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Re: [ox] Re: Wissens- und/oder Informationsgesellschaft?



Hallo Liste, hi StefanM,

Stefan Merten <smerten oekonux.de> schrieb:

-----BEGIN PGP SIGNED MESSAGE-----

Hi Hans-Gert, StefanMz, Stephan, alle!

Wieder mal eine Multi-Antwort.
[...]

Wenn ich Wissen als rein individuelle Kategorie sehe
- - ich nenn das jetzt mal individuelles Wissen - dann gibt es gar kein
nicht-angeeignetes Wissen. Denn nur durch Aneignung - also durch den
Transfer in die Hirnwindungen - wird nach diesen Begriffsdefinitionen
Information zu Wissen.

Dem würde ich voll zustimmen! 
Dennoch hat es gute Gründe, warum verschiedentlich (u.a. von StefanMz) Wissen
als eine gesellschaftliche Kategorie bezeichnet wird. Dies hängt u.a. damit
zusammen, dass das Wissen in den Köpfen der Individuen größtenteils sozial
vermittelt ist (durch soziale Interaktion/ Kommunikation). Anders gesagt:
Soziale Interaktion - und damit im weitesten Sinne Gesellschaft - ist eine
zentrale Bedingung der Möglichkeit von Wissen (das es als solches dennoch nur
in den Köpfen der Individuen gibt). 
 
Mir scheint es
vielmehr sehr wichtig, die verschiedenen Positionen mal nebeneinander
zu stellen. Wäre nicht an allen was Richtiges dran, gäbe es nämlich
keine heiligen Kriege. Dazu andernmails (und evt. erst morgen) mehr.

DASS wir überhaupt in der Lage sind diese heiligen Kriege zu führen hängt
damit zusammen, dass wir uns - durch unsere Sozialisation - in Bezug auf
sinnlich (akustisch, visuell) wahrnehmbare Formen bereits in ausreichendem
Maße ähnliches Wissen angeignet haben. Dies versetzt und in die Lage,
miteinander zu kommunizieren und über Begriffe zu streiten.

WENN wir diese heiligen Kriege führen hängt dies jedoch auch damit zusammen,
dass wir, wenn wir INFORMATION sehen (oder die akustische Entsprechung hören),
dies bei uns voneinander abweichende Denkinhalte stimuliert. Dies stellt für
uns nicht zuletzt deshalb ein Problem dar, weil uns dies auf dem gemeinsamen
Weg zu neuer Erkenntnis  hinsichtlich der (...durchaus doppelsinnigen...)
Frage nach der "Bedeutung des Begriffs der 'GPL-Gesellschaft'?" zu
behindern scheint. 
Was versprechen wir uns von dieser Diskussion zum Informationsbegriff? 
=> Als Minimalziel sicherlich, dass wir verstehen was andere auf der Liste
jeweils meinen, wenn sie "INFORMATION" schreiben oder sagen - auch wenn wir
ihr Verständnis nicht unbedingt teilen. 
=> Als Maximalziel , dass wir am Ende der Diskussion alle auf der Liste
weitgehend dieselben Denkinhalte mit dem Wort "INFORMATION" verbinden. 

In beiden Fällen (in einem Fall mehr, im anderen weniger) hätte der Diskurs
(also die Kommunikation) dazu geführt, dass unser Wissen einander ähnlicher
geworden ist.   

Wie bemerkt geht es mir nicht darum um Worte zu streiten. Worte sind
für mich Hilfsmittel, um Begriffe zu bezeichnen - nicht mehr. Wenn
jemensch es "zwingend" findet das Wort Information an Menschen zu
ketten, dann würde ich das so ganz ohne Begründung für ein Dogma
halten - und ich mag keine Dogmen.

