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[ox] Nichtkommerzielle Landwirtschaft



Hi Liste!

Vor ein paar Monaten ist ein Freund auf mich zugekommen, der Kontakte
zu einem Projekt in Templin (~80km nördlich von Berlin) hat. In dem
Projekt, das den schönen Namen "Lokomotive Karlshof" trägt, geht es um
nichtkommerzielle Landwirtschaft und die Leute dort hatten den Wunsch
geäußert, aus dem Oekonux-Umfeld Feedback zu ihrem Projekt zu
bekommen. Natürlich würden sie sich auch über praktische Hilfe und
anderes Engagement freuen.

Es scheint in diesem Projekt durchaus ein gewisses Bedürfnis nach
theoretischer Untermauerung des eigenen Tuns zu geben. Ich zitiere mal
eine Passage aus einer Postille, die nach dem letzten Sommertreffen
raus gekommen ist:

  Kontrovers diskutiert wurde der Text von Christoph Spehr zur freien
  Kooperation anhand einer angenehm übersichtlichen Zusammenfassung.
  Danach haben wir uns mit den Gegenbildern zur Expo 2000 anhand eines
  Interviews mit den AutorInnen und auszugsweise am Originalheft
  auseinandergesetzt. Kurz zusammengefasst wird darin auf einer
  marxistischen Darstellung der Produktivkraftentwicklung und einer
  wertkritischen Gesellschafts- also Kapitalismusanalyse die positive
  Utopie einer nicht unter dem Verwertungsdiktat stehenden Kooperation
  von Individuen und Gruppen entwickelt. Ansätze für die konkrete
  Umsetzung sehen die AutorInnen in Versuchen zu einer nicht
  warenförmigen Produktion und Kooperation. Die vorbereitenden
  Diskussionen im kleineren Rahmen führten zur Erarbeitung eines
  Schaubildes, welches das gesellschaftspolitische Spannungsfeld
  darstellt, in dem sich eine nichtkommerzielle Landwirtschaft bewegt.

Wie ersichtlich sind hier mindestens in den Debatten auch
Berührungspunkte zu Oekonux-Thesen bzw. Oekonux-Diskussionen zu
finden. Als ein Interesse wurde die Übertragung der Prinzipien der
Freien-Software-Entwicklung auf materielle Güter genannt.

Ich habe mich danach an StefanMa gewandt, dem zu diesem Thema auch
noch Till und UliW eingefallen sind. Alle drei haben Statements zu
diesem Projekt abgegeben, die wir hiermit veröffentlichen wollen. Ich
füge die mal als Zitat hier ein.

Stefan Matteikat wrote:
Meine eigene Erfahrung beruht vor allem auf der Bekanntschaft mit der
ungarischen Subsistenzwirtschaft, die, da es dort nie - auch nicht in
den Jahren des Realsozialismus - eine mit dem deutschen (egal, ob Ost
oder West) Sozialsystem vergleichbare soziale Sicherheit gab, auch heute
noch von existentieller Bedeutung ist. Das heißt, die Leute in der Gegend, in
der ich war, kennen keinen Sonntag und sind von morgens um fünf bis
Abends um acht auf den Beinen, ein bißchen Fernsehen vielleicht, wenn
einem nicht die Augen zufallen, und das war's dann auch. Außerdem sind
diese Gesellschaften, in denen ich sehr vieles von der Wirtschaftsweise
vorfand, die Christoph Spehr (wie auch Michel Bouwens auf [ox-en]) als
"reziproken Austausch" bezeichnet, notwendig sehr restriktiv. Kein sehr
vielversprechendes Zukunftsmodell jedenfalls. (Wobei man hinzufügen
muß: die Ungarn sehen das naturgemäß etwas anders; insgesamt scheint
sich hier allerdings die These von Wolf Göhring zu bestätigen.)

