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[ox] 29.10. Workshop "Leben im Informationszeitalter" in Leipzig



Ein Kurzbericht meinerseits zu den Argumentationen von Frieder Otto Wolf
am 29.10. Ich hoffe, dass ich den Sinn einigermaßen korrekt wiedergebe.
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Oekonux-relevant sind vor allem seine Ausführungen zum Thema *Freie
Kooperationen*, die seinen Argumenten aus dem Aufsatz "Grenzen und
Schwierigkeiten der freien Kooperation" aus dem Spehr-Band bei Dietz
folgen, siehe
http://www.rosalux.de/cms/fileadmin/rls_uploads/pdfs/texte9.pdf

Das Hauptaugenmerk dieser Argumentation gilt der so nicht
zutreffenden These, dass die frei kooperierenden Menschen wirklich
freie Subjekte sind. Das "Postulat der gleichen Freiheit", welches
der Theorie freier Koop. zugrunde liegt, ist wichtig, aber eben nur
ein Postulat. Genauer: Menschen sind *materielle Subjekte*, in denen
Aspekte des Selbst und des Seins in einem Umfang miteinander
verwoben sind, so dass jede einseitige Betrachtung von Menschen - ob
nun primär als empfindendes Wesen oder primär als Rechtssubjekte -
eine empfindliche Reduktion von Komplexität darstellt und wichtige
Aspekte der Motivationsgenese ausblendet.

Ein zweiter Argumentationszweig beschäftigte sich mit der Natur von
Bifurkationen und Alternativen in der historischen Entwicklung, etwa
1848/50, 1917/23, 1945/48, 1967/73.  Wolf betrachtet diesen "Fluss
des historischen Geschehens" als dynamisches System, wo Alternativen
als Möglichkeiten alternativer Entwicklungen historisch konkret
auftreten (es also keinen Sinn hat, diese Alternativen jenseits
ihres historischen Kontexts neu gehen zu wollen), wichtige
historische Entscheidungen meist knapp ausfallen, und in ihnen immer
eine konkrete Spezifik zum Ausdruck kommt (so dass sich diese
Alternativen von ihrem Wesen her nicht über einen Kamm scheren
lassen).

Ansätze, diese Bifurkationen zu verstehen, sind die Konzepte
"Produktionsweise", später "Regulationsweise" (Versuch der Lösung
aus politologischen Kurzschlüssen) sowie "Weltsystem" (Versuch
komplexe globale Abhängigkeiten in den Blick zu bekommen). [NB HGG:
ein weiterer Ansatz sind die Kondratjew-Wellen, die weitgehend mit
dem Ansatz der Regulationsweise übereinstimmen. Auf der BdWi-Tagung
in Werftpfuhl, Sept 2005, trug Bernd Röttger dazu vor und machte
deutlich, dass es viele "Theorien" der Regulationsweise gibt, diese
aber weder eine klare Zeitschiene noch definierte Basiskategorien
haben.  Die Theorie der Kondratjew-Wellen bleibt also in dem Kontext
weiter interessant.]  Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass sie die
Bifurkationen durch (je zu bestimmende) Proportionalitätsprobleme
ausgelöst sehen.

Ein dritter Argumentationszweig beschäftigte sich mit der Frage, wie
sich überhaupt Menschheit als menschliche *Gattung* herstellt.  Hier
laufen die ersten beiden Argumentationszweige zusammen.  Zunächst
ist eine *Subjektologie* erforderlich, die sich mit der "Art" der
Bausteine befasst, aus denen die Gattung besteht - insbesondere der
Konstituierung von Handlungsmotivation. Diese lässt sich weder
reduzieren auf Psychologie, Anthropologie, Psychoanalyse noch
Ideologietheorie. Handlungsmotivation der Subjekte ist wenigstens
durch die folgenden Felder geprägt:

* Subjektpositionen (die Art, wie sie angerufen werden können)
* Subjektdispositive (Gewissen, Bewusstsein, Selbstbewusstsein)
* Subjektfunktionen (Steuerung, Aufzeichnung ...)
* Subjektkapabilitäten (Aufmerksamkeit, Integrationsfähigkeit ...)

Schließlich ist das komplexe Wechselspiel zwischen Konstituante und
Konstitution auf all diesen Feldern zu berücksichtigen, so dass
Subjekte extrem komplex strukturiert sind.

Menschheit als Gattung konstituiert sich nun, indem diese Subjekte
miteinander in Wechselwirkung treten durch Verträge, Versprechungen,
Vereinbarungen, Verbindlichkeiten, Erwartungen, Hoffnungen usw.

Eine Form ist die *diskursive Gesellschaft*, in der Ausdiskutieren
als wichtiges Element eingesetzt wird. Das lässt sich aber mit dem
Zeitrhythmus des Handelns dann oft nicht in Einklang bringen, wenn
das Treffen von Entscheidungen zeitkritisch ist. Der diskursive
Charakter lässt sich durch nachträgliche Reflexion (Raisonnieren
nach dem Handeln) ein Stück weit hereinholen.

Da das nicht ausreichend leistungsfähig ist, gibt es Formen und
Instrumente, um Menschheit als Gesellschaft zu konstituieren.  Dies
geschieht etwa durch Formung entsprechender politischer
Aushandlungsinstrumente. Ein Traum der 68er war, die ganze Ökonomie
als Politik zu organisieren und so einer Aushandlung in allen
Details zugänglich zu machen. Das kann man zwar hochgradig
perfektionieren, ist aber trotzdem nicht leistungsfähig genug für
"real time" Prozesse.

Marktökonomien sind damit als Aushandlungsinstrumente, in denen die
Leistungsfähigkeit für zeitkritische Prozesse weiter verbessert ist,
auch für klassenlose Gesellschaften in einzelnen Bereichen nicht
obsolet.  Auch hybride Formen (Marktökonomien mit Planungselementen)
sind denkbar.

Ökonomien sind dabei Gestaltungsmittel von Politik. Politik muss
leisten:
* Leitplankenfunktion
* Grenzinstitutionen (Grundeinkommen, Grundversorgung, Universaldienste)
* Regel-Ausnahme-Verhältnisse behandeln

Und Politik, insbesondere in den ökonomisierten Bereichen, muss
durch ein dauerndes "Meta-Palaver" über die Angemessenheit der
aktuellen Ausprägung dieser Aushandlungsinstrumente begleitet
werden.

HGG

-- 

  Prof. Dr. Hans-Gert Graebe, Inst. Informatik, Univ. Leipzig
  Augustusplatz, D-04109 Leipzig, Raum 5-53	
  tel. : [PHONE NUMBER REMOVED]
  email: graebe informatik.uni-leipzig.de
  Home Page: http://www.informatik.uni-leipzig.de/~graebe

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