Es kann ja zweifellos Sinn machen, einen solchen, für mich
eingeschränkten Begriff von Information zu verwenden. Es muss dann
aber angegeben werden,

* in welchem Bereich die Einschränkung Sinn macht,

* wie andere Phänomene bezeichnet werden sollen, die ich erst mal
  unter Information subsummieren würde

Für mich hängt die Frage, (1) ob etwas eine Information ist, und (2) was für
eine Information etwas ist, schlicht vom Bezugssystem ab:
Es macht bereits einen großen Unterschied, wenn man zwei verschiedene Menschen
(bzw. ihre kognitiven Systeme) als Bezugssysteme annimmt. Dabei handelt es
sich einerseits zwar um den gleichen Typus eines Bezugssystems, weshalb die
Reize/Signale auf die selbe Art und Weise prozessiert bzw. "verarbeitet"
werden, andererseits wurden jedoch beide kognitive Systeme im Laufe der Zeit
aufgrund unterschiedlicher externer Reize/Signale jeweils unterschiedlich
konfiguriert. Dies hat zur Folge, dass beispielsweise für einen Chinesen
bestimmte Zeichen Informationen darstellen, für einen Europäer handelt es sich
bei den gleichen Zeichen jedoch keinesfalls um Informationen; für den
Schafhirten von der Schwäbischen Alb stellen bestimmte Daten als Ergebnis
eines Versuchs im CERN keinesfalls Informationen dar, für den Atomphysiker von
der Uni-Tübingen sehr wohl - umgekehrt sind für den Atomphysiker alle Schafe
"irgendwie" gleich, während für dem Schäfer ein bestimmtes Verhalten eines
seiner Tiere bestimmte Informationen liefern kann; für einen Geologen stellen
Steine Informationen dar, die für den BWLer nichts weiter sind als blöde
Steine usw. 
Noch deutlicher ist der Unterschied, bei unterschiedlichen Typen von
Bezugssystemen, wie etwa einem Computer und einem menschlichen kognitiven
System: Wenn wir hier auf dem Bildschirm das Wort INFORMATION "sehen", dann
impliziert dies, dass bereits komplizierte Transformationsprozesse abgelaufen
sind - das bewusste wahrnehmen des Wortes INFORMATION ist bereits das Ergebnis
komplexer neuronaler Prozesse (und eventuell Ausgangspunkt weiterer neuronaler
Prozesse, durch die dem wahrgenommenen eine Bedeutung zuordnet wird). Im
Computer laufen demgegenüber völlig ANDERE Transformationsprozesse ab, um aus
dem Umstand, dass ich auf der Tastatur des Computers die Buchstaben I, N, F,
O, R, M, A, T, I, O, N gedrückt habe, für das System etwas generiert werden
kann, das für das System irgendwie "informativ" ist. 
Schließlich ist eine DNS für das Bezugssystem "Zelle" IMMER auf eine andere
Art und Weise informativ wie es dieselbe DNS für das Bezugssystem
"menschliches kognitives System" der Fall ist. Dies wird sich auch durch
nichts ändern lassen... 

Also: alleine die Feststellung, bei einem bestimmten chemischen Verbindung
oder bei einer bestimmten Anordnung von Wellen mit bestimmten Frequenzen, oder
bei einer bestimmten Kombination aus "Strom/Nicht-Strom" handele es sich
jeweils um Information finde ich überhaupt nicht spannend. 

Damit wird deutlich, dass ich mich entweder fragen kann, 
(1)was alle diese Dinge gemeinsam haben, die für irgendein Bezugssystem eine
Information darstellen, oder 
(2) auf welche Weise etwas für einen bestimmten Typus eines Bezugssytems zur
Information werden kann; bzw. welcher Art die Beziehung zwischen einem
bestimmten Typus von Bezugssystem zu jenen Entitäten ist, die für dieses
Bezugssystem eine Information darstellt. 

[...]

