Message 06853 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT06853 Message: 1/1 L0 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

[ox] TELEPOLIS: Die Kontroversen mehren sich



Dieser TELEPOLIS Artikel wurde Ihnen
von Stefan Merten <smerten oekonux.de> gesandt.

----------------------------------------------------------------------
Je konkreter es wird, desto schwammiger wird es...

Georg Greve hat auf dem Pariser Treffen und mit seinen Berichten 
übrigens einen Klasse Job gemacht :-) . Leider ist das 
Mailing-Listen-Archiv so schlecht gewartet, dass seine Mails da nicht 
drin sind...

----------------------------------------------------------------------
Die Kontroversen mehren sich

Wolfgang Kleinwächter   22.07.2003 

Der Marathonlauf zum Weltgipfel der Informationsgesellschaft hat das 
kritische Stadium erreicht 

Der Marathonlauf zum  Weltgipfel der Informationsgesellschaft [1] 
(WSIS) hat den kritischen Kilometer 30, an dem sich üblicherweise Spreu 
vom Weizen trennt, erreicht. Ging es bei den bisherigen zwei 
Vorbereitungskonferenzen (PrepComs) noch vorrangig ums Prozedere, d.h. 
darum, wie weit nichtstaatliche Beobachter aus der Zivilgesellschaft 
und der Privatwirtschaft an den Verhandlungen zu einer "WSIS 
Deklaration" und einem "WSIS Aktionsplan" beteiligt werden, so rücken 
nun die kontroversen inhaltlichen Fragen in den Mittelpunkt. In einer 
viertägigen Konferenztortur sind letzte Woche bei einer sogenannten 
"WSIS InterSessional"-Konferenz rund 750 Delegierte von Regierungen, 
Privatwirtschaft und Zivilgesellschaft erstmals "zur Sache" gekommen. 
Und schon wurden die weltweit tiefgreifenden Kontroversen über die 
Zukunft der globalen Informationsgesellschaft sichtbar. 

Auf knapp 400 Seiten hatte das WSIS Sekretariat alle bei ihm 
eingetroffenen Ideen  aufgelistet [2]. Es war nun Aufgabe des Pariser 
Treffens, aus dem Papierberg ebenso lesbare wie substantielle 
Schlussdokumente für die im Dezember in Genf zusammenkommenden 
Staatsoberhäupter herauszudestillieren. Das Ergebnis ist eher 
kümmerlich. Der jetzt 12seitige Deklarationsentwurf ist an 
nichtssagenden Allgemeinplätzen kaum zu übertreffen. Die Verhandlungen 
zum Aktionsplan blieben auf halbem Weg stecken. Nun sollen der Plan vom 
WSIS-Sekretariat für die nächste Vorbereitungskonferenz (PrepCom3) Ende 
September in Genf fertig gestellt werden. 

Das Schneckentempo, mit dem sich die Verhandler durch den Pariser 
Papierberg quälten, erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass momentan 
jeder jeden auszubremsen versucht, wenn es um substantielle 
Festlegungen oder gar Verpflichtungen geht. Die diesbezügliche 
Stichwortliste wird immer länger, je tiefer man in die Materie 
eindringt. 

Von der Finanzierung über Cybersicherheit bis zur Internetverwaltung: 
Die Kontroversen wachsen 

Finanzierung:
Die Staatsoberhäupter der Entwicklungsländer, wie Senegals Präsident 
Wade bei der PrepCom2, erwarten, dass sie am Ende des WSIS Gipfel eine 
erhebliche Finanzspritze erhalten, einen sogenannten "Digital 
Solidarity Fund", mit der sie ihre Informationsinfrastruktur aufbauen 
können. Die Finanzminister der mehr oder minder reichen Länder des 
Nordens halten jedoch nicht viel von einer großen Geldbüchse, die, wie 
Erfahrungen mit anderen Fonds zeigen, zur "Versandung" neigen, sondern 
bevorzugen bilaterale Projekte und richten ihre Finger primär auf die 
private Wirtschaft. Die wiederum hält sich bedeckt, solange sie nicht 
einen entwickelbaren Markt sieht, der ihnen Rechtssicherheit und 
Bewegungsfreiheit garantiert. Das Verbot von Raubkopieren gehört dazu 
ebenso wie die Abschaffung von Staatsmonopolen bei der 
Telekommunikation.

