[ox] Herbert Marcuse
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- Date: Thu, 19 Jul 2001 17:29:16 EDT
Einige Zitate aus Herbert Marcuse, Versuch über die Befreiung,
Erstveröffentlichung 1969 (An Essay on Liberation auf Englisch):
"Denn Freiheit hängt in der Tat größtenteils vom technischen Fortschritt,
von der Fortentwicklung der Wissenschaft ab. Dieser Sachverhalt verdunkelt
jedoch leicht die wesentliche Vorbedingung: um zu Vehikeln des Friedens zu
werden, müßten Wissenschaft und Technologie ihre gegenwärtige Richtung und
ihre gegenwärtigen Ziele ändern; sie müßten im Einklang mit einer neuen
Sensibilität rekonstuiert werden. Dann ließe sich von einer Technologie der
Befreiung sprechen, dem Produkt einer wissenschaftlichen Imagination, die
frei ist, die Formen eines menschlichen Universums ohne Ausbeutung und Mühsal
zu entwerfen und zu planen. Diese gaya scienza ist aber nur nach dem
historischen Bruch mit dem Kontinuum der Herrschaft denbar - als Ausdruck der
Bedürfnisse eines neuen Menschentyps." (S. 37 f.)
"Die neue Sensibilität, die den Sieg der Lebenstriebe über Aggressivität und
Schuld ausdrückt, würde im gesellschaftlichen Maßstab das vitale Bedürfnis
nach Abschaffung von Ungerechtigkeit und Not fördern und die weitere
Entwicklung des "Lebensstandards" gestalten. Die Lebenstriebe fänden
rationalen Ausdruck (Sublimation) im Planen der gesellschaftlich notwendigen
Arbeitszeit in und zwischen den verschiedenen Produktionszweigen und setzen
so die Prioritäten der Ziele und Auswahlmöglichkeiten: nicht nur dessen, was
zu produzieren ist, sondern auch die "Form" des Produkts. Das befreite
Bewußtsein beförderte die Entfaltung einer Wissenschaft und Technik, die
frei sind, die Möglichkeiten der Dinge und Menschen zum Schutz und Genuß des
Lebens im Spiel mit den Möglichkeiten von Form und Materie zur Erreichung
dieses Ziels zu entdecken und zu verwirklichen. Die Technik tendierte dazu,
Kunst zu werden, und diese, die Wirklichkeit zu formen: der Gegensatz
zwischen Einbildungskraft und Vernunft, höheren und niederen Vermögen,
poetischem und wissenschaftlichem Denken würde ungültig. Ein neues
Realitätsprinzip erschiene, unter dem eine neue Sensibilität und eine
entsublimierte wissenschaftliche Intelligenz sich zu einem ästhetischen Ethos
vereinigten." (S. 43 f.)
"Der Begriff "ästhetisch" kann in seinen beiden Bedeutungen von "die Sinne
betreffend" und "die Kunst betreffend" dazu dienen, die Qualität eines
schöpferischen Prozesses in einer Welt der Freiheit zu kennzeichnen. Die
Merkmale der Kunst annehmend, würde Technik subjektive Sensibilität in
objektive Form, in Realität übersetzen." (S. 44)
"Kraft dieser Qualitäten kann die ästhetische Dimension als eine Art Eichmaß
für eine freie Gesellschaft dienen. Eine Welt menschlicher Verhältnisse, die
nicht mehr durch den Markt vermittelt sind, nicht mehr auf wettbewerblicher
Ausbeutung oder Terror beruhen, erheischt eine Sensitivität, die von den
repressiven Befriedigungen der unfreien Gesellschaften befreit ist; eine
Sensitivität, die für jene Formen und Eigenschaften der Wirklichkeit
empfänglich ist, die bislang nur mittels ästhetischer Fantasie entworfen
wurden. Denn die ästhetischen Bedürfnisse haben ihren eigenen sozialen
Gehalt; sie sind Ansprüche des menschlichen Organismus, Geistes und Körpers
auf eine Erfüllung, die nur im Kampf gegen die Institutionen erzielt werden
kann, die durch ihr Funktionieren diese Ansprüche verneinen und verletzen."
(S. 48)
"Das ästhetische Universum ist die Lebenswelt, von der die Bedürfnisse und
Fähigkeiten zur Freiheit abhängen; es bedarf ihrer, damit es zu ihrer
Befreiung kommt. Sie können sich in keiner Umgebung entwickeln, die durch und
für aggressive Impulse geprägt ist, noch können sie als bloßer Effekt einer
neuen Ordnung gesellschaftlicher Institutionen vorgestellt werden. Sie können
lediglich aus der kollektiven PRAXIS DER PRODUKTION VON UMWELT hervorgehen;
aus der materiellen und geistigen Produktion einer Umgebung, in der die
nicht-aggressiven, erotischen und rezeptiven Anlagen des Menschen im Einklang
mit dem Bewußtsein der Freiheit die Befriedung von Mensch und Natur
anstreben. Beim Neubau der Gesellschaft, der dieses Ziel erreichen soll,
nähme die Wirklichkeit insgesamt eine FORM an, die das neue Ziel ausdrückt.
Die wesentlich ästhetische Qualität dieser Form würde aus ihr ein KUNSTWERK
machen; insoweit aber die Form aus dem gesellschaftlichen Produktionsprozeß
hervorginge, hätte Kunst ihren traditionellen Ort und ihre Funktion in der
Gesellschaft geändert; sie wäre zur Produktivkraft der materiellen wie der
kulturellen Umgestaltung geworden... Dies würde die Aufhebung von Kunst
bedeuten: das Ende der Trennung des Ästhetischen vom Wirklichen, aber ebenso
das Ende der kommerziellen Vereinigung von Geschäft und Schönheit, Ausbeutung
und Freude. Die Kunst gewönne einige ihrer ursprünglicheren "technischen"
Nebenbedeutungen zurück: als Kunst der Zubereitung (Kochkunst!), der
Kultivierung der Dinge, die ihnen eine Form verleiht, die weder ihre Materie
noch die Sinnlichkeit verletzt - der Sieg der Form als eine der
Notwendigkeiten des Seins, das Allgemeine jenseits aller subjektiven
Spielarten von Geschmack, Affinität und so fort." (S. 53 f., S. 54 f.)
Kurt-Werner Pörtner
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