[ox] Konferenz-Beitrag: New Actonomy
- From: Stefan Merten <smerten oekonux.de>
- Date: Sun, 17 Jun 2001 12:59:59 +0200
New Actonomy
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Florian Schneider
Fangen wir so an: Dass die Welt im Umbruch ist, fiel für einige Zeit
gar nicht besonders, und wenn dann nur positiv auf - zumindest
solange, als die Überwindung des Kalten Krieges große Hoffnungen
weckte, der Boom der New Economy seine Schattenseiten verdeckte und
die postmoderne "Spaßgesellschaft" nichts als gute Laune verbreitete.
Heute mehren sich jedoch die Anzeichen, dass unter dem Deckmantel von
Digitalisierung, Informatisierung und Globalisierung eine Vielzahl
politischer, kultureller, ökonomischer und sozialer Konflikte brodelt,
deren Ausmaß und Tragweite bei weitem noch nicht abzusehen sind.
Seattle, Melbourne, Prag, Nizza, Davos - gerade kam Quebec hinzu und
bald geht es nach Genua, wo Ende Juli der Weltwirtschaftsgipfel
stattfindet, und Qatar, wo die nächste WTO Runde und ein globaler
Aktionstag ausgetragen werden. Auf den ersten Blick und fast überall,
ausser vielleicht in Deutschland, hat es den Anschein, als würde eine
neue globale Protestgeneration auf den Plan treten, die es
ausgerechnet mit der von 1968 aufzunehmen hat.
Niemand aber macht sich Illusionen:
o Die großen sozialen Bewegungen des vergangenen Jahrhunderts
wirken ausgelaugt und inhaltlich wie strukturell verbraucht.
o Einfache Rezepte haben sich hinlänglich diskreditiert,
o der Weg zurück zu vertrauten Modellen ist verbaut, die komplexen
Zusammenhänge einer immer enger vernetzten globalen Ökonomie und
immer weiter ausdifferenzierter Lebensverhältnisse wirken immun
gegen jegliche Form der Kritik.
Das Feld des Politischen ist in Tausende von Einzelbildern zerfallen,
und trotzdem bricht sich ausgerechnet in diesem Durcheinander ein
Aktivismus mit neuartigen politischen Artikulations- und
Handlungsweisen Bahn. Gemeinsam ist diesen Ansätzen
o dass sie äußerst flexibel und mit einer taktischen und
strategischen Pluralität operieren,
o dass sie sich um einen zeitgemäßen Begriff von Solidarität und
Selbstbestimmung bemühen,
o dass sie unmittelbare, lokale Auseinandersetzungen mit dem
Globalen zu koppeln oder kurzzuschließen versuchen.
Was also hat sich verändert?
1. Früher ging es darum, die Menschen irgendwo einzusperren, um sie
zu disziplinieren (Schule, Militär, Fabrik, Krankenhaus). Heute
finden Kontrollen praktisch in Echtzeit und überall statt. In
allen politischen, sozialen, kulturellen Bereichen lösen
Techniken der Vernetzung die bisherigen Techniken der
Machtausübung ab. Chipkarten, biometrische Systeme, elektronische
Halsbänder etc. regeln den Zugang zu proprietären, privilegierten
oder sonst wie abgeschotteten Bereichen. Grenzen sind in diesem
Zusammenhang einem besonderen Bedeutungswandel unterworfen: An
der Grenze geht es heutzutage um den Abgleich der Nutzerprofile,
statt Ein- oder Ausschluss: Vernetzung wider Willen
2. Es gibt kein Außen mehr und damit ist auch der archimedische
Punkt der Kritik dahin, sich genau auf der Grenze niederzulassen
und einen Blick auf die Verhältnisse zu riskieren, ohne wirklich
Teil der Auseinandersetzungen zu sein. Die "Neue Linke", wie sie
aus den studentischen Milieus der 60er und 70er Jahre entstanden
ist, hatte ihre Ideologiekritik aus dieser sicheren Position aus
betrieben. Kein Wunder, dass die Reste dieser Protestkultur sich
heutzutage vor allem dadurch hervortun: Jammern, Maulen und -
wenn es richtig radikal wird - anderen ein schlechtes Gewissen
machen.
3. Arbeit, die nicht berechenbar und messbar ist nun wirklich nichts
neues. Entscheidend ist aber ihre Bedeutung für den
Produktionsprozess. Das was Michael Hardt und Toni Negri
"Affektindustrie" nennen, umfasst die Arbeit in Krankenhäusern
und an Filmproduktionen, in Softwareklitschen und Kindergärten,
in Unterhaltungskonzernen und Altenheimen. Klassische
Reproduktionsarbeit, deren Ziel darin besteht, Gefühle
hervorzurufen, Emotionen zu erzeugen, Wohlbefinden auszulösen.
