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[ox] Entwicklungsbegriff (was: Re: Zur Keimform-Diskussion)



Hi Anti-/KeimformistInnen,

Stefan Merten schrieb:
Stefan Mz. beschreibt "Keimform" immer als eine Denkweise, die ein wenig von
hinten durch die Brust ins Auge daherkommt.

Dazu sollte StefanMz besser selbst was schreiben. Steeeeefaaaaan!

dem lauten Ruf will ich mich nicht verschliessen;-)

Sorry, wenn ich jetzt nicht auf die Details eurer Debatte eingehe,
sondern es noch mal - ansetzend an Sabines/Michaels Beitrag - neu
sortiere. Und dabei grundsätzlicher und theoretischer werde.

Ich finde es wichtig, zwei Fragen auseinanderzuhalten:

(1) Ist das Denken von "Keimformen" ein adäquates Mittel der Erkenntnis?

(2) Kann Freie Software (-Bewegung) als Keimform bezeichnet werden?

Sabine/Michael im Konferenzbeitrag:

Wenn wir diese Debatten richtig verstanden haben, ist dabei mit
`Keimform' ein neues Prinzip gemeint, das zum einen mit dem bestehenden
System prinzipiell unverträglich ist und das zum anderen zum
Ausgangspunkt einer Unterminierung und schließlich einer Überwindung des
alten Systems werden kann.
<<

Sabine schrieb dann wertend:
"Keimform" beinhaltet
so viele vorweggenommene Annahmen - speziell auf die Zukunft
bezogen - das ist eine Denkweise, die ich nicht teile, egal, worauf
das nun bezogen ist. Was werden wird, kann niemand mit
Gewissheit sagen, im Umkehrschluss kann man auch keine
Keimform behaupten, weil die schon beinhaltet, was werden wird.

Sabine, du würdest also Frage (1) negieren.

Da (1) vorgängig ist und ich das anders sehe, konzentriere ich mich
darauf.

Die Frage, ob das Denken von "Keimformen" ein Mittel der Erkenntnis sein
kann, setzt voraus, dass es Keimformen gibt und man deswegen einen
Begriff davon haben kann.

Die Frage, ob es Keimformen gibt (und man deswegen einen Begriff davon
haben kann), setzt wiederum eine bestimmte Vorstellung von
Entwicklungsprozessen voraus, Oder kürzer: einen Entwicklungsbegriff. Es
gibt Entwicklungsbegriffe, die "enthalten" den Keimformbegriff, andere
nicht.

Sabine, kannst du deinen Entwicklungsbegriff "ohne Keimform drin"
darstellen? (oder auch wer anderes, der/die einen solchen Begriff teilt)

Von dort aus, von dem Standort eines Entwicklungsbegriffes "ohne
Keimform", kritisierst du ja die "Keimform"-Begriffe, genauer: die
Entwicklungsbegriffe "mit Keimform".

Ich will meinen Entwicklungsbegriff nochmal darstellen. Er stammt aus
der Kritischen Psychologie, genauer dem Werk "Grundlegung der
Psychologie" von Klaus Holzkamp. Es geht dort um die Entstehung des
Psychischen, doch der dort entfaltete Entwicklungsbegriff ist
verallgemeinerbar (auch das ist btw. kritisierbar). Das habe ich getan.

Das sind dann die Einigen schon bekannten fünf Stufen (wer's kennt, kann
jetzt runterscrollen, es ist aus meinem Konferenzbeitrag siehe
http://www.oekonux-konferenz.de/ bzw. einem Aufsatz für die Zeitschrift
"Streifzüge" siehe
http://www.opentheory.org/keimformdiskurs/v0001.phtml):


Exkurs Keimformen (aus Meretz 2001): Keimformen eines Neuen entwickeln
sich immer schon im Alten. Sie werden stärker, werden zu einer nicht
mehr zu übersehenden Funktion im alten System, übernehmen dann die
bestimmende Rolle und transformieren schließlich das alte Gesamtsystem
in ein Neues, in dem sich alles nun nach der neuen dominanten Funktion
ausrichtet. Dieser beschriebene Prozeßablauf ist typisch für
dialektische Entwicklungsprozesse. In allgemeiner Form kann man fünf
Stufen für qualitative Entwicklungssprünge so beschreiben (Holzkamp
1983):
Stufe 1: Entstehen der neuen Keimformen, die sich später entfalten
Stufe 2: Veränderung der Rahmenbedingungen des alten dominanten
Gesamtprozesses ("Krisen")
Stufe 3: Funktionswechsel vorher unbedeutender Keimformen zur wichtigen
Entwicklungsdimension neben der noch den Gesamtprozeß bestimmenden
Funktion (erster Qualitätssprung)
Stufe 4: Dominanzwechsel der neuen Entwicklungsdimension zur den
Gesamtprozess bestimmenden Funktion (zweiter Qualitätssprung)
Stufe 5: Umstrukturierung des Gesamtprozesses auf die Erfordernisse der
neuen bestimmenden Entwicklungsdimension