 Mir
geht es vielmehr darum die vorfindlichen Phänomene zu erkennnen, zu
sortieren (aka Begriffsbildung) und im Hinblick auf die Oekonux-Themen
zu verstehen und weiter zu denken. Ob wir zu einem Phänomen jetzt
"Information" oder "Hutzliputzli" sagen ist mir dabei relativ egal -
so lange klar ist, was gemeint ist. Daran hapert's aber nach meiner
Wahrnehmung (sic!) noch gewaltig.

Genau. (siehe dazu auch oben).

[...]
 
4 months (149 days) ago Stephan Eissler wrote:
Stefan Meretz <stefan.meretz hbv.org> schrieb:
Zitiere Hans-Gert Gräbe <graebe informatik.uni-leipzig.de>:
1) Ich stimme Stephan Eissler zu, dass der Begriff einer
XY-Gesellschaft unter formationstheoretischen Gesichtspunkten nur
sinnvoll ist, wenn bei der Ausprägung der Semantik dieses Begriffs
(und darum muss es dann auch gehen) das qualitativ Neue der
aufkommenden Gesellschaft sichtbar wird. Erst auf _dem_ Hintergrund
gewinnt auch die ganze Keimformdebatte neben ihrer phänomenologischen
dann auch _inhaltliche_ Substanz.

Auch das reicht IMHO noch nicht hin, denn die verlängerte Frage lautet:
Neue Qualität - in Bezug auf welche Dimension?

Lass mich mal sagen: Eine neue Qualität in Bezug auf das Soziale. 

Für mich wäre die neue Qualität vor allem in der
Produktivkraftentwicklung. Diese wiederum hat dann mehr oder weniger
heftige Auswirkungen auf die Gesellschaftsform. Die GPL-Gesellschaft
wäre die heftigste.

Aber ist das nicht ein wenig zu allgemein?! Gut, dann nehmen wir eine
Dimension "D" durch die sich lediglich ein Teilaspekt des Sozialen (und damit
des gesellschaftlichen) bestimmt. Wenn es sich aber bei D um eine neue
Qualität handelt, und sich bei D um ein Teilaspekt des Sozialen handelt, dann
wird das qualitativ Neue doch zwangsläufig Auswirkungen auf andere Dimensionen
des Sozialen haben, die aufgrund dessen zwangsläufig nach und nach
rekonfiguriert werden müssen. 
Um zu verdeutlichen was ich meine, stelle ich mal Folgende Frage: In Bezug auf
welche Dimension stellt der Kapitalismus etwas qualitativ Neues im Vergleich
zum Feudalismus dar? Kannst du das auf eine einzige Dimension einschränken? 

Auch wenn ich mir deine Nachfrage ansehe, finde ich
Produktivkraftentwicklung immer noch einen wichtigen Punkt. In der
heraufziehenden Gesellschaftsform sind zwei wesentliche Parameter
hinsichtlich Information wesentlich verändert:

* Information ist von jeglicher Stofflichkeit abgelöst wie nie zuvor

  Das Internet ist dafür wohl die bekannteste Chiffre.

* Information kann in ihrer entstofflichten Form *direkt*
  operationalisiert werden

  Also insbesondere ohne Zwischenschalten von Menschen, die sich die
  Information erst aneignen müssten, also zu individuellem Wissen
  machen müssten, um die so gewonnene Kompetenz in Tätigkeit
  umzusetzen.

  Das ist historisch neu und ist auch eine Qualität, die über die
  Vergegenständlichung von Handwerks- / technischem Wissen in
  klassischen Maschinen hinaus geht.

Beide Phänomene haben durchschlagende Wirkung auf die
Produktivkraftentwicklung.

Und wo ich gerade so schön dran bin ;-) : Jede Begrifflichkeit, die
diese beiden Phänomene nicht adäquat reflektieren kann, halte ich für
die Debatte bei Oekonux wenig interessant.

