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[ox] Radiobeitrag G. Gillen-Preis der Luege



mal ein Beispiel fuer mutigen Jounalismus.

Heinz

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Appellhofplatz 1
Postfach 10 19 50
50 600 Köln
Sendemanuskript-Hörfunk
WDR 1 WDR 2 WDR 3 WDR 4 WDR 5
Datum14.09.01 TagFreitag Woche37 Uhrzeit - von bis von bis
Dauer
SendereiheNeugier genügt

Titel
Der Preis der Lüge - oder: Die Schatten der Geschichte


Autorin:Gabi Gillen

Programmbereich WDR 5

Zur Beachtung! Dieses Manuskript ist urheberrechtlich
geschützt. Der
vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des
Empfängers
hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen
Grenzen des
Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten
unzulässig und
strafbar. Insbesondere darf es weder vervielfältigt,
verbreitet oder zur
öffentlichen Wiedergabe benutzt werden.

Gabriele Gillen



Der Preis der Lüge - oder:
Die Schatten der Geschichte

Ein Essay für WDR 5 - Neugier genügt
Sendedatum: 14. September 2001
Redaktion: Rainer Marquardt




Beginnen wir mit einem einfachen Gedanken:
Ein Verbrechen gegen ein menschliches Wesen steht einem
anderen
Verbrechen gegen ein menschliches Wesen in nichts nach. Ein
Mensch ist
so viel wert wie ein anderer. Denn:
ôAlle Menschen sind gleich geschaffenö, so steht es auch in
der
amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 und die
Vereinten
Nationen beginnen ihre ôAllgemeine Erklärung der
Menschenrechteö, die
nun schon älter als 50 Jahre ist, mit der feierlichen
Formulierung von
der ôAnerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen
Familie
innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen
Rechteö -
eine Anerkennung, die die Grundlage von Freiheit,
Gerechtigkeit und
Frieden bilde.
Schauen wir uns um auf der Welt:
Nein, die Menschen sind nicht gleich. Gleich geboren, aber
nicht gleich
ernährt; gleichermaßen würdig, aber nicht gleichermaßen
beschützt;
gleichberechtigt, aber nicht gleich behandelt.... Wer
hungert, wird eben
nicht satt. Wer zwischen Folterkellern lebt, lebt in der
täglichen Angst
um seine Haut. Wer verfolgt wird, kann sich kein Wohnzimmer
einrichten.
Wer keine Macht hat, ist ohnmächtig. Und wer sich verachtet
fühlt, lernt
den Hass.

Alle Menschen sind gleich.
Aber erleben wir ein Massaker an Afrikanern oder Arabern als
die gleiche
Katastrophe wie ein Massaker an Europäern oder
US-Amerikanern? Ist es
nicht so, dass wir dort in Afrika oder im Nahen Osten den
rohen Umgang
miteinander beinah für normal halten? Doch würden wir es
verstehen, wenn
ein Afrikaner oder ein Palästinenser ein Blutbad in Europa
oder in den
USA schlicht für das selbstverständliche Produkt einer
Zivilisation
hielte, die Auschwitz oder Hiroshima hervorgebracht hat?
Der Umfang und die Heftigkeit der Anschläge gegen die USA
mögen
überraschend gewesen sein, doch überrascht es auch, dass die
USA in
diesen Zeiten das Opfer von gewalttätigen Attacken wird?
Muss es uns
wundern, dass in den durch Kriege und Armut und
Umweltzerstörung
verwüsteten Teilen der Erde nach einfachen Lösungen gerufen
wird, nach
Rache? Wollen wir nicht begreifen, dass der Terror nicht nur
eine
bösartige, sondern auch eine verzweifelte Antwort auf die
Aufteilung der
Welt in Arm und Reich, in Sklaven und Herrscher ist?
Alle Menschen sind gleich.
Doch die Geschichte der Eroberung Amerikas ist bis heute
eine lange
blutige Geschichte über die Missachtung von Menschenrechten
und den
Missbrauch von Macht: Die Ausrottung der Indianer, die
Unterdrückung der
Schwarzen, Hiroshima und Vietnam, Chile und der Nahe Osten,
die
Verweigerung von Schuldenerlassen oder Umweltauflagen.
Überall auf der
Welt leben Menschen in einer Situation der permanenten
Demütigung und
des ökonomischen Desasters. Und überall mischen die USA
mit -
selbstlegitimiert durch die vermeintliche
2

Verteidigung der Freiheit, aber in Wahrheit immer auf der
Seite des
Geldes und besessen von der Durchsetzung des eigenen Werte-
und
Wirtschaftssystems. Die Verbrechen der Macht stehen in
nichts den
Verbrechen der Ohnmacht nach.