Menschenrechte:
Vor allem Vertreter der Zivilgesellschaft fordern stärkere Garantien 
für die Menschenrechte auf Information und Kommunikation. Man müsse von 
der Deklaration der Rechte zu deren Praktizierung kommen und dafür auch 
die materiellen Voraussetzungen schaffen. Die Vorschläge aber, die vor 
einem halben Jahrhundert formulierten Rechte an die Gegebenheiten des 
interaktiven Informationszeitalters anzupassen und um Aspekte wie 
Zugangs- und Partizipationsrechte zu erweitern, schmettern jedoch die 
Regierungen - von China bis zu den USA - mit dem Hinweis ab, WSIS sei 
keine Kodifikationskonferenz und könne folglich keine neuen Rechte 
begründen. Auch Forderungen nach einer internationalen Verankerung 
eines Rechts auf Kommunikation oder auf informationelle 
Selbstbestimmung sowie konkrete Maßnahmen gegen flächendeckende 
Überwachung individueller Internet-Kommunikation stoßen auf schroffe 
Ablehnung.

Cybersicherheit: 
Die von der Europäischen Union vorgeschlagene Formulierung, eine 
"Kultur der Cybersicherheit" zu schaffen, bei der die 
Sicherheitsinteressen des Staates mit den Datenschutzansprüchen der 
Bürger ausbalanciert werden sollten, ohne dass es dabei unnötige 
Hindernisse für den elektronischen Geschäftsverkehr gibt, versucht zwar 
rein verbal, allen Seiten gerecht zu werden. Der entsprechende 
Deklarationsparagraph aber schwiegt sich darüber aus, wie denn diese 
"Balance" aber konkret aussehen soll. Zusätzlichen Konfliktstoff haben 
die Russen geliefert, indem sie auch auf die militärische Dimension von 
Cybersicherheit verweisen und staatliche Privilegien für den Kampf 
gegen den "Cyberterrorismus" fordern. Der sogenannte 
"Tschetschenien-Paragraph" aber geht nicht nur der EU zu weit. Auch die 
USA halten nichts davon, das Thema WSIS zu "militarisieren". Das US 
Department for Homeland Security wird sich wohl kaum von der UNO in 
ihre Cybersicherheitsstrategie hineinreden lassen wollen.

Internetverwaltung:
Entwicklungsländer, und allen voran China, fordern die Verwaltung der 
Kernressourcen des Internet - Domain-Namen, IP-Adressen, 
Internetprotokolle und Root Server - einer zwischenstaatlichen 
Organisation zu unterstellen. USA und EU wollen hingegen der 
reformierten ICANN, die die Mitwirkungsrechte von Regierungen erweitert 
hat, den Rücken stärken. Die Privatwirtschaft fordert, dass dieses 
Thema auch weiterhin primär der industriellen Selbstregulierung 
unterliegen soll, während die Zivilgesellschaft eine größere 
Beteiligung von individuellen Internet Nutzern am globalen Internet 
Politikmanagement fordert.

Geistige Eigentumsrechte und Open Source:
Die USA, im Verbund mit der Mehrheit der privaten Wirtschaft, fordern 
dieses Thema weitgehend aus WSIS herauszulassen, sich damit zu 
begnügen, die bestehenden Instrumente wie GATS und TRIPS zu bekräftigen 
und es den laufenden Verhandlungen in der WIPO und der WTO zu 
überlassen, wie die zukünftigen globalen Rahmenbedingungen für den 
"freien Informationsfluss" aussehen sollen. Entwicklungsländer im 
Verbund mit der Zivilgesellschaft plädieren hingegen für eine Stärkung 
der Rechte der Schöpfer und nicht nur der der Verwertungsgesellschaften 
Auch die Interessen der Nutzer müssten berücksichtigt werden und das 
Recht auf bezahlbare Teilhabe an den Informationsprodukten oder das 
"right to share information", z.B. via P2P-Modelle, sollte durch die 
WSIS verankert werden. Im Bereich von Open Source und freier Software 
wiederum ist die Europäische Union durchaus an der Seite der 
Zivilgesellschaft und nicht uninteressiert daran, das Quasi-Monopol von 
Microsoft zu brechen.  

Neue Partnerschaften in Sicht: Stop-and-Go Verhandlungen bei PrepCom3? 

