[ox] TELEPOLIS: Die Internet-Bibliothek von Alexandrien
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- Date: Tue, 01 Jun 2004 11:04:50 +0200
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Die Internet-Bibliothek von Alexandrien
Stefan Krempl 01.06.2004
Ein Interview mit Jimmy Wales, dem Mitbegründer der stetig wachsenden
Online-Enzyklopädie Wikipedia
Open Content, der Versuch der Internetgemeinschaft, kostenlos
zugängliche Essays, Artikel und andere Schriften herzustellen, ist im
Bereich der Open Source zu einem großen Erfolg geworden. Der Pionier
ist die Web-Enzyklopädie Wikipedia [1], die vermutlich bald den
Meilenstein von 300.000 Artikeln erreichen wird. Der Vorbote für Open
Content bereitet den kommerziellen Enzyklopädien wie der Britannica
oder der Encarta große Sorgen, da sie jetzt bereits schnell Kunden
verlieren.
Wikipedia basiert auf der offenen Redaktionsdatenbank Wiki [2] und ist
in zahlreichen Sprachen [3] verfügbar. Die deutsche Version [4]
enthält beispielsweise mehr als 90.000 Artikel. Das Projekt wurde von
Jimmy Wales [5] and Larry Sanger [6] im Jahr 2001 gestartet. Stefan
Krempl hat sich mit "Jimbo" [7] unterhalten, der auch die freie
Suchmaschine Bomis [8] über den "Sieg der Freien" sowie über Open
Content und auch seine Mängel betreibt.
Die englische Version von Wiikipedia ist umfangreicher als der
Brockhaus [9]. Ist ihr Angebot auch besser im Hinblick auf solide,
wahrheitsgemäße und nützliche Information?
Jimmy Wales: Auf viele Weisen sind wir besser, in den Bereichen, in
denen wir zurückliegen, holen wir schnell auf. Brockhaus enthält (nach
Wikipedia!) 260.000 Einträge, während die deutsche Wikipedia-Version
nur 91.000 Einträge anbietet. Aber sie wächst mit einer Geschwindigkeit
von 400 Einträgen pro Tag. Daher kann man davon ausgehen, dass die
deutsche Wikipedia bis Ende 2005 leicht den Brockhaus im Umfang
übertreffen wird. Natürlich ist es nicht sinnvoll, etwas nur
hinsichtlich der Größe zu messen. Um die Qualität zu beurteilen, sollte
der Leser einige ausgewählte Artikel vergleichen. Was die Aktualität
betrifft, gibt es keine Konkurrenz, denn Wikipedia-Artikel werden in
Echtzeit aktualisiert.
Wer braucht denn im Zeitalter von Google und Bomis noch eine
Enzyklopädie?
Jimmy Wales: Wenn die Menschen etwas in Google suchen, dann finden
sie immer öfter Wikipedia (lacht). Die wirkliche Antwort aber ist, dass
Wikipedia im Unterschied zu einzelnen Webseiten, die einseitig oder
nicht wahrheitsgemäß sind, ein Mittel für ein unmittelbares Peer Review
in Echtzeit darstellt. In Wikipedia wird alles von Hunderten von
Menschen überprüft, die die Möglichkeiten haben, Irrtümer zu
korrigieren oder Einseitigkeiten zu beseitigen.
Wie viele Besucher hat die englische Wikipedia monatlich und welche
Artikel werden normalerweise am meisten aufgerufen?
Jimmy Wales: Die englische Wikipedia erzielt nach unserer Statistik
im Monat 6 Millionen Visits. Ich weiß nicht, wie genau das ist. Im Mai
war der am meisten aufgerufene Artikel "Nick Berg". Im April war es
"Jew". Im Allgemeinen sind brennende aktuelle Ereignisse sehr populär.
Aber es gibt auch einige dauerhafte Favoriten wie "World War II",
"Mathematik" und natürlich "Sexual Intercourse".
Wer sind die mehr als 250.000 freiwilligen Mitarbeiter, die für
Wikipedia schreiben? Haben Sie eine Ahnung von ihren Beweggründen? Ist
kostenlose Mitarbeit noch immer ein großer Faktor in der
Netzgemeinschaft oder nimmt sie gar noch zu?
Jimmy Wales: Ich glaube, dass es für die meisten Mitarbeiter
zuallerst ein Hobby ist, dem sie aus eigenem Vergnügen nachgehen.
Manche sprechen von sich als "Wikiholics" und sagen, dass sie wirklich
mehr nach draußen gehen sollten (lacht). Aber da gibt es das große
Bild, die große Vision, das Gefühl, dass wir etwas Interessantes
machen. Wir spielen nicht nur auf einer Website herum, wir schaffen
etwas, das neu in der Welt ist, das alle früheren Arbeiten an
Enzyklopädien übertrifft. Man wird sich an Wikipedia in 2000 Jahren als
die Bibliothek von Alexandrien unserer Zeit erinnern.
Wie viele der sogenannten "Wikipediholics" gibt es denn?