Damit ist klar, was eine Keimform nicht ist: Sie ist nicht schon das
Neue selbst, nur sozusagen im Kleinformat. Sie ist auch nicht eine Art
kondensiertes Neues, das alle Potenzen schon enthält und nur noch
wachsen muss (weswegen die bloße Rede vom "Keim" irreführend ist).
Keimformen sind frühe Erscheinungen eines sich im Alten herausbildenden
prinzipiell mit dem bestehenden System unverträglichen neuen Prinzips,
das als solches notwendig nur in Sonderräumen existieren kann (Stufe 1).
Nur unter den Bedingungen einer sich ändernden systemischen Umgebung,
einer Krise des alten dominanten Prinzips der Systemerhaltung (Stufe 2),
können sie eine neue Funktionalität erlangen und aus den Nischen
heraustreten (Stufe 3). Altes und neues Prinzip gehen hier in einen
offenen Schlagabtausch über. Ob das Neue sich durchsetzt, ist ungewiss.
Nur wenn sich das neue Prinzip als real überlegen ausbilden kann, kann
es das alte Prinzip als Kern der Systemerhaltung ablösen. Ist dieser
Schritt vollzogen und gibt es systemisch keine Möglichkeit der
Rückentwicklung mehr, dann ist der Dominanzwechsel vollzogen (Schritt
4). Im Zug der Durchsetzung erfolgt im zunehmenden Maße ein Umbau der
Systemstruktur auf die Logik des neuen Entwicklungsprinzip hin.
Durchsetzung und Systemumbau etablieren sich als wechselseitige, sich
gegenseitig stabilisierende Prozesse (Stufe 5) - bis zu neuen Keimformen
und Systemkrisen auf dem erreichten neuen Entwicklungsniveau.

Dialektische Entwicklungsprozesse lassen sich vollständig stets nur
rückwirkend verstehen und als Fünfschritt rekonstruieren (etwa die
Durchsetzung des Kapitalismus). Prospektiv sind mit dem Fünfschritt aber
den Blick schärfende Verallgemeinerungen gegeben, um
Entwicklungstendenzen frühzeitig als richtungsbestimmend zu
registrieren. Auch damit kann man falsch liegen, denn Keimformen können
auch zunichte gemacht werden - erst in Praxis erweist sich eine Theorie
als haltbar oder nicht. Genau das gilt es permanent zu prüfen.
<<

Es ist also nicht so, dass, wie ihr, Sabine und Michael, annehmt, mit
"'Keimform' ein neues Prinzip gemeint (ist), das ... mit dem bestehenden
System prinzipiell unverträglich ist", sondern erst die entfaltete Form,
die das alte System ablöst, ist mit der alten Form unverträglich. Wären
Keimformen mit dem bestehenden System prinzipiell unverträglich, könnten
sie gar entstehen. Das ist ein wichtiger Unterschied. Der Keimform
selbst die prinzielle Unverträglichkeit zuzuschreiben, ist ein
Miss-Verständnis, Sabine, das ihr aber ja auch in Rechnung gestellt
habt. Nun - hier also meine Bemerkung zum Verständnis.

Der zweite Teilsatz bei Sabine/Michael erklärt die Keimform zum
"Ausgangspunkt einer Unterminierung und schließlich einer Überwindung
des alten Systems". Das ist irgendwie nicht falsch, aber verdeckt
völlig, worauf es mir ankommt: Die 'Keimform' ist da nicht einfach drin
im Alten und unterminiert fleissig, wird größer und überwindet
schliesslich das Alte. Das wäre eine bloße quantitative
Wachstums-Vorstellung.

Die Keimform jedoch "ist nicht schon das Neue selbst, nur sozusagen im
Kleinformat. Sie ist auch nicht eine Art kondensiertes Neues, das alle
Potenzen schon enthält und nur noch wachsen muss", sondern die Keimform
ändert sich qualitativ im Zuge ihrer Durchsetzung - und zwar über zwei
qualitative Sprünge - und transformiert sich dabei selbst in neue
Entwicklungsformen. Ist das, was mal Keimform war, einmal bestimmendes
neues Entwicklungsprinzip des neuen Systems, dann ist nichts mehr wie es
war. Wenn mal so will, "hebt sich die Keimform selbst auf, wenn sie ihre
Funktion erfüllt hat".

Deswegen trifft es nicht zu, Sabine, wenn du schreibst, "im
Umkehrschluss kann man auch keine Keimform behaupten, weil die schon
beinhaltet, was werden wird." Nein, enthält sie nicht. Jede Entwicklung
in Widersprüchen ist genuin offen. Entwicklung ist auch nur
widersprüchlich denkbar, "Entwicklung in Widersprüchen" ist also
eigentlich ein Pleonasmus ("weisser Schimmel"). Nix ist vorherbestimmt.

