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[ox] Herbert Marcuse



Einige Zitate aus Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung, 
Erstveröffentlichung 1969 (An Essay on Liberation auf Englisch):

"Denn Freiheit hängt in der Tat  größtenteils vom technischen Fortschritt, 
von der Fortentwicklung der Wissenschaft ab. Dieser Sachverhalt verdunkelt 
jedoch leicht die wesentliche Vorbedingung: um zu Vehikeln des Friedens zu 
werden, müßten Wissenschaft und Technologie ihre gegenwärtige Richtung und 
ihre gegenwärtigen Ziele ändern; sie müßten im Einklang mit einer neuen 
Sensibilität rekonstuiert werden. Dann ließe sich von einer Technologie der 
Befreiung sprechen, dem Produkt einer wissenschaftlichen Imagination, die 
frei ist, die Formen eines menschlichen Universums ohne Ausbeutung und Mühsal 
zu entwerfen und zu planen. Diese gaya scienza ist aber nur nach dem 
historischen Bruch mit dem Kontinuum der Herrschaft denbar - als Ausdruck der 
Bedürfnisse eines neuen Menschentyps." (S. 37 f.)

"Die neue Sensibilität, die den Sieg der Lebenstriebe über Aggressivität und 
Schuld ausdrückt, würde im gesellschaftlichen Maßstab das vitale Bedürfnis 
nach Abschaffung von Ungerechtigkeit und Not fördern und die weitere 
Entwicklung des "Lebensstandards" gestalten. Die Lebenstriebe fänden 
rationalen Ausdruck (Sublimation) im Planen der gesellschaftlich notwendigen 
Arbeitszeit in und zwischen den verschiedenen Produktionszweigen und setzen 
so die Prioritäten der Ziele und Auswahlmöglichkeiten: nicht nur dessen, was 
zu produzieren ist, sondern auch die "Form" des Produkts. Das befreite 
Bewußtsein  beförderte die Entfaltung einer Wissenschaft und Technik, die 
frei sind, die Möglichkeiten der Dinge und Menschen zum Schutz und Genuß des 
Lebens im Spiel mit den Möglichkeiten von Form und Materie zur Erreichung 
dieses Ziels zu entdecken und zu verwirklichen. Die Technik tendierte dazu, 
Kunst zu werden, und diese, die Wirklichkeit zu formen: der Gegensatz 
zwischen Einbildungskraft und Vernunft, höheren und niederen Vermögen, 
poetischem und wissenschaftlichem Denken würde ungültig. Ein neues 
Realitätsprinzip erschiene, unter dem eine neue Sensibilität und eine 
entsublimierte wissenschaftliche Intelligenz sich zu einem ästhetischen Ethos 
vereinigten." (S. 43 f.)

"Der Begriff "ästhetisch" kann in seinen beiden Bedeutungen von "die Sinne 
betreffend" und "die Kunst betreffend" dazu dienen, die Qualität eines 
schöpferischen Prozesses in einer Welt der Freiheit zu kennzeichnen. Die 
Merkmale der Kunst annehmend, würde Technik subjektive Sensibilität in 
objektive Form, in Realität übersetzen." (S. 44)

"Kraft dieser Qualitäten kann die ästhetische Dimension als eine Art Eichmaß 
für eine freie Gesellschaft dienen. Eine Welt menschlicher Verhältnisse, die 
nicht mehr durch den Markt vermittelt sind, nicht mehr auf wettbewerblicher 
Ausbeutung oder Terror beruhen, erheischt eine Sensitivität, die von den 
repressiven Befriedigungen der unfreien Gesellschaften befreit ist; eine 
Sensitivität, die für jene Formen und Eigenschaften der Wirklichkeit 
empfänglich ist, die bislang nur mittels ästhetischer Fantasie entworfen 
wurden. Denn die ästhetischen Bedürfnisse haben ihren eigenen sozialen 
Gehalt; sie sind Ansprüche des menschlichen Organismus, Geistes und Körpers 
auf eine Erfüllung, die nur im Kampf gegen die Institutionen erzielt werden 
kann, die durch ihr Funktionieren diese Ansprüche verneinen und verletzen." 
(S. 48)

"Das ästhetische Universum ist die Lebenswelt, von der die Bedürfnisse und 
Fähigkeiten zur Freiheit abhängen; es bedarf ihrer, damit es zu ihrer 
Befreiung kommt. Sie können sich in keiner Umgebung entwickeln, die durch und 
für aggressive Impulse geprägt ist, noch können sie als bloßer Effekt einer 
neuen Ordnung gesellschaftlicher Institutionen vorgestellt werden. Sie können 
lediglich aus der kollektiven PRAXIS DER PRODUKTION VON UMWELT hervorgehen; 
aus der materiellen und geistigen Produktion einer Umgebung, in der die 
nicht-aggressiven, erotischen und rezeptiven Anlagen des Menschen im Einklang 
mit dem Bewußtsein der Freiheit die Befriedung von Mensch und Natur 
anstreben. Beim Neubau der Gesellschaft, der dieses Ziel erreichen soll, 
nähme die Wirklichkeit insgesamt eine FORM an, die das neue Ziel ausdrückt. 
Die wesentlich ästhetische Qualität  dieser Form würde aus ihr ein KUNSTWERK 
machen; insoweit aber die Form aus dem gesellschaftlichen Produktionsprozeß 
hervorginge, hätte Kunst ihren traditionellen Ort und ihre Funktion in der 
Gesellschaft geändert; sie wäre zur Produktivkraft der materiellen wie der 
kulturellen Umgestaltung geworden... Dies würde die Aufhebung von Kunst 
bedeuten: das Ende der Trennung des Ästhetischen vom Wirklichen, aber ebenso 
das Ende der kommerziellen Vereinigung von Geschäft und Schönheit, Ausbeutung 
und Freude. Die Kunst gewönne einige ihrer ursprünglicheren "technischen" 
Nebenbedeutungen zurück: als Kunst der Zubereitung (Kochkunst!), der 
Kultivierung der Dinge, die ihnen eine Form verleiht, die weder ihre Materie 
noch die Sinnlichkeit verletzt - der Sieg der Form als eine der 
Notwendigkeiten des Seins, das Allgemeine jenseits aller subjektiven 
Spielarten von Geschmack, Affinität und so fort." (S. 53 f., S. 54 f.)

Kurt-Werner Pörtner
 
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Organisation: projekt oekonux.de


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