Bei den spezifischen Sachauseinandersetzungen, die in "Ad hoc Working 
Groups" verlegt wurden, zeigte sich auch deutlich, dass viele 
Regierungsvertreter zwar über die Kunst des taktischen 
Formulierungsgeplänkels verfügen, häufig aber überfordert sind, wenn es 
um konkrete, mitunter technisch komplizierte Sachfragen geht. Bei einer 
Nachtsitzung zum Thema Internetverwaltung wurden z.B. Forderungen laut, 
wonach jedes Land ein Recht auf einen eigenen Root Server haben müsse. 
Einige Diplomaten wollten Regeln verankern, die das souveräne Recht von 
Regierung bekräftigen sollten, das "nationale Internet" ähnlich regeln 
zu können wie das nationale Rundfunksystem. 

Der kenianische Vorsitzende der "Ad hoc Internet Governance Working 
Group" war daher durchaus dankbar, als sich zu später Stunde anwesende 
nicht-staatliche Beobachter, wie z.B. Paul Wilson, Direktor der 
regionalen Internet Adressenverwaltung für die asiatisch-pazifische 
Region (APNIC), in die Debatte einmischten und ein wenig zur Aufklärung 
beitrugen, wie das Internet im allgemeinen und die Zuordnung von 
IP-Adressen und Domain-Namen im konkreten funktionieren. Die 
Intervention "von außen" trug nicht unwesentlich zu einer 
Versachlichung der Debatte bei. Der Vorgang war insofern bemerkenswert, 
da rein formell nach den auf PrepCom1 angenommenen Prozedurregeln 
Beobachter eigentlich weder Zugangs- noch Rederecht in Arbeitsgruppen 
haben sollten. 

An diesem Beispiel wurde sichtbar, dass sich die auf den ersten beiden 
Vorbereitungskonferenzen fast religiös geführten Auseinandersetzungen 
um die Öffnung des Staatengipfels für Beobachter als reine ideologische 
Schlachten entpuppen, denen die Luft ausgeht, wenn es um fachliche 
Substanz geht. Die Interaktion zwischen allen Gruppen - Industrie, 
Zivilgesellschaft und Regierungen (in der WSIS-Sprache wird das jetzt 
"multistakeholder approach" genannt) - wird immer mehr als die einzige 
Chance erkannt, halbwegs vernünftige Gipfelergebnisse zu erzielen. 

Dabei geht es nicht darum, die Souveränitätsrechte von Regierungen zu 
unterhöhlen, sondern innovative neue Partnerschaften aufzubauen, bei 
denen je nach sachlicher Gemengelage einmal die Regierungen, ein 
andermal der private Sektor oder die Zivilgesellschaft die "führende 
Rolle" übernehmen. Dass die dabei zitierten Prinzipien wie Offenheit, 
Transparenz und "Politikentwicklung von unten" bei einigen Regierungen 
grausiges Rückengrimmen auslösen, lässt erwarten, dass die Diskussion 
zwar begonnen hat, aber bei weitem noch nicht klar ist, wie weit WSIS 
diese politische Innovation einer dreiseitigen Partnerschaft in der 
Praxis treiben wird. 

Der vom zivilgesellschaftlichen WSIS-Büro unterbreitete  Vorschlag für 
PrepCom 3 [3], das Verhandlungsprozedere zu verändern und vor den 
Formulierungen von strittigen Paragraphen zunächst eine informelle 
Expertenrunde abzuhalten, um den Sachverstand von Beobachtern aus der 
Privatwirtschaft und der Zivilgesellschaft einzuholen, wurde denn auch 
vom zwischenstaatlichen WSIS-Büro zunächst als eine interessante 
Anregung entgegengenommen. Dieser Vorschlag stellt nicht in Frage, dass 
das letztendliche Formulierungsrecht der WSIS-Schlussdokumente Sache 
der Regierungen ist, könnte aber sowohl Qualität als auch 
Glaubwürdigkeit und Legitimität von WSIS-Deklaration und 
WSIS-Aktionsplan erhöhen. 