Jimmy Wales: Wenn wir einen Wikipediholic als jemanden definieren,
der in einem Monat mehr als 100 Einträge macht (weil wir eine Statistik
über diese Zahl haben), dann waren es zwischen 1.200 und 1.400 in den
letzten Monaten.
Was war Ihre primäre Vorstellung, als Sie zusammen mit Larry im Jahr
2001 mit Wikipedia begonnen haben?
Jimmy Wales: Das Wiki-Konzept war zu der Zeit unbekannt, als ich
Larry anstellte, um Nupedia, ein früherer Versuch, zu organisieren.
Meine primäre Vision war zu dieser Zeit, eine kostenlos lizenzierte
Enzyklopädie zu schaffen, die größte Enzyklopädie, die es jemals
gegeben hat. Diese Vision hat sich niemals verändert, auch wenn ich
meine Methoden mit der Zeit verändern musste.
Warum ist der erste Anlauf mit Nupedia gescheitert?
Jimmy Wales: Das Projekt war relativ top-down, geschlossen und
akademisch. Die Hürden waren für die freiwilligen Mitarbeiter zu hoch.
Es war mühsam, sich zu beteiligen. Wikipedia ist natürlich genau das
Gegenteil, unheimlich einfach!
Wenn Sie zurückschauen, sind Sie zufrieden mit dem Heranwachsen Ihres
Kindes? Was sind Ihre nächsten Schritte?
Jimmy Wales: Ja! Wer würde nicht zufrieden sein. Ich bin sprachlos
über das, was geschehen ist, und ich bin sprachlos angesichts des
unglaublichen guten Willens und Talents der Mitarbeiter.
Was ist der wirkliche Vorzug einer Enzyklopädie, die im Gegensatz zu
einem geschlossenen Redaktionssystem auf einem "open content" basiert?
Jimmy Wales: Der unmittelbare Vorteil ist die Aktualisierung in
Echtzeit. Aber der wichtigere Vorteil ist die Neutralität. Viel zu
viele traditionelle Enzyklopädie-Artikel machen einen halben Schritt,
um Einseitigkeit zu vermeiden, aber enden damit, die eingeschränkte
Perspektive des Autors und einer kleinen Zahl von Prüfern und
Redakteuren zu spiegeln. In Wikipedia müssen Texte, die überleben, die
genaue Prüfung durch Hunderte überleben.
Wie offen ist der Redaktionsprozess bei Wikipedia wirklich? Wer
entscheidet letztlich darüber, was veröffentlicht wird, und welche
normalen Publikationsverfahren gibt es? Welche Inhalte werden,
abgesehen von deutlich erkennbarem Spam, zensiert - und aus welchem
Grund?
Jimmy Wales: Der Redaktionsprozess ist so offen, dass die meisten
Menschen dies nicht glauben, wenn sie zuerst davon hören. Jeder kann zu
jedem Artikel auf der Website gehen, auf "edit this page" klicken und
gleich eine Veränderung vornehmen, ohne sich einloggen oder etwas
anderes machen zu müssen. Die Veränderung wird in dem Text sofort
wiedergegeben. Danach taucht die Veränderung auf der Seite "Letzte
Änderungen" auf und wird von jedem überprüft, der das gerade sieht.
Normalerweise beobachten das sehr viele Menschen. Man kann sich auch
einloggen, um Artikel seiner persönliche "Beobachtungsliste"
hinzuzufügen, die eine zusätzliche Möglichkeit der Qualitätskontrolle
bietet.
J.J.King sagt in seinem Artikel über Openness And Its
Discontents [10], dass in jeder "offenen" Bewegung Körperschaften einer
"weichen Kontrolle" entstehen, die strenger und undurchsichtiger als
normale Körperschaften der Entscheidungsfindung sein können. Ist das
auch ein Problem für Wikipedia?
Jimmy Wales: Ich weiß nicht, ob ich dem zustimmen kann oder nicht.
Natürlich gibt es in Wikipedia Körperschaften einer "weichen
Kontrolle". Aber alles, was wir machen, ist offen, öffentlich und
extrem geräuschvoll (lacht). Wir sprechen über alles intern und wir
richten unsere Aufmerksamkeit immer darauf, sicher zu stellen, dass wir
fair und transparent sind.
Was ist Ihre persönliche Aufgabe bei Wikipedia und der Stiftung?
Jimmy Wales: Ich bin der Präsident der Stiftung, und in dieser
Funktion spreche ich meist mit Journalisten (wie mit Ihnen) und arbeite
an den geschäftlichen Zielen. Beispielsweise sind wir damit
beschäftigt, einen deutschen Verein und eine entsprechende französische
Organisation aufzubauen. In der Gemeinschaft trete ich als Schlichter
von Streitigkeiten und als "konstitutioneller Monarch" in unseren
internen Entscheidungsfindungsprozessen auf. Das bedeutet meist, dass
ich Menschen darin bestärke, Möglichkeiten des Handelns zu finden, die
alle glücklich machen.