Worum weinen wir in diesen Tagen? Für wen oder was legen wir
Gedenkminuten ein, feiern wir Trauergottesdienste, sagen wir
Gartenpartys, Sportveranstaltungen und Haushaltsdebatten ab?
Warum
unterbrechen wir Wahlkämpfe und warum legen wir gedämpfte
Musik auf die
Plattenteller der Rundfunkanstalten? Trauen wir tatsächlich
um die Toten
in den USA? Doch wann haben wir je in dieser Form auf die
Bombardierungen von kurdischen Dörfern, auf das
Massensterben im
hungernden Afrika, auf die Erschießung von palästinensischen
Kindern
reagiert? Auf das Massaker auf dem Platz des Himmlischen
Friedens, auf
das Gemetzel der Taliban in Afghanistan, auf die durch
Selbstmordattentäter zerfetzten Menschen in Jerusalem?
Oder auf den Völkermord in Ruanda 1994, bei dem eine Million
Frauen,
Männer und Kinder ermordet wurden. Die gerade jetzt so viel
beschworene
Menschenverachtung erleben wir schließlich Tag für Tag. Was
erschüttert
uns also so in diesen Tagen?
Die Ahnung, dass die Spirale aus Gewalt und Gegengewalt
immer seltener
vor den Türen der ôErsten Weltö halt machen wird? Das
plötzliche Wissen
um die Zerbrechlichkeit unserer mit Beton und Konsum und
Seifenopern von
Elend und realer Verzweiflung abgeschirmten Welt?
Oder erschüttert uns vielleicht auch die Erkenntnis, dass
unsere
sogenannte Zivilisation auf einer Lüge aufgebaut ist; dass
wir unsere
Hände nicht länger in Unschuld waschen können; dass das
World Trade
Center und das Pentagon nicht nur für Tausende von
unschuldigen Opfern,
sondern auch für Tausende von Tätern stehen, die Kriege
inszenieren,
Waffen verkaufen und Hungersnöte in Kauf nehmen, wenn es den
Börsenkursen dient?
Die terroristischen Anschläge in den USA ein Menetekel, eine
Unheil
kündende Prophezeiung? Doch wem oder was sagt die mit
Flammen und
Rauchzeichen in den Himmel geschriebene Geisterschrift
dieses Mal ihren
Untergang voraus? Der letzten Großmacht USA oder der
zügellosen Gewalt
des Geldes? Was können wir erkennen im globalen Nebel zu
Beginn des 3.
Jahrtausends?

Trotz der pausenlosen Wiederholung dieser Floskel in den
vergangenen
Tagen - es stimmt nicht, dass sich die Welt durch den
Zusammenbruch des
World Trade Centers verändert hat.
Verändert hat sich die Silhouette von New York. Ansonsten
ist die Welt
die gleiche geblieben. Überall Probleme, für die niemand
eine Lösung hat
oder auch nur zu haben vorgibt. Die selben Kriege, der selbe
Hunger, die
selbe Hoffnungslosigkeit...
Die dramatischen Anschläge in den USA verändern nichts, sie
zeigen nur,
dass immer aufgefeiltere Waffensysteme im Besitz der Nato
oder anderer
Staaten immer ausgefeiltere Terroraktionen bedingen. Die
Kriegserklärung
gegen die USA hat eine Vorgeschichte. Denn Terroraktionen
dieser Art
entstehen auf einem politischen, sozialen und ideologischen
Nährboden,
in einem Klima aus Hass und Intoleranz und Rassismus. Wenn
Bundeskanzler
Schröder nun von einer ôKriegserklärung an die gesamte
zivilisierte
Weltö spricht, schreibt er die Spaltung der Welt schon
wieder fort. Wer
nicht zu uns gehört, ist also unzivilisiert.
Nein, die Welt hat sich nicht verändert. Sie ist leider
genau so wie
zuvor. Meistens jedoch sterben die Menschen stiller und
nicht so
spektakulär.

Ich stehe, trotz aller Beschwörungen der Anständigen, nicht
auf der
Seite von Amerika und ich empfinde die grausamen
Terroranschläge auch
nicht als einen Anschlag auf mein moralisches Wertesystem.
Ich halte die
USA nicht für eine Demokratie und ihre Regierung nicht für
eine Hüterin
der Menschenrechte, nicht für moralisch legitimiert,
moralische Urteile
zu fällen.
3

Aber ich trauere um die Toten in New York und Washington -
so wie um die
zivilen Opfer im Kosovo-Krieg oder die verbrannten
Flüchtlinge in
deutschen Asylbewerberheimen...
Wenn wir aber in Deutschland die Musterschüler im
symbolischen Trauern
mimen wollen, dann bin ich dafür, alle Sportveranstaltungen
und
Oktoberfeste und Messe-Galas abzusagen bis zu jenem Tag, an
dem es
Gerechtigkeit gibt auf der Welt. Und bis zur Einlösung der
UNO-Erklärung
zu den Menschenrechten plädiere ich auch für die dauerhafte
Unterbrechung von inhaltsleeren Wahlkämpfen und für tägliche
Gedenkminuten.

Ohne Gerechtigkeit keine Sicherheit. Nicht noch mehr Waffen,
nicht noch
mehr Sicherheits-Kontrollen, nicht noch mehr Mauern gegen
die Armut und
das Fremde machen die Welt und unser Leben sicherer, sondern
sozialer
und ökonomischer Ausgleich, der entschiedene und
demokratische Kampf
gegen die Verwüstungen des Kapitals, Toleranz und Kultur...
Auch wir hier in den Medien sind gefordert. Wir müssen die
Täter und die
Zusammenhänge beim Namen nennen: Wer profitiert von
Massenentlassungen
oder Hungersnöten, wer verweigert des Profites wegen welche
Medikamente
für Afrika, wer hat die Albaner in Mazedonien eigentlich
bewaffnet - und
wer die Gefolgsleute des Terroristen Bin Laden? Waren das
nicht die
Deutschen und die USA? Wir müssen uns der Propaganda und der
freiwilligen Gedankengleichschaltung entziehen. Und schon
jetzt unsere
Stimmen gegen einen drohenden Krieg erheben. Und dagegen,
dass die USA
gemeinsam mit ihren Verbündeten hinter der Pose der
Betroffenheit und
auf der Suche nach Schuldigen gegen jeden vorgehen, der
berechtigt gegen
die politische Dominanz der USA kämpft.

Wie könnten wir besser der vielen Toten gedenken, der
zahllosen Opfer
von sinnloser Gewalt und gezieltem Terror, als mit dem
gemeinsamen
Bemühen darum, dass sich die Welt tatsächlich ändert?!






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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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