf.

Wie realistisch ist denn
das, daß sich all die Menschen, die zum großen Teil schauen müssen, wie sie
über die Runden kommen, an sogenannten ökonomischen "Alternativprojekten"
orientieren und dann ein revolutionäres Bewußtsein entwickeln?

Du hast das Bild der gescheiterten Alternativprojekte vor Augen. Das
taugt nicht als Folie für die Freie Software. Das beschriebene
"erst-dann" teile ich nicht (es hat auch nicht funktioniert).

Noch
unrealistischer, als daß sie politisch zur sozialen Selbstorganisation
bewegt werden können.

Gleicher Widerspruch wie oben: jemanden zur Selbstorganisation
bewegen. Das ist einfach unglaubwürdig. Entweder jemand bewegt sich
selbst oder lässt es bleiben. Neben den Zumutungen des Kapitalismus
willst Du den Leuten nun auch mit einem "organisiert euch mal
selbst" auf die Nerven gehen? Entweder _du_ willst was, und du tust
es und andere finden das Klasse und machen mit, weil es ihren
Interessen entspricht. Oder es geht nicht. Wie bei der Freien
Software, ganz einfach und sehr wirkungsvoll.

Ob "freie" Software oder sonstwas vergleichbares. Selbstzweck.

Was ist der "höhere" Zweck? Siehst du einen Unterschied zwischen
"sachlichem Selbstzweck" (alias Fetischismus) und "sozialem
Selbstzweck"?

Technologischer Determinismus. Ökonomismus. Reformismus. Weltfremdheit.
Schaumschlägertum. Hoffnungen in die Technik von frustrierten Linken, die
sonst nichts zusammenbringen und sich auf Theorie fernab jeder relevanten
Praxis beschränken.

Aus dir spricht deine eigene Enttäuschtheit. Ich kann mir im Moment
keine wirkungsmächtigere, keine relevantere Praxis als die Freie
Software vorstellen - bei aller Begrenztheit. Ich sehe keine. Du?

Daß es eine ökonomische Emanzipationsbewegung innerhalb des Kapitalismus
geben kann, kann ich auch behaupten, ohne all Eure Texte auswendig gelernt
zu haben.

Auswendiglernen ist nicht nötig, Zurkenntnisnehmen wäre nicht
schlecht.

Nimm Euch nicht so wichtig, tatsächlich ist all das eine heißer
Haufen Scheiße als Abfall des Berges an gesellschaftlich Relevantem.

Was ist denn für dich gesellschaftlich relevant?

Leb' weiter in Deiner pseudolinken Scheinwelt.

Warum macht dich das so an? Ich kapiere es wirklich nicht, denn ich
finde viele Sachen, die du schreibst, sehr gut. Und sie sind nahe
dran an dem hier diskutierten. Ich kann das ja nur auf den Diskurs
beziehn, denn eine Oekonux-Meinung gibt es nicht.

Es gibt nichts Richtiges im Falschen.

Und trotzdem leben wir weiter. Mit dem Widerspruch müssen wir
umgehen.

Ein sich in dieser Mailingliste nie mehr zu Wort meldender (was ich ursprgl.
auch nicht vorhatte, da mir meine Zeit für sinnlose Diskussionen zu schade
ist)

Zweimal bist du ja schon schwach geworden. Kannst du dir eine
konstruktive Basis vorstellen?

Ciao,
Stefan

-- 
  Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen
  HA II, Abteilung Datenverarbeitung
  Kanzlerstr. 8, 40472 Duesseldorf
--
  stefan.meretz hbv.org
  maintaining: http://www.hbv.org
  private stuff: http://www.meretz.de
--

_________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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