WSIS-Präsident Samassekou sprach sich dafür aus, die Interaktion 
zwischen Regierungen und Beobachtern stärker auf die sachliche Substanz 
zu fokussieren. Der Schweizer Botschafter Stauffacher konnte sich gar 
ein "Stop-and-Go-Verhandlungsprozedere" bei PrepCom3 vorstellen, bei 
dem für die Zeit der Intervention von Beobachtern die 
Regierungsverhandlungen formell unterbrochen werden Und selbst der 
bislang gegen jedwede Öffnung hin zur Zivilgesellschaft opponierende 
pakistanische Botschafter wollte nicht mehr ausschließen, dass man in 
der letzten Phase bei der Abfassung der Dokumente mehr Hand in Hand 
arbeiten könne. Er zitierte einen alten chinesischen General der einmal 
gesagt haben soll, dass sich "Möglichkeiten vervielfältigen mit ihrer 
Praktizierung". 

Ob den Regierungsworten Taten folgen, bleibt indes abzuwarten. Der 
Frust der Zivilgesellschaft wurde am letzten Tag der 
WSIS-InterSessional noch einmal deutlich artikuliert. Der jetzt 
vorliegende Deklarationsentwurf sei völlig unausgewogen und ignoriere 
wesentliche Ideen der Zivilgesellschaft, sagte Meryem Mazouki, die die 
Arbeitsgruppe Menschenrechte der Zivilgesellschaft leitet. Der 
WSIS-Berg habe gekreißt, aber ein Mäuslein geboren. Die 
Zivilgesellschaft hätte im WSIS-Prozess bislang Konstruktives geleistet 
und sei bislang nicht der vermutete "Troublemacher". Die im 
Deklarationsentwurf in eckige Klammern gesetzte Absicht der 
Regierungen, die Zivilgesellschaft stärker an Entscheidungen über die 
Zukunft der globalen Informationsgesellschaft zu beteiligen, sei 
bislang jedoch lediglich ein substanzloses Lippenbekenntnis und nehme 
die geleistete Arbeit nicht zur Kenntnis. 

Die Zivilgesellschaft hat in diesem WSIS-Prozess eine bemerkenswerte 
Reifung und Professionalisierung durchlebt. Sie hat eine Struktur 
entwickelt. Es gibt eine "Civil Society Plenary", eine "Civil Society 
Content and Themes Group", mehr als 25 "Civil Society Families", 
Caucuses und inhaltliche Arbeitsgruppen, in denen teilweise die besten 
Experten dieser Welt mitarbeiten, und ein "Civil Society WSIS Bureau". 
Zu nahezu allen Punkten wurden substantielle Arbeitspapiere vorgelegt. 
Das  Zivilgesellschaftliche Prioritätspapier [4] ist de facto bereits 
so etwas wie einen "Schatten-Deklaration", die, sollten die Regierungen 
den Input der Zivilgesellschaft dramatisch ignorieren, auf dem Gipfel 
auch als eine Art "Alternativ-Deklaration" präsentiert werden könnte. 

John Gagain aus der Dominikanischen Republik, der als Mitglied der 
"Civil Society Think Tanks Family" dem zivilgesellschaftlichen WSIS 
Büro vorsteht, meinte, dass man seit der PrepCom1 auf dem Weg von 
"Turmoil to Trust" einen gehörigen Schritt vorangekommen ist. Es sei 
jetzt an den Regierungen, der Zivilgesellschaft mehr Vertrauen entgegen 
zu bringen. Wenn dies nicht geschieht, könnte es aber auch durchaus 
sein, dass aus "Trust" wieder "Turmoil" und bis zum Gipfel der Berg 
immer größer, das Mäuslein jedoch immer kleiner wird. 

Wolfgang Kleinwächter ist Professor für internationale 
Kommunikationspolitik und Mitglied des zivilgesellschaftlichen WSIS 
Büros. 

Links 

[1] http://www.itu.int/wsis/
[2] 
http://www.itu.int/wsis/preparatory/prepcom/intersessional/index.html
[3] http://prepcom.net/wsis/1058537670660
[4] 
http://www.worldsummit2003.de/download_en/WSIS-CS-CT-Paris-071203.rtf

Telepolis Artikel-URL: 
http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/te/15273/1.html 

----------------------------------------------------------------------
Copyright © 1996-2003. All Rights Reserved. Alle Rechte vorbehalten
Heise Zeitschriften Verlag, Hannover    
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



[English translation]
Thread: oxdeT06853 Message: 1/1 L0 [In index]
Message 06853 [Homepage] [Navigation]