Die aktuelle Entwicklung der Affektindustrie eröffnet eine
biopolitische Dimension, in der das rätselhafteste, was es auf
der Welt gibt, Leben selbst zum Gegenstand der Produktion wird.
4. Nahezu alle Gesetzmäßigkeiten politischen Denkens und Handelns
sind heute mehr oder weniger radikal in Frage gestellt. Nötig ist
eine völlige Neubestimmung der politischen Praxis und ihre
Theoretisierung. In diesem Zusammenhang ist es ausgesprochen
spannend, nicht alle Erkenntnisse über Bord zu werfen, sondern im
Gegenteil:
o Erfahrungen aus anderen historischen Umbruchsituationen zu
untersuchen oder zu rekapitulieren.
o neue Begrifflichkeiten entwickeln und alte neu füllen
o Kämpfe miteinander kommunizieren zu lassen, und zwar gleich
ob sie alt oder neu sind, wo sie physikalisch stattfinden
und wie sie enden werden.
Widerstand kommt immer vor der Macht und "Sabotage" kommt von Sabot,
einem heimlich in die Maschine eingeschleusten Holzschuh, der die
Produktion vorübergehend blockiert. Diese Unterbrechung zielt darauf
ab, die Effizienz der Maschinen soweit zu verringern, dass der
entstehende materielle Schaden konkreten Forderungen oder einem
allgemeinen Unwillen über die Ausbeutungsverhältnisse Nachdruck
verleiht. Klassische Sabotage, wie sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts
aufkam, konnte drei Formen annehmen:
1. durch eine Verringerung der Arbeitsleistung die Quantität oder
2. durch das Einbringen spezifischer Kenntnisse die Qualität der
Produktion attackieren, aber auch
3. die Verkäuflichkeit einer Dienstleistung beeinträchtigen.
Wie der reguläre Streik zielt die Sabotage unmittelbar auf den Profit
des Unternehmens ab, um die Erfüllung bestimmter Bedingungen zu
erreichen. Vor allem dann, wenn Arbeitern das Streikrecht versagt,
entzogen oder unbrauchbar gemacht wurde, war Sabotage ein
verbreitetes, wenngleich illegales Mittel innerbetrieblicher
Auseinandersetzungen. In den aktuellen politischen Auseinandersetzung
gibt es eine Reihe von Parallelen zur Situation Ende des vorletzten,
Anfang des letzten Jahrhunderts.
o Sabotage steht im radikalen Widerspruch zu repräsentativen Formen
der Auseinandersetzungen in den institutionalisierten Kontexten
der Arbeiterbewegung
o Diese blieben immer auf den Nationalsstaat bezogen, während
spontane, un- oder besser organisierten Formen von Widerstand wie
IWW ein globales Klassenbewusstsein ausdrückten
o Sabotage stellt die in letzter Zeit vor allem in den USA so viel
zitierte "direkte Aktion" dar: Von "No Logo!" bis "Ruckus
Society", von neuen, wilden Arbeitskämpfen in der Hardware,
High-Tech- und Dienstleistungsindustrien bis zur semiotischen
Guerilla von Indymedia, RTmark oder Adbusters
Meine These lautet: Aktuelle Aktionsformen versuchen eine
Neubestimmung von Sabotage als sozialer Praxis und zwar nicht in
herkömmlichen, destruktiven Sinne, sondern als eine konstruktive
innovative und kreative Praxis.
Diese Konstruktivität ist eine organisationslose Bewegung in vielen
verschiedenen Perspektiven - selbstbestimmtes, vernetztes Denken, das
ausdrücklich verschiedene Herangehensweisen und Verknüpfungen
vorantreibt, als soziale Auseinandersetzung sich unmittelbar auf die
Produktionsebene bezieht und konstitutiv ist für einen kollektiven
Aneignungsprozess von Wissen und Macht.