Die andere Spur, die ich hier in Mecklenburg-Vorpommern verfolge, sind
die Agrargenossenschaften. Viele alte Leute, mit denen ich gesprochen
habe und die aus vergleichbaren Verhältnissen kommen, wie ich sie eben
geschildert habe, betonen immer wieder, wie wichtig solche Sachen wie
Urlaub, (Sonntage...) usw, sind, die erst durch die Genossenschaften
ermöglicht wurde und unter Umständen mit dazu beitrugen, daß es sie bis
heute gibt. Auf meine Frage, welche Perpektiven die Genossenschaften
haben, wurden mir jedoch viele Gründe genannt, die dazu führen müssen,
daß auch die Restbestände innerhalb von einigen Jahrzehnten in den
Kapitalismus assimiliert werden. Überraschend war jedoch, daß mir Leute,
die noch nicht sehr viel mit dem Internet und den heutigen technischen
Mitteln gearbeitet haben, bestätigten: ja, Transparenz mit Hilfe dieser
Mittel könnte eine Möglichkeit sein, diesen Prozeß aufzuhalten

In den vergangenen Jahren sind zudem nach meinen Beobachtungen recht
gute Voraussetzungen herangereift, um ein solches Projekt - Stichwort
nichtkommerzielle Lieferketten - angehen zu können (z.B. Ansätze von
Open-Source ERP, Verbreitung von Funknetzen etc.).  Ich weiß nicht, ob
eine derartige Verbindung machbar ist, aber die Bremer liegen
gewissermßen am anderen Ende der Lieferkette und verfügen über einen
sehr detaillierten Anforderungskatalog, was die Art und Weise der
Produktion der von ihnen verbrauchten Güter betrifft - unklar ist mir
allerdings noch, wie es mit der (unumgänglichen) Rückmeldung an die
Produzenten aussieht. Alles in allem ist die Idee einer  Herstellung der
Verbindung Oekonux AG - Uhle - Karlshof zwar ziemlich verwegen, aber
eine auf lange Sicht - und hier rede ich von etlichen Jahren,
kurzfristig werden wir keine sichtbaren Ergebnisse erzielen - sehr
sinnvolle Aufstellung, um eine Vernetzung derartiger Ansätze zu Stande
zu bringen und damit z.B. eine Simulationsgrundlage für ein "Open Source
ERP" zu schaffen, in welchem "Kosten" in ganz anderer Weise aufgefaßt
werden können (und müssen), als heute üblich.

Till Mossakowski wrote:
Allerdings bin ich mir auch nicht ganz sicher, was ich davon halten
soll. Unsere Erfahrung aus Bremen und Bruchhausen-Vilsen ist:
Es ist unglaublich schwer, mit einem Bauernhof am Hacken einen
Ansatz zu verfolgen, der über das warenproduzierende System hinausweist.
Wir haben den Versuch aufgegeben, einen eigenen Bauernhof zu betreiben,
weil es uns immer wieder zu Marktmechanismen geführt hat (oder
aber zu einer Subsistenz-Romantik, die nicht finanzierbar war und auch
nicht zu einem gesellschaftlichen Ansatz geführt hat).
Wir haben deshalb unsere Strategie geändert.
Konkret wollen wir uns z.B. einen vollautomatischen Kuhstall in der
Nähe von Oldenburg anschauen, weil das eine sanfte Technologie
sein könnte, die menschliche Arbeit reduziert (im Sinne der
Oekonux-Diskussion). Erfahrungsgemäß sind viele zukunftsfähige
Technologien aber von kleinen Alternativprojekten gar nicht
finanzierbar.
Deshalb ist unsere Strategie nun, mit bestehenden Bauernhöfen
zu kooperieren und die Produktionsbedingungen zu untersuchen,
inwieweit sie einer zukunftsfähigen Produktion entsprechen
und/oder umgebaut werden müssten, und auch ab und zu mal einen
Bauernhof besuchen, der unseren Lebensmittel-Laden beliefert
(der Lebensmittel-Laden funktioniert intern übrigens ohne
Geld und Waren!)

Aber wir haben nur erste Kontakte und noch keinen Bauernhof
(wieder) besucht. wohl auch weil wir nach dem Verkauf unseres eigenen
Bauernhofs vor zwei Jahren erstmal etwas Abstand gewinnen wollten.