Habe ich also einen "quantitativen" Entwicklungsbegriff, so gucke ich
mir die behauptete Keimform unter dem Aspekt an: Ist da schon die
prinzipielle Unverträglichkeit drin? Ich entdecke: Nein, das und das ist
durchaus verträglich, also ist es keine Keimform. Und mehr noch: Das
Denken in Keimformen macht keinen Sinn. - Ja, völlig richtig, mit so
einem Entwicklungsbegriff macht das Denken von Keimformen keinen Sinn:
Es kann sie schon logisch gar nicht geben.

Habe ich einen "qualitativen" (genauer: dialektischen)
Entwicklungsbegriff, so gucke ich auf die Widersprüche, die die
Entwicklung bestimmen. Ich stelle dann auch Widersprüchliches fest:
Einerseits wertfreier Charakter der Freien Software, andererseits die
Versuche, sie trotz Wertfreiheit in die Verwertung in integrieren.
Einerseits zentrale Elemente von Selbstentfaltung, andererseits
Illusionen von Selbstunternehmertum reinsten Wassers. Und so weiter. Ich
begreife Entwicklung als eine Bewegung in Widersprüchen. Ich muss nun
diskutieren: Bezüglich welchen übergreifenden Kriteriums ist denn das,
was ich da beobachte, Keimform? Konkret: Bezüglich welcher anderen
Vergesellschaftungsform ist etwa Freie Software Keimform? Aber auch
umgekehrt: Wie schärft sich meine Vorstellung einer anderen
Vergesellschaftungsform, wenn ich mir die Freie Software als vermutete
Keimform angucke? Das ist also ein wechselseitiger Prozess. Oder wie ich
sage würde: Realenwicklung und begriffliche Widerspiegelung sind
isomorph (strukturgleich) und kohärent
(zusammenhängend/übereinstimmend): die Begriffe spiegeln die
widersprüchliche Realentwicklung wider.

Darin steckt ein spekulatives Moment. Realentwicklung und
Begriffsentwicklung können auseinanderlaufen und inkohärent werden. Das
ist aber in jeder Wissenschaft so. Ich gucke auf Realität immer mit dem
mir je zur Verfügung stehenden Instrumentarium. Nur wenn die Inkohärenz
auftritt, kann ich sie bemerken. Wenn ich es erst gar nicht nutze, dann
wird es nie zu dem Widerspruch kommen, den ich aber brauche, um
weiterzukommen. Ich kann mich aber bequem in eine Rechthaberecke
zurückziehen - wenn ich mich weigere, durchs Mikroskop zu gucken, weil
es das Falsche sein könnte, brauche ich mich vor Falsifizierung nicht zu
fürchten. - Na ja, wie bei Illustrationen üblich ist das Bild zu simpel.

Indem ich diese Pole "quantitativer" vs. "qualitativer"
Entwicklungbegriff aufmache, vereinfache ich ebenfalls. Oft mischt sich
das, was die Sache nicht besser macht. Ich will euch, Sabine/Michael, in
keine Schublade stecken. Die Kritik wird wohl auch so deutlich. Ich
hoffe, ich konnte das, was ich "erkenntnisleitenden Charakter" des
Keimformbegriffes nenne, verdeutlichen. Wenn man so will, ist es dem
Keimformbegriff (und mir) letztlich egal, ob er bestätigt wird oder
nicht: Beides ist Teil der Erkenntnis.

Was können wir für die Diskussion tun? Wenn es keine Annäherung beim
Begriff der Keimform selbst gibt, dann macht es IMHO wenig Sinn, sich
über die Bewertung von Realphänomena streiten. Für den/die eine/n ist
dies oder jenes ein Beleg für die Verträglichkeit (also nix Keimform),
für den anderen ein Beleg für die Widersprüchlichkeit der Entwicklung
(also Aspekt der Keimform). Das verbleibt auf der Ebene des Meines und
Dafür/Dagegenhalten und ist wenig produktiv.

Was ich super nützlich fände, wäre eine Schärfung dessen, was ich
"übergeordnetes Kriterium" genannt habe. Darüber kann ich mich mit
beiden Entwicklungsbegriffen im Hintergrund unterhalten: Kann ich mir
eine andere als die wertförmige Versellschaftung vorstellen? Wenn ja,
wie sähe sie aus? Was müsse sein, was kann nicht sein? Das hat nichts
mit Utopismus zu tun, denn es geht ja nicht darum, zu beschreiben, was
wo dann mal tun müsse oder wo welche Güterströme verlaufen oder so
etwas. Eine Annäherung an die Frage einer anderen, nichtwertförmigen
Vergesellschaftung kann auf dem "systemischen Niveau" stattfinden - also
auf dem Niveau, auf dem etwa die Analyse von Marx mit Waren, Wert, und
Geld angesiedelt ist. Ja, das ist super schwer. Wenn es das nicht wäre,
dann hätte es schon jemand mal gemacht. So what? Die Frage steht, und
ich weiss, das wir nicht die Einzigen wären, die sie sich stellen.

Und das ist wirklich ein wenig von hinten durch Knie ins Auge. Aber
warum einfach, wenn's kompliziert angemessener ist;-)

Ciao,
Stefan

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