[ox] Enteignung (was: Re: [benni: Re: [ot:wak] Rewahl])
- From: Stefan Meretz <stefan.meretz hbv.org>
- Date: Sat, 28 Sep 2002 14:14:17 +0200
Hallo Birgit,
ich x-poste das mal auf die Oekonux-Liste, da es dort sicher auch Leute
interessiert.
On Friday 27 September 2002 21:59, Birgit Niemann wrote:
Benni Baermann schrieb:
Na, das die bürgerliche Freiheit die Enteignung bedeutet, mag ja
sein, aber wieso muss man deswegen gleich komplett auf den Begriff
verzichten? Der doppelt Freie Lohnarbeiter ist halt nicht die Sorte
Freiheit über die wir reden.
Oder anders - am Beispiel - formuliert: Worin besteht die Enteignung
bei Freier Software?
Nehme ich zunächst den Begriff einmal ernst und stelle fest: befreit
wurde also die Software. Software wiederum sind virtuelle Algorithmen.
Mache ich mir nun den Meretz'schen Algorithmus-Begriff zu eigen und
betrachte die befreiten Algorithmen, die von der Software neu
"verkörpert" werden, als vorweggenommene Prozesse, die einstmals
ausschließlich ideell (von menschlichen Gehirnen) vorweggenommen
wurden, dann komme ich zu dem Ergebnis, dass die Art von Menschen,
deren Köpfen die ehemals ausschließlich ideell vorweggenommenen
Prozesse entstammen, von ihren Algorithmen enteignet wurden.
Hier würden Hardt/Negri darauf hinweisen, dass es sich keineswegs um einen
individuellen Prozess handelt, sondern genuin um einen kollektiven. Genau
das findest du bei der Freien Software. Die algorithmisch
vergegenständlichten Algorithmen in Softwareform sind allen eigen, eine
Enteignung findet statt, wenn die Verfügung über Prozess und Produkt
proprietarisiert (enteignet) wird, um die Warenform zu erzwingen. Es ist
also genau umgekehrt als du meinst.
Handelt es
sich dabei um Menschen, die gerade vom Verkauf ihrer speziellen
Algorithmen leben mussten, dann bedeutet die Enteignung von ihren
Algorithmen gleichzeitig die Enteignung von ihren Lebensgrundlagen.
Ja, das muss ich mir auch meine Gewerkschaft ver.di, die die Verschärfung
der bürgerlichen Rechtsformen fordert (Urheberrecht). Das ist auch nicht
"falsch", sondern unter den Bedingungen der Verwertung nur logisch. Diese
Vorgehensweise bewegt sich aber eben nur in den bürgerlichen Formen, die
sie verstärkt, anstatt sie niederzureissen und zu überwinden. Das ist
klassisch "tradeunionistisch".
Eben dieser
Enteignungsprozess liegt der These von der inneren Schranke der
Kapital-Verwertung zugrunde.
Das verstehe ich nicht.
Natürlich wirst Du sofort auf die Barrikaden gehen, weil Du die Freie
Software zwar in der Tat als vom Verwertungszwang "befreite Software"
definiert hast, aber damit eigentlich die Befreiung der eigenen Person
(und aller anderen) vom reproduktiven Verwertungszwang im Sinne hast.
Dies aber erscheint mir in einer Hinsicht als rethorische Willkür. Denn
das freiwillige Schreiben von Software als Form von Selbstentfaltung
hat ja Dich noch nicht einmal keimförmig vom Zwang zur Selbstverwertung
befreit.
Das behauptet auch niemand. Schliesslich sind die gesellschaftlichen
Bedingungen der bürgerlichen Gesellschaft dominant. Dazu muss sich jede/r
verhalten. Dennoch ist der Unterschied einfach die Perspektive: habe ich
die (Selbst-)Verwertung im Auge, dann muss ich "meine" Algorithmen auch
als solche aus den Commons rausziehen, also die Öffentlichkeit enteignen,
und "meine" Algorithmen proprietarisieren.
Das hätte das Kapital natürlich immer am liebsten: die Gesellschaft
produziert haufenweise general intellect, was sich das Kapital dann unter
den Nagel reissen kann. Hardt/Negri sagen, dass genau das massenweise
passiert (ihr weiter Begriff der immateriellen Arbeit). Das Kapital kann
das nämlich nicht "selbst" produzieren, so wie es die Gesellschaft nicht
"selbst" organisieren kann, weswegen es den Staat braucht. Dort sehe ich
"innere Schranken".
Denn Deine Brötchen musst Du Dir weiterhin in Selbstverwertung
eintauschen
Ja, das ist so. Es ist kein Geheimnis. So sind die Verhältnisse. Was sagt
das aber aus, ausser, dass es eben so ist?
und die freiwillig erzeugte Software schreibst Du so, wie
andere eben Gedichte schrieben, oder eben "Anleitungen" zu
revolutionären gesellschaftlichen Umwälzungen, die sie ebenfalls
freizügig in Büchern und Bibliotheken (und nicht auf Servern)
platzierten.