Uli Weiss wrote:
Meine Erfahrungen hier im Haus (die Uhle) und mit unserern
Beziehungen nach Prenzlau sind nicht allzu groß (im Verhältnis zum
Karlshof etwa) und außerdem sehr ernüchternd.

Leute aus dem Haus hier sind dorthin gezogen, betreiben etwas
Selbstversorgungslandwirtschaft, an der wir hier partizipieren.
Einige Verwandte aus Berlin haben dort direkt
daneben auch noch ein Feld gekauft. Da passiert aber nicht allzuviel.

Dazu müsste Ihr wissen: Die Uhle wie das Anwesen bei Prenzlau sind
zunächst aus recht pragmatischen Gründen zustandegekommen.

Leute, die seid Jahren miteinander gut können, haben sich "nur" ihre
Existenzmöglichkeiten erleichtert und den Reichtum ihrer
menschlichen Beziehungen erweitert.

Auf unserem Feld wäre ein größeres gemeinsames Projekt möglich
gewesen - so meine und einiger anderer Leute Vorstellung.

Ich sehe diese Geschichte inzwischen als schon im Ansatz gescheitert an.

Was war los?:

1. Es gab extrem unterschiedliche Vorstellungen, was dort
   (an-)gebaut und getan werden sollte.

2. Es gab keine Chance - trotz eigentlich guter Voraussetzungen, die
   unterschiedlichen Verhältnisse und Möglichkeiten der potentiell
   Beteiligten sind allen gut bekannt.

   Es gab und gibt auch den Wunsch, einen gemeinsamen Ort zu schaffen.
   Doch es gab keine Möglichkeit - trotz Moderation durch eine mit uns
   verbundene Architektin - über unterschiedliche Bedürfnisse überhaupt
   ernsthaft zu reden, geschweige denn ein gemeinsames Projekt daraus zu
   entwickeln.

3. Es gab keine Chance (ohne dies geht 2. auch nicht), sich
   wenigstens über einige überschaubare gesellschaftliche Entwicklungen
   zu verständigen, damit über existentielle Notwendigkeiten, denen
   wir mehr oder weniger schon längst ausgesetzt sind bzw. es in
   absehbarer Zeit ausgesetzt sein werden.

4. Es zeigt sich, dass auch hier in der Uhle der Kern, um den herum
   sich die Gemeinschaft bildet, nicht solche gemeinsamen
   Punkte/Auffassungen (zu 1.-3.) sind, sondern mehr unmittelbare
   menschliche Anforderungen, Verpflichtungen und entsprechender Spaß
   am Leben: Kurz die Gemeinschaft konstituiert sich wesentlich herum
   um die recht zahlreichen Kinder und deren existentiellen
   Notwendigkeiten und überschaubaren günstigen
   Entwicklungsmöglichkeiten.

Dann spielt auch noch die notwendige Sorge für die (Ur-)Gromutter
eine Rolle. Alles gute und wichtige Dinge. Doch viel mehr eben
nicht. Und das langst nicht für ein solches Projekt.

Nun ist es so, dass reale (absehbare, aber von einigen "tapfer"
ignorierte) Entwicklungen (Hartz IV usw.) dem Denken und der
Bereitschaft, doch über gemeinsame Bedürfnisse zu reden auf die
Sprünge helfen. Trotzdem sind wir weit davon entfernt, das notwendige
gemeinsame geistige Band zu entwickeln. Wo so etwas aus unmittelbarem
äußeren Zwang zustande kommt, nicht aber aus Spaß an der Freude, wo
das eigene gemeinschaftsdienliche Schöpfertum und ein menschliches
Aufeinandereinlassen nicht wirklich ein Bedürfnis ist oder wird,
sehe ich keine guten menschlichen, Voraussetzungen.

Dies gewollte Aufeinandereinlassen, die sozusagen tragfähige Lust am
Leben, ist etwas anderes bzw. viel, viel mehr, als die sehr
verbreitete Eventkultur, die auch bei uns immer mal viele Leute
zusammen bringt. Doch auf dieser Basis lassen sie sich kaum wirklich
aufeinander ein. Viele kommen sich da sehr originell bzw. alternativ
vor.

