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Re: [ox-de] Frithjof Bergmanns Freiheitsbegriff



Hi StefanMz, ChristianS, alle!

2 days ago Stefan Meretz wrote:
Den meisten hier ist wahrscheinlich Frithjof Bergmanns Konzept der Neuen
Arbeit [http://de.wikipedia.org/wiki/New_Work] ein Begriff. Auch wenn
dieses Konzept sicher noch nicht das Gelbe vom Ei ist (weil es weder
den Markt noch die Verherrlichung der Arbeit hinter sich lässt),

Für mich sieht es auch in einiger Hinsicht wie ein Reparaturbetrieb
für den niedergehenden Kapitalismus aus. Das kann's nicht sein.

    * Freiheit ist nicht absolute Unabhängigkeit.

Ja. Absolute Unabhängigkeit ist zwar die bürgerliche Ideologie von
Freiheit, absolute Unabhängigkeit schneidet aber das gesellschaftliche
Wesen Mensch von seinen Wurzeln ab. Sie reduziert das Individuum auf
eine Monade. Das kann nicht richtig sein.

Absolute Unabhängigkeit ist zudem letzlich nur mit einer totalen
Selbstversorgung erreichbar. Insofern sind auch alle Bestrebungen, die
vorwiegend auf Selbstversorgung gerichtet sind, immer mit Vorsicht zu
genießen. Dazu gab's kürzlich auch mal einen Thread auf [ox-en].
Möglicher Einstiegspunkt z.B.

      http://www.oekonux.org/list-en/archive/msg03264.html

Von etwas abhängig zu
sein, womit man sich identifiziert, wird nicht als Einschränkung der
eigenen Freiheit empfunden (eine Freie-Software-Entwicklerin hält sich
von sich aus an die GPL [http://www.freie-gesellschaft.de/wiki/GPL]
bzw. die vier Freiheiten
[http://www.freie-gesellschaft.de/wiki/Vier_Freiheiten], ohne sich
dadurch weniger frei zu fühlen).

Was hier als Identifikation bezeichnet wird, würde ich - etwas
abgeschwächt - als nicht-entfremdetes Verhältnis bezeichnen.

Bei Freier Software - und auch bei anderen Freien Projekten wie
OpenAccess oder Wikipedia - ist es ja nicht so, dass mensch sich
gleich mit allem identifizieren muss, was andere konkret machen.
Dennoch beruht die Arbeit einer Freien-Software-EntwicklerIn
eigentlich immer auf der Arbeit anderer
Freier-Software-EntwicklerInnen. Hier sind die anderen und deren
Wirken eine Erweiterung der eigenen Freiheit und nicht eine
Beschränkung.

Die bürgerliche Ideologie - und auch z.B. Sarte soweit ich von ihm
weiß und ihn verstanden habe - betrachtet die anderen immer nur als
Begrenzung, als Einschränkung der eigenen Freiheit. Das ist aber im
täglichen Leben schon nicht überall so und bei Freien Projekten sehen
wir das nochmal deutlicher und auf einer Ebene von
Produktivkraftentwicklung. Letztlich ist diese Ideologie die
Wiederspiegelung der Ideologie der Knappheit in ein ideologisches
Konstrukt auf anderer Ebene.

Auf dem Weg zur GPL-Gesellschaft gehört es deswegen m.E. zu einem der
wichtigeren Bausteine, die anderen als Erweiterung der eigenen
Freiheit sehen zu lernen - und nicht als Begrenzung. Oder anders
gesagt: Sich auch dieses bürgerliche Ideologem aus dem Kopf zu
schlagen.

      Zudem ist Einflussnahme noch keine Manipulation (wie manche
Medienkritiker/innen zu denken scheinen). Wir lassen uns immer durch
andere beeinflussen und beeinflussen unsererseits die anderen; ein
Mensch, dem diese ideelle Interaktion mit anderen fehlt, ist
wahrscheinlich schon tot.

Na ja, da gibt es aber schon deutliche Shades of Grey...

    * Sie besteht auch nicht darin, eine Wahl zu haben:

Das ist in der Tat das neuere bürgerliche Ideologem. In Deutschland
gab es hier von konservativer Seite in den 1970ern genau diesen
(erfolgreichen) Versuch Verschiebung des Freiheitsbegriffs auf die
Freiheit der (Aus)wahl (aus Vorgegebenem) - nachdem die Linke mit
einigem Erfolg eben einen weiteren Freiheitsbegriff etabliert hatte.

Solche Wahlfreiheit ist zwar schon mal nett, aber z.B. bei Freier
Software habe ich eben auch die Möglichkeit mir auch eine individuelle
Lösung zu stricken - sei es über eine entsprechende Konfiguration, sei
es notfalls über einen Eingriff ins Programm. Dies ist ein anderer Typ
Freiheit als die Wahlfreiheit. Die Mittel für Handlungsfreiheit
allgemein stehen mir hier zur Verfügung.

