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[ox] Erstes GPL-Fernsehen



Artikel in der Frankfurter Rundschau
(http://www.f-r.de/fr/200/t200002.htm):

Klauen dringend erwünscht

US-Journalist Robert X. Cringely arbeitet an der Zukunft des
Fernsehens im Internet

Von Janko Röttgers

In dreißig Tagen im Alleingang ein Flugzeug entwerfen, zusammenzimmern
und in die Luft bringen - Robert X. Cringely liebt solche
Herausforderungen. Cringely ist Autor des Buchs Accidental Empires,
einem Klassiker über die Firmenkultur des Silicon Valley. Er drehte
für den US-Fernsehsender PBS mehrere Features über die amerikanische
Computerkultur. Außerdem schreibt er für den Sender eine wöchentliche
Web-Kolumne mit dem leicht egomanen Titel "Ich, Cringely". Doch
manchmal braucht er einfach zusätzlichen Nervenkitzel. Dann kommt er
auf solche Ideen wie die mit dem Flugzeug, scheitert daran grandios
und dreht darüber eine weitere Dokumentation.

Jetzt hat Cringely mal wieder so eine Idee: Nerd-TV - eine
wöchentliche Show über die Computerbranche, die nur im Netz verbreitet
wird. Geht sein Konzept auf, könnte er die Welt des
Internet-Fernsehens revolutionieren. Bisher krankt die Übertragung von
Videobildern im Netz an zwei Faktoren: Qualität und Bandbreite.
Entweder sind die Bilder kaum zu erkennen oder die Sendungen sind nur
für Nutzer schneller Internetzugänge empfangbar. Qualitativ
hochwertige Streams kosten den Anbieter zudem ein Vermögen.

Cringely wird seine Sendung deshalb als Download anbieten. So soll es
Modem-Nutzern möglich sein, 30 Minuten Show mit annehmbarer
Bildqualität in rund einer Stunde aus dem Netz zu laden. Der Clou ist
aber seine Antwort auf das Kostenproblem: Die Zuschauer werden die
Show nach Belieben kopieren, über Tauschbörsen verbreiten und auf
ihrer eigenen Website zum Download anbieten dürfen. Nerd-TV ist Open
Source. Cringely bedient sich dazu der General Public License, unter
der auch das Betriebssystem Linux vertrieben wird.

Damit darf nicht nur jeder nach eigenem Gutdünken Kopien der Sendung
verbreiten, sondern sie sogar als Rohmaterial für eigene Produktionen
nutzen - vorausgesetzt, diese werden wieder als Open Source
veröffentlicht. "Davon wird wahrscheinlich kaum jemand Gebrauch
machen", meint Cringely. Aber die Idee fasziniert ihn. Deshalb will er
zu jeder Folge das komplette, ungeschnittene Rohmaterial ins Netz
stellen. Außerdem wird es jeweils eine Version mit technischem
Schwerpunkt und eine mit Wirtschafts-Themen geben. Cringely nennt sie
die Nerd- und die Anzugsträger-Version.

"Die Distribution ist komplett vom Eigentum getrennt", erklärt
Cringely. Die Internet-Version darf jeder frei vertreiben. Doch die
Originalbänder bleiben in Cringelys Besitz - eine spätere kommerzielle
Weiterverwertung ist also immer noch möglich. Trotzdem ist er mit der
Idee nicht gerade auf Kurs mit den privaten US-Fernsehsendern. Die
fürchten das Internet und arbeiten seit geraumer Zeit daran, ihr
Programm in Zukunft nur noch kopiergeschützt zu verbreiten.

PBS hat als US-Pendant des Kultursenders Arte damit jedoch kein
Problem. "Sie lieben die Idee", so Cringely. Schließlich sei es ein
großartiges Experiment, das den Sender kaum etwas koste. Durch
"betteln und stehlen" habe er das Überleben des Projekts für ein Jahr
gesichert. So habe sich ein Freund kurzerhand bereit erklärt, ihm 30
Terabyte Bandbreite pro Woche zur Verfügung zu stellen. Für das zweite
Jahr hofft Cringely auf weitere Sponsoren.

Seine Chancen auf potente Geldgeber stehen nicht schlecht. Cringely
ist so etwas wie der beliebteste Nestbeschmutzer der Branche. Er
lästert über jeden, und dennoch lieben sie ihn alle. Er hat Steve Jobs
einen Soziopathen genannt und Bill Gates megaloman, und dennoch geben
ihm die Chefs von Apple und Microsoft immer noch gerne Interviews. Er
hat ein ganzes Kapitel seines Buchs Accidental Empires Lästereien über
den "Wohlfahrtsstaat IBM" gewidmet, und trotzdem stellt IBM Research
Labs die Technologie für die Nerd-TV-Videosoftware.

Begonnen hat diese Hassliebe, als Cringely 1987 unter seinem
bürgerlichen Namen Mark Stephens bei der US-Computerzeitung Infoworld
anheuerte. Dort schrieb er als Robert X. Cringely eine Klatsch-Kolumne
über die Computerindustrie. Bald entdeckte er, dass es in dieser
Branche mindestens so viel verletztes Selbstwertgefühl, so viele
Intrigen und Verschwörungen gibt wie in Hollywood. Cringely lernte,
mit diesen Emotionen zu spielen und sicherte sich so eine Heerschar
von Interviewpartnern und anonymen Informanten. Nach einigen Jahren
wurde ihm gekündigt, doch das Pseudonym blieb an ihm haften.

1996 drehte er die Silicon-Valley-Dokumentation "Triumph der Nerds"
für den öffentlichen Sender PBS. Später legte er mit "Nerds 2.0" nach.
Seit fünf Jahren finanziert ihm PBS zudem seine persönliche
Web-Kolumnen-Spielwiese. 200 000 Leser erreicht er dort nach eigenen
Angaben wöchentlich mit einem eigenwilligen, aber höchst
unterhaltsamen Themenmix. Mal erklärt er ihnen, wie er seinen Garten
mit mobilem Internet versorgt, mal schreibt er über Microsofts jüngste
Softwarefehler. Erst kürzlich forderte er seine Leser zum kollektiven
Gesetzesbruch auf, um das US-Copyright zu ändern.

Dauerbrenner in den letzten Wochen war auch das Thema Nerd-TV. Seine
Leser können es kaum erwarten, müssen sich aber wohl noch ein paar
Wochen gedulden. Cringely brütet allerdings bereits an
Expansionsplänen. So kann er sich in dem Open Source-Format auch eine
Dokumentation über die Geschichte der Computerkultur vorstellen.
Mehrere hundert Stunden Interview-Rohmaterial liegen bereits in seinem
Archiv. "Für Wissenschaftler und Studenten ist das eine unschätzbare
Fundgrube", so Cringely. Denkbar sei auch, eine Art Portal für andere
Fernsehsendungen mit dem gleichen Vertriebskonzept zu eröffnen. "Das
wäre dann schon fast so etwas wie eine eigene Fernsehstation", sagt er.

Die Zukunft birgt also noch einige Herausforderungen für Robert X.
Cringely. Doch wie schafft er all das eigentlich - die Kolumne, das
wöchentliche Videofeature in drei Versionen, und das nächste
Buchprojekt womöglich schon auf dem Schreibtisch? Cringelys ehrliche
Antwort: "Meinen letzten Urlaub hatte ich im Juli 1989. Ich arbeite
100 Stunden pro Woche. Das ist etwas, was ein normaler Mensch besser
nicht tun sollte. Aber ich kann einfach nicht anders."


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Organisation: projekt oekonux.de


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