Ist Freie Software nur ein Hobby wie alle anderen auch? Nein, sie hat
besondere Qualitäten, die einem normalen "Hobby" nicht zukommt: Sie
spielt im Auge des Hurrikans, sprich im Bereich der entwickelsten
Produktionsmittel, und durchdringt damit potenziell alle
gesellschaftlichen Bereichen; sie wird in individueller Selbstentfaltung
und global-vernetzter kollektiver Selbstorganisation in grundsätzlich
wertfreier Form entwickelt und entspricht damit einer qualitativ neuen
Form der Produktivkraftentwicklung, zu der das Kapital nicht in der Lage
ist. Das Kapital scheitert am Widerspruch von Selbstverwertung und
Selbstentfaltung, weswegen es nur so sein konnte und sein kann, das Freie
Software ausserhalb der Verwertungstrukturen entstand und entsteht.
Du postulierst zwar, dass das freiwillige Schreiben von
Software als neue Keimform der gesellschaftlichen ReProduktion
betrachtet werden kann und führst auch (zusammen mit der ganzen
Gemeinde) einige nachvollziehbare und zusammenhängende Indizien dafür
an, aber das den Zweck wenigsten keimförmig erfüllende Stadium der
Entwicklung steht noch aus und noch ist nicht auszuschließen, dass der
Name "Freie Software" eben doch prophetischer ist, als seine Erfinder
glauben, weil am Ende der Entwicklung nur die Software befreit wurde.
Das ist der zentrale Punkt. Es geht nicht nur um die Befreiung der
Software, sondern um die Befreiung der Produktion der Software. Das wird
im Oekonux-Projekt auch mitunter als "doppelt Freie Software" - nämlich
Produkt und Produktionsprozess - diskutiert.
Ich bin weit davon entfernt, letzteres für unbedingt richtig zu halten.
In Wahrheit finde ich schon einige höchst interessante Ansätze in der
Freien Software, aber ganz so unkritisch kann ich da als Aussenstehende
doch nicht sein. Insbesondere deshalb, weil ihr Freie-Software-Leute
eben das Gefühl für die zentrale Bedeutung der stofflichen ReProduktion
verliert und Euch um diesen Punkt bis auf wenige Ausnahmen reichlich
herumdrückt und sogar unduldsam werdet, wenn man ihn immer wieder
einfordert. Weil sich nun wirklich kein Mensch auf eine Alternative
einlassen kann, die die gesellschaftliche Bereitstellung der Brötchen
vernachlässigt.
IMHO geht es Niemandem darum, die Relevanz der stofflichen ReProduktion zu
negieren, ganz im Gegenteil. Ungeduldig werden einge, mitunter auch ich,
wenn andere, mit dem Argument, die stoffliche ReProduktion sei davon
nicht betroffen, sich die qualitativen Änderungen im Bereich der
nichtstofflichen Produktion nicht genau angucken. Dieser Eindruck
entsteht, weil schnell erklärt wird, dass, da ja kein komplettes Szenario
einer qualitativ anderen gesellschaftlichen ReProduktion vorgelegt werden
kann, alles andere nichts sein kann. Mitunter begeleitet von solchen
"Gegen-Beispielen" wie: IBM investiert 1 Mrd. Dollar in die Freie
Software, also kann FS nichts Neues sein. Dass IBM nur das Produkt
interessiert, dürfte schnell einleuchten. Bei einer solchen Haltung des
es-schon-vorher-besser-wissens werde ich manchmal in der Tat ungeduldig
(damit meine ich jetzt niemanden konkret).
Es wird übersehen, dass es mindestens mir (ich stehe damit wohl nicht
alleine) vor allem um die Produktionsweise geht. Ich abstrahiere zunächst
vom Produkt, und frage, was das qualitativ Neue dieser Produktionsweise
ist. Und dann frage ich, ob diese Produktionsweise verallgemeinerbar ist,
oder ob dem prinzipiell Fakten entgegenstehen. Das kann bei der
Stofflichkeit der Fall sein. Ich denke jedoch: nein. Die Gründe, warum
ich meine, dass FS nur ein erstes frühes Prinzip einer neuen
ReProduktionsweise ist, dass auch in den Bereich der stofflichen
Produktion verallgemeinerbar ist, haben - grob gesagt - mit einer von mir
behaupteten qualitativ neuen Form der Produktivkraftentwicklung überhaupt
zu tun, in der eben der Selbstentfaltung des je individuellen Menschen
die zentrale Rolle zukommt.
Befreiung ist und bleibt zumindestens für mich Kern und Antrieb allen
dessens was auch nur im Ansatz politisch ist an meinem Handeln. Was
sonst?
Das will ich ja gar nicht in Abrede stellen. Das befreit doch aber
trotzdem nicht von der Frage: Befreiung für wen, wovon und wofür. Es
geht mir auch darum, den Blick dafür nicht zu verlieren, dass Befreiung
eben an bestimmten Punkten sehr leicht in Enteignung umkippen kann.
Nach meiner Sicht bedeutet Befreiung die Verhinderung von Enteignung.
Schlicht schon deswegen, weil es auch um die Befreiung von Privateigentum
(im Marxschen Sinne) geht. Nur nicht so, wie sich das die
Traditions-Marxogeten vorstellen. Eher als "Rückübertragung" des bereits
Enteigneten in die Commons.
Ciao,
Stefan
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