Eigentlich aber ist es tödlich langweilig und nichts als Mainstream.

Aus diesen Erfahrungen heraus schätze ich alle solche Versuche sehr,
in eine ernsthafte, nicht auf Verwertung orientierte Kooperation zu
kommen.

Mir geht es um die Mentalitäten, die dafür Voraussetzungen sind bzw.
die dabei entstehen. Einsichten, Gefühle, Fähigkeiten, Wissen -
alles subjektive Bedingungen, ohne die andere Formen von
Vergesellschaftung als die über die Verwertung, über Reproduktions
von Herrschaft nicht denkbar sind. Jede Praxis, in der wenigstens in
Keimen bzw. partiell versucht wird, die Existenz und die Kooperation
nichtkommerziell, nicht in der herrschenden Rechtsform usw. zu
sichern, hat meine Hochachtung.

Nur - wie Stefan Matteikat beschrieb - alle solche Aufbruchsversuche
werden immer wieder vom Verwertungszwang aufgerollt (wenn sie nicht
subventioniert werden und genau dies geht unvermeidbar zu Ende)..

Das sehe ich auch so - jedenfalls vorerst. Dem mit
Bedürfnislosigkeit und ungeheurer Selbstausbeutung zu begegnen, kann
kein erstrebenswertes Ziel und auch kein vorübergehendes Mittel
sein, ins Reich der Freiheit zu kommen.

Trotzdem, in dem Maße wie die Zumutungen des Kapitalismus wachsen
(blankes Elend bis hin zu "Luxus"-Protest gegen die Beleidigungen
des Schöpfertums, denen etwa lohnarbeitende Software-Produzenten
ausgesetzt sind und die ihre vorläufige Lösung etwa im Engagement
für Linux findet) werden Menschen immer wieder und hoffentlich immer
mehr zu solcher Suche nach anderen Möglichkeiten der Existenz und
der Selbstbestätigung tendieren.

Das konkrete Scheitern solcher Projekte beweist doch nicht, dass
eine nichtwertförmige Vergesellschaftung nicht möglich und nicht
wünschenswert ist. Es verweist vielmehr auf die allgemeinen
gesellschaftlichen Bedingungen,mit denen massenhaft gebrochen werden
müsste, sollen solche Formen nachhaltig möglich werden und eine
ganze Gesellschaft tragen können.

Das deutlich zu machen, ist auch eine Aufgabe von Theorie. Nicht das
Scheitern von Projekten ignorieren oder nur beklagen, sondern die
Bedingungen und möglichen Formen des Erfolges erfassen.

Theorie als kritische Begleitung solcher Projekte. Darum geht's.

Diese Theorie muss in diesem Sinne höchst praxisbezogen sein.

Sie muss aber auch bereit sein zu höchster Abstraktion
(abstrakt-konkret wie unsere Hegel-Fans hier sagen würden). Wir
müssen uns wagen, den Bruch mit der jetzigen Form der
Vergesellschaftung wirklich zu denken. Wir dürfen uns nicht von der
Tatsache irre machen lassen, dass entsprechende Projekte immer
wieder scheitern, und dass wir mehr oder weniger alle (noch) von
einer (noch, doch zunehmend mehr schlecht als recht)
funktionierenden kapitalistischen Warenproduktion leben (auch die
Alimentierten tun das, Existenzgeld ist mitnichten eine Loslösung
davon, sondern dessen Bestätigung).

Ihr seht, mich treiben nach wie vor unsere WiK-Wak-Gegensätze hier.

Also, für mich ist Karlshof usw. ist alles andere als Unsinn. Ich
bin hier aber wohl mehr der Neugierige als der, der große
Erfahrungen einbringen und praktische Kooperationen anbieten kann.

Damit wäre von Oekonux- und Umfeldseite schon mal ein Feedback gegeben
- auch wenn es sehr pessimistisch ist. Aber auch so etwas kann ja
nützlich sein, wenn es hilft die nächste Enttäuschung zu vermeiden.

Na, vielleicht fällt euch ja noch mehr dazu ein.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

--
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________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: http://www.oekonux.de/projekt/
Kontakt: projekt oekonux.de



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