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19.06.2001

Vernetzte Rätemacht?
Eine Tagung der Marx-Engels-Stiftung in Wuppertal
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Ist Kommunismus gleich Sowjetmacht plus Internet? Rund 20
Interessierte hatten sich zusammengefunden, um am Sonnabend in der
Marx-Engels-Stiftung Wuppertal über die Ausführungen von vier
Referenten zum Thema »Neue Technik - neue Gesellschaft?« zu
diskutieren. Die Standpunkte waren relativ rasch umgrenzt, die Debatte
entsprechend intensiv. Für die einen ergibt sich aus den neusten
Entwicklungen der technischen Produktivkräfte die Notwendigkeit des
Übergangs zu einer neuen Gesellschaftsformation. Die Opponenten
leugneten zwar nicht die gewaltigen Veränderungen insbesondere bei
Informations- und Kommunikationstechniken, die auf eine Veränderung
der Produktionsverhältnisse drängen, äußerten aber Skepsis in bezug
auf die unmittelbar revolutionäre Wirkung dieser Vorgänge.

Zum Auftakt untersuchte Helmut Dunkhase (Berlin) den Platz des
Computers im Produktivkraftsystem und wandte sich dann den Problemen
zu, »die der Kapitalismus mit dem Computer hat« sowie jenen, »die der
Sozialismus ohne Computer hatte und die jetzt gelöst werden können«.
Als spezifische Charakteristika für den Computer nannte Dunkhase:
Automatisierung geistiger Funktionen, Universalität der
Einsatzmöglichkeiten, Integration von Arbeitsteilung,
Koordinationsleistungen unabhängig von Entfernungen, die Möglichkeit,
eine »fraktale« Fabrik einzurichten, d. h. die Güter dezentral zu
produzieren. Die Dezentralisierung, so Dunkhase, sei auch das Problem
des Imperialismus mit dieser neuen Technik. Auf der anderen Seite habe
der Sozialismus etwa in der DDR unter Ulbricht in Planung und
Kybernetik ein unerreichtes Niveau gehabt, ohne die adäquaten
technischen Mittel zur Verfügung gehabt zu haben. Dunkhase zitierte
einen US-Experten, der äußerte: »Das Neue Ökonomische System mit
rechentechnischer Basis, Marxismus plus Mathematik sind der Untergang
der USA.« Dunkhase vertrat die Auffassung, daß zentralistische
Planungssysteme überholt sind und eine neue Selbstorganisation in den
Mittelpunkt rücke: Der Computer sei unumgänglich für die Befreiung von
der Warenform, er sorge zugleich für die ständige Präsenz des »general
intellect« in Gestalt von »vernetzten Räten«. Wolf Göhring (Bonn) und
Stefan Meretz (Dortmund) unterstützten mit ihren Beiträgen im
wesentlichen diesen Ansatz. Göhring, der seit mehr als 40 Jahren in
einem führenden Forschungsinstitut für Datenverarbeitung tätig ist,
stellte sein Konzept einer »produktiven Informationsgesellschaft« vor.
Meretz vertrat die These, daß mit der derzeitigen Entwicklung der
Mensch zum erstenmal »Hauptproduktivkraft« sein könne. Nach seiner
Auffassung hat die klassische Arbeiterbewegung durch Reduktion der
Vergesellschaftung auf die Eigentumsfrage die Probleme der neuen
Gesellschaft vereinseitigt. An Stelle »abstrakt entfremdeter
Herrschaftsformen« wie im Kapitalismus sei durch Computer und Internet
eine »herrschaftsfreie personal-konkrete Vermittlung«
gesellschaftlicher Regulierung möglich geworden. Als eine Keimform
dessen sei die »Free-Software-Bewegung« zu begreifen, die mit der
kostenlosen Verbreitung von Software die Verknappung eines Gutes
beende, keine zentrale Steuerung habe, aber global und stabil wirksam
sei.

Skepsis gegen vorschnelle Ableitungen aus der
Produktivkraftentwicklung äußerte Werner Seppmann in seinem Referat.
Er hob vor allem hervor, daß die Widersprüche des Kapitalismus auf
einer neuen Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung erfahren werden.
Die fraktale Fabrik sei kein Vorschein des Sozialismus, sondern
Ausdruck kapitalistischen Konkurrenzverhaltens. Hinter der Fassade
erhöhter Selbständigkeit regiere auch eine völlig neue Qualität der
Kontrolle. In Anlehnung an den Satz von Marx, jeder Baumeister
übertreffe jede Biene, da er Baupläne im Kopf entwerfe, konstatierte
Seppmann: »Der Computer hat keine antizipatorischen Fähigkeiten«. Wer
aus der Computerisierung unmittelbar Emanzipation erwarte, sei auf dem
Holzweg.

So klar die gegensätzlichen Auffassungen damit am Ende dieses Tages
erkennbar wurden, so sehr drängen sie auf eine neuerliche Diskussion
des Themas.

Arnold Schölzel

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