Auch hier stimme ich dir zu. Allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: Die
adäquade Reflektion dieser beiden Phänomene halte ich zwar für eine NOTWENDIGE
Bedingung im Zusammenhang mit der Debatte bei Oekonux, jedoch nicht für eine
HINREICHENDE.
Zur Begründung muss ich kurz ausholen: Die Menschheit wurde schon früher Zeuge
umwälzender Veränderungen aufgrund technischer Innovationen im Bereich der
Informations- und Kommunikationstechnologien: Bei der Erfindung/Einführung der
Schrift und des Buchdrucks. Wir neigen heute zwar schnell dazu zu sagen, dass
die technischen Neuerungen und ihre Konsequenzen für 
(a) den Umgang mit Inforamtionen und in der Folge auch für 
(b) für die weitere gesellschaftliche Entwicklung 
damals nicht die selbe Qualität hatte wie im Falle der Digitalisierung. Diese
Meinung relativiert sich jedoch bei einer intensiveren Auseinandersetzungen
mit diesen Erfindungen und ihren Folgen.  
Wichtig in unserem Zusammenhang scheint mir nun, dass im Falle beider
Erfindungen dieselbe Technologie zum Teil sehr unterschiedliche soziale
Wirkungen entfaltet hat. Besonders im Falle des Buchdrucks kann man sagen,
dass er sich in Europa gewissermaßen als Katalysator für gesellschaftliche
Veränderungen erwiesen hat, während der Buchdruck in China wesentlich zur
Konservierung der herrschenden Verhältnisse und damit langfristig zur
gesellschaftlichen Degression beigetragen hat. 

Daher bin ich (im Übrigen mit dem Großteil der Techniksoziologie) der Meinung,
dass man von den Möglichkeiten, die eine neue Technologie bietet, noch lange
nicht auf deren letztendlichen gesellschaftlichen Auswirkungen (und damit auf
eine daraus resultierende Gesellschaftsform) schließen kann.  
Mir drängt sich hier der Vergleich mit dem Begriff der Industriegesellschaft
bzw. des Industriezeitalters auf, der ja durchaus seine Berechtigung hat, und
im Grunde vor allem auf die Technologie und ihre ALLGEMEINEN sozioökonomische
Konsequenzen rekurriert. Dabei lässt der Begriff der Industriegesellschaft
aber weitgehend offen, wie sich Gesellschaft letztlich zur technischer
Entwicklung verhält: Neben der kapitalistischen Gesellschaftsform schien ja
eine kommunistische durchaus denkbar; und selbst im Hinblick auf die
kapitalistische Gesellschaftsform gab/gibt es ja doch sehr unterschiedliche
Ausprägungen - angelsächsischer Kapitalismus, rheinsicher Kapitalismus sowie
eine skandinavische und japanische Form des Kapitalismus. 

Daher halte ich es für sehr sinnvoll in Analogie zur 'Industriegesellschaft
bzw. dem Industriezeitalter' von der 'Informationsgesellschaft bzw. dem
Informationszeitalter' zu sprechen. 
Eine mögliche Ausprägung einer Informationsgesellschaft wäre für mich dann die
Wissensgesellschaft (oder in einer extremen Ausprägung der Wissensgesellschaft
eben auch die GPL-Gesellschaft). Als Gegenpol zur Wissensgesellschaft wäre für
mich eine andere mögliche Ausprägung von Informationsgesellschaft das, was ich
in einem früheren Vortrag mal "digitalen Kapitalismus" bzw. "digitalen
Merkantilismus" genannt habe. 
Insofern würde ich stark dahin tendieren von "Wissens- UND
Informationsgesellschaft" zu reden, anstatt von "Wissens- ODER
Informationsgesellschaft".

Allen noch einen schönen Sonntag,
Stephan


-- 
Stephan Eissler
Institut für Politikwissenschaft
Lehrstuhl für politische Wirtschaftslehre
Melanchtonstraße 36
72074 Tübingen
Telefon 07071-309124


________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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