Arbeiten Sie noch an weiteren Projekten in diesem Bereich?
Jimmy Wales: Ich arbeite vor allem an dem Projekt, alles, was ich in
der Wikipedia-Gemeinschaft gelernt habe, beim Aufbau und bei der
Wartung einer Suchmaschine ( Wikia [11]) anzuwenden. Dieses Projekt
ist allerdings erst in einem sehr frühen Stadium der
Software-Entwicklung und noch nicht für Werbung reif (lächelt).
Können Sie ein paar Hinweise geben, wie Wikia funktioniert? Können Sie
die Arbeit daran mit Nutch [12] vergleichen?
Jimmy Wales: Das ist wirklich überhaupt nicht mit Nutch zu
vergleichen. Die Idee ist, ein System zu haben, mit dem die Menschen
die Suchergebnisse nach einer Wiki-Art bearbeiten und auch die Wege
eines Spider kontrollieren können. Das Ziel ist dem von Nutch nicht
ähnlich, wo es mehr darum geht, das gesamte Web zu durchsuchen. Ich
denke, die beste Möglichkeit, dies zu erklären, ist ein Vergleich von
Google mit dmoz [13]. Wikia wird eher so wie dmoz sein, aber nicht als
geschlossener Club, sondern offen, transparent und auf Wiki-Ideen
basierend.
Wer zahlt denn die Rechnungen für die Server-Kosten und übernimmt die
übrigen Kosten für Entwicklung und Betreuung?
Jimmy Wales: Wir sind eine nichtkommerzielle Organisation, die von
Spenden abhängt. Entwicklung und die Betreuung der Server werden von
den freiwilligen Mitarbeitern geleistet. Ich zahle für die
Bandbreitenkosten. Ich versuche, so viele Ausgaben wie möglich
persönlich abzudecken, so dass die Spendengelder so direkt wie möglich
für die wichtigen Ausgaben wie zusätzliche Serverkapazitäten eingesetzt
werden können.
Wikipedia-Artikel werden unter der GNU Free Documentation
License [14] lizenziert. Können Sie kurz erklären, was dies für die
Autoren bedeutet. Haben Sie auch darüber nachgedacht, eine Creative
Commons License ( CC [15]) zu verwenden?
Jimmy Wales: Als wir begonnen haben, kannte ich die
Creative-Commons-Lizenz nicht. Ich bin nicht sicher, aber ich glaube,
wir hatten bereits begonnen, bevor die geeignete CC-Lizenz formuliert
wurde. Die wichtigen Punkte für diejenigen, die sich mit freien
Lizenzen nicht auskennen, sind: Jeder kann ohne Gebühren oder ohne jede
Kosten unsere Inhalte nehmen, sie nach Belieben verändern und weiter
veröffentlichen. Die einzige Einschränkung ist, dass sie ihre eigenen
Abänderungen unter derselben Lizenz veröffentlichen müssen. Die
Lizenzierung ist für den Erfolg des Projekts entscheidend: Unsere
freiwilligen Mitarbeiter würden ihre Zeit und Energie keinem
proprietären Produkt schenken wollen.
Betrachten Sie Wikipedia als Erfolgsmodell für andere Bereiche des
Open Content und für die Zusammenarbeit im Internet allgemein?
Jimmy Wales: Ja, unbedingt. Ich glaube, das ist etwas ganz
Wunderbares, das wirklich in den nächsten Jahren stark zunehmen wird.
Ich glaube, wir werden eine grundlegende Veränderung im Publizieren
beobachten können, wenn die Verleger erkennen, dass proprietäre
Content-Modelle in der Welt des Web nicht funktionieren. Man braucht
nur die Benutzung von Britannica und Wikipedia [16] zu vergleichen.
Nach Alexa hat Wikipedia 6,5 mal mehr Benutzer als die Britannica,
unser schärfste Konkurrentin. Sie haben seit Jahren darum gekämpft, im
Internet erfolgreich zu sein, aber sie haben nicht den Grund ihrer
Probleme erkannt: ein Lizenzmodell, das für das neue Zeitalter nicht
geeignet ist.
Links
[1] http://en.wikipedia.org/wiki/Main_Page
[2] http://wiki.org/wiki.cgi?WhatIsWiki
[3] http://en.wikipedia.org/wiki/Main_Page#Wikipedia_in_other_languages
[4] http://de.wikipedia.org/
[5] http://en.wikipedia.org/wiki/User:Jimbo_Wales
[6] http://en.wikipedia.org/wiki/User:Larry_Sanger
[7] http://www.jimmywales.com/
[8] http://www.bomis.com/
[9] http://www.brockhaus.de/
[10] http://gig.openmute.org/modules/wakka/PacketGang
[11] http://www.wikia.com/
[12] http://www.nutch.org/
[13] http://dmoz.org/
[14] http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html
[15] http://creativecommons.org/
[16]
http://www.alexa.com/data/details/traffic_details?&range=2y&size=medium&
compare_sites=britannica.com&url=http://www.wikipedia.org/#top
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