Ich sehe im Moment drei Ebenen des vernetzten Aktivismus:
1. Vernetzung innerhalb einer Bewegung
o die Übersetzung vom analogen ins digitale Medium: also
Mailinglisten und die Kommunikation darauf, davor und
dahinter. Webseiten, die als nützliche Handreichung oder
Archiv für die Aktivisten selbst konzipiert sind.
o Diese primäre Form der Vernetzung führt zur Bildung von
virtuellen Gemeinschaften, die sich von den
Offline-Communities gar nicht mal so sehr unterscheiden
ausser in dem Punkt, dass die Menschen nicht mehr
notwendigerweise physikalisch treffen müssen, aber sehr oft
hinterher dann genau das umso öfter, umso lieber, umso
bewusster tun.
o Es führt aber auch dazu, Schritt für Schritt den praktischen
Nutzen der neuen Technologien zu erforschen und zu erweitern
2. Schnittstellen zwischen Bewegungen
Hier geht es darum Menschen aus unterschiedlichen Zusammenhängen
zu vernetzen. Es geht um inspirierende und motivierende
Umgebungen, in denen neue Formen von Aktivität erforscht und
entwickelt werden können. Kampagnen, Meta-Datenbanken, verteilte
Aktivitäten, die an den Schnittstellen angesiedelt sind zwischen
Online- und Offline-Welt. Insofern es um Interfaces geht, werden
auf dieser Ebene werden erstmals Fragen der Subjektivität und
Interaktivität aufgeworfen: Support
3. Virtuelle Speicher für unberechenbare und unkalkulierbare
Bewegungen Auf der dritten Ebene des Netzaktivismus geht es
darum, das Netz im Gegenzug als Plattform für rein virtuelle
Auseiandersetzungen zu nutzen, die sich nicht länger auf eine
romantische Offline-Wirklichkeit beziehen:
o E-Protest wie Online-Demonstrationen
o Elektronischer ziviler Ungehorsam
o immaterielle oder digitale Sabotage als Resultat kommender
sozialer Auseinandersetzungen. Ein Oxymoron, das aber ein
enormes Potential birgt.
Ten rules for the new actonomy
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Wenn heute irgendetwas wirklich tot ist, dann ist das politischer
Reformismus. Einfach weil es zu spät ist. Die zuletzt liberal-grüne
Idee eines Kapitalismus, der von innen heraus verändert werden kann,
hat sich erledigt. Globale System befinden sich in einem Zustand
permanenter Revolution. Niemand kann da mehr mithalten, weder Konzerne
und erst recht nicht Institutionen. Diese Tatsache hat die
Baby-Boomer-Generation zu solchen Kontroll-Freaks mutieren lassen.
Doch es gibt keine Zeit für dezentes Planen, Politik hat sich
reduziert auf panische Reaktionen.
1. Ein Ziel setzen, das innerhalb von drei Jahren erreicht und
innerhalb von 30 Sekunden formuliert werden kann
Aktivistinnen und Aktivisten konzentrieren sich auf das
schwächste Glied in der Kette, das schließlich die gesamte Stärke
eines Systems ausmacht. Die New Actonomy besteht aus Tausenden
von kleinen und kleinsten Aktivitäten, die alle für sich selbst
genommen äußerst bedeutsam sind, die selbst organisiert sind und
selbstverständlich nachhaltig. Hierfür brauchen wir keinen
Generalplan, und erst recht keine Partei oder Organisation. Es
reicht völlig, die neuen Dynamiken zu verstehen und auszunutzen.
2. Ebenso präzise wie bescheidene Forderungen aufstellen, die dem
Gegner einen Schritt zurück gestatten, ohne das Gesicht zu
verlieren
Die sozialen Bewegungen des letzten Jahrhunderts haben es mit dem
Nationalstaat aufgenommen und dessen Macht streitig gemacht. In
der New Actonomy kämpfen die Aktivisten vornehmlich gegen
Konzerne und gegen eine neue Form globaler Souveränität und
wohlgemerkt: nicht gegen Globalisierung. Ziel ist nicht mehr, die
Macht zu erlangen, sondern die Art und Weise zu bestimmen, wie
sich Dinge verändern und warum. Nennen wir es semiotische
Guerilla: Im Prinzip sogar nur noch darum, Macht so lächerlich
erschienen zu lassen, dass sie problemlos in den Händen derer
verbleiben kann, die sie besitzen.
3. So viele Intentionen, Motivationen und Begründungszusammenhänge
wie möglich erfinden und verbinden
Aktivisten wählen heutzutage vielschichtige, vielfältige und
vielstimmige Ausdrucksweisen, die weit über das eigentliche Ziel
der jeweiligen Kampagne oder einer konkreten Auseinandersetzung
hinausschiessen. Dies birgt Einsichten und Bereicherungen, die
weit über das hinausreichen, was gerade im Moment zugänglich
scheint.
4. Die Botschaft mit allen zur Verfügung stehenden Logiken,
Werkzeugen und Medien kreieren und verbreiten
Die New Actonomy besteht vor allen Dingen aus einer rigorosen
Vernetzung aller bestehender Aktivitäten. Deren Verschiedenheit
wiederum fordert dazu heraus, nicht-hierarchische, dezentrierte
und deterritorialisierte Anwendungen zu erfinden und miteinander
zu verknüpfen. Eine Idee kann als Content-Virus über Nacht
Millionen erreichen, wenn sie gut genug durchdacht und designt
ist, um auf einer Reise durch Zeit und Raum in einer Vielzahl
kultureller Kontexte zu verfangen.
5. Effizienzdenken - den Stab und die Infrastruktur auf Seiten des
Gegners nutzen
Aktiv sein in der New Actonomy heißt: Kosten sparen und direkt
auf den Punkt kommen. Eine Kampagne muss höchsteffizient sein und
nicht nur auf der eigenen Stärke beruhen, sondern auch die Kräfte
aller Verbündeter und Gegner einbeziehen. Outsourcing ist eine
Waffe. Es heißt einfach nur, jemand anderen die Probleme zu
überantworten, die ich selbst nicht am besten lösen kann.
6. In einem klar umrissenen Raum mit einer eindeutig bestimmten
Kraft agieren
Dramaturgie ist eine Selbstverständlichkeit. Eine Kampagne
besteht aus klar umrissenen Episoden mit einem Anfang und einem
Ende, einer sanften oder harschen Eskalation und einem finalen
Showdown. Wichtig ist, die Gesetzmäßigkeiten des Auftauchens,
Verschwindens und Wiederkehrens zu akzeptieren. Eine Kampagne
findet an einer Vielzahl von Orten statt und verweist von daher
in durchaus positiver Manier auf Globalität und Globalisierung.
Aber eine Globalisierung, die nicht leer ist, kein grenzenlos
erweiterter Markt, sondern voller Energie von Menschen.
7. Sich nicht erpressen lassen. Wenn der Gegner in die Offensive zu
gehen versucht, einen Schritt zur Seite oder nach vorne machen
Machen wir uns nichts vor: Niemand braucht Cyberhelden. Die
Antwort eines Konzerns mag härter sein, als ursprünglich
erwartet. Es könnte also mitunter besser sein, einer direkten
Konfrontation aus dem Weg zu gehen. Was aber unter allen
Umständen zu vermeiden ist: sich auf die Medien oder andere
Vermittler zu verlassen. Dann lieber eine Stufe kleiner! Besser
sich selbst minorisieren, als dass es der Gegner tut.
8. Von den Vorzügen der Virtualität
Es geht weder darum, sich selbst zu überzeugen noch den Gegner.
Warum es geht, ist diejenigen zu gewinnen, die an der
Auseinandersetzung noch nicht teilnehmen. Die Herausforderung
besteht darin, Ressourcen zu benutzen, die einem vielleicht nicht
selbst gehören, sondern vielleicht einfach nur praktisch oder
virtuell verfügbar sind. In diesem Sinne mag die Revolution
nichts anderes sein als ein Redundant Array of Independent
Devices - Kampagnen und nie endender Aktivitäten
9. Subjekt-orientierte Kampagnen
Viele Menschen reden heutzutage in Zusammenhang mit den
Aktivitäten der sogenannten Globalisierungsgegner von einem
globalen Aufstand, der gerade erst begonnen hat und sicherlich
nicht darauf beschränkt belieben wird, den drei Abkürzungen WTO,
IWF und Weltbank hinterherzulaufen und Straßenschlachten vor
Kongresshallen anzuzetteln. Die brennende Frage der Bewegung aber
lautet: Welche neuen Formen von Subjektivität werden aus den
gegenwärtigen Kämpfen entstehen? Wenn schon alle wissen, was zu
tun ist, wer weiß schon noch, wofür eigentlich gekämpft wird und
warum? Aber vielleicht spielt das gar keine Rolle mehr:
Vernetzter Aktivismus ist von betörender Fragilität. Es bedeutet:
alle Ziele andauernd zu revidieren und neu zu definieren.
10. The revolution will be open source or not
Selbstbestimmung ist etwas, was geteilt werden kann. Sobald man
auf einem bestimmten Gebiet eine gewisse Stärke verspürt, kann
man diese produktiv machen als ein positives, kreatives und
innovatives Vermögen. Diese Macht birgt schier unglaubliche
Möglichkeiten und produziert wieder und wieder unerwartete und
unkalkulierbare Effekte.
Diskussion auf der Oekonux-Liste
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