    * Sie ist nicht die Abwesenheit von Zwängen (dann wäre niemand
jemals frei, da man immer von Hindernissen und Zwängen umgeben ist).

Was hier wie auch schon bei der Unabhängigkeit durch schwingt ist
Grenzenlosigkeit als Begriff von Freiheit. Grenzenlosigkeit ist aber
für ein gesellschaftliches Wesen nicht denkbar. Grenzenlosigkeit
klappt nur für die Monade.

Während alle diese Konzepte auf die eine oder andere Weise übers Ziel
hinausschießen und echte Freiheit zu einer unmöglichen oder zumindest
sehr traurigen (wie im Falle totaler Autonomie) Sache machen würden,
identifiziert Bergmann eine gemeinsame Grundidee der verschiedenen
Konzepte: "Eine Handlung ist frei, wenn der Handelnde sich mit den
Wesenselementen identifiziert, aus denen sie entspringt; sie ist
erzwungen, wenn der Handelnde sich von dem Wesenselement disoziiert,
das die Handlung erzeugt oder veranlasst." (S. 66)

Das ist für mich ziemlich genau die Definition für Entfremdung. Das
ist aber nochmal was anderes als Freiheit.

Freiheit besteht also nur dann, wenn Menschen Möglichkeiten haben,
herauszufinden, was sie wirklich wollen, und gemäß dieser Erkenntnis zu
handeln - ein Ansatz, der interessante Parallelen zum Konzept der
Selbstentfaltung
[http://www.freie-gesellschaft.de/wiki/Selbstentfaltung] aufweist.

Ja.

Deshalb nützt es Bergmann zufolge auch wenig, wenn eine Gesellschaft
Institutionen organisiert, die Wahlfreiheit und Mitbestimmung zulassen
(wie dies etwa in der parlamentarischen Demokratie
[http://de.wikipedia.org/wiki/parlamentarische_Demokratie] der Fall
ist), solange diese Gesellschaft so eingerichtet ist, dass diese
Identifikation, diese Selbstentfaltung
[http://www.freie-gesellschaft.de/wiki/Selbstentfaltung], erschwert
oder verhindert wird. Dies macht begreifbar, warum viele Menschen,
trotz der nominellen Wahlfreiheit, heute nicht das Gefühl haben,
besonders frei zu sein: im Kapitalismus stehen sie fast immer unter dem
Zwang externer Umstände (wie dem Zwang, Geld zu verdienen), die ihren
realen Handlungsmöglichkeiten enge Grenzen ziehen und die es ihnen fast
unmöglich machen, herauszufinden und zu tun, was ihnen wichtig ist.

Hier läuft aber jemensch in eine Falle: Abwesenheit von Zwängen ist ja
wie oben dargelegt eben kein vernünftiger Freiheitsbegriff. Qualitativ
kann's das also nicht sein. Eine quantitative Bestimmung - soundsoviel
Zwänge machen unfrei - scheint mir müßig.

Bergmann betrachtet dabei eine Entscheidung nur dann frei, wenn man sich
nicht nur mit dem Resultat, sondern auch mit dem Prozess der
Entscheidung identifizieren kann - ohne diese Identifikation wird man
diese Entscheidung nicht als die eigene akzeptieren, selbst wenn man am
Ende vielleicht zum selben Ergebnis gekommen wäre (niemand kann anderen
vorschreiben, was gut für sie ist).

Wieso? Wenn ich mich mit der Vorschrift identifizieren kann, dann
gibt es doch kein Problem? Es kann ja ungeheuer entlastend, wenn ich
mir nicht um alles und jedes Sch...detail jeder Sache Gedanken machen
muss, sondern mir einfach von jemensch sagen lasse, wo es lang geht.

Eine Gesellschaft, die die Partizipation aller ermöglicht (d.h. eine
"Demokratie"), ist nicht (nur) freier, sondern auch effizienter als
eine, die das nicht tut. Diktatoren sind in vielen Fällen
ineffizienter, weil die Menschen sich nicht trauen, ihre Ideen und
Bedenken zu äußern, oder es ihnen an Motivation oder Möglichkeiten
fehlt, ihre Vorstellungen umzusetzen.

Hier wäre die Frage zu stellen, welcher Effizienzbegriff hier
verwendet wird. Je nach dessen Definition können dann die Ergebnisse
sehr unterschiedlich ausfallen.

Freie Software kann z.B. sehr schön unter Effizienzgesichtspunkten
hinsichtlich Innovation betrachtet werden. Da ist sie aus
verschiedenen Gründen unschlagbar. Aus dem schönen Buch von Eric von
Hippel "Democratizing Innovation" werde ich demnächst mal auf [ox-en]
zu dem Thema was schreiben. Ähnlich wie aber deutlich kürzer als

	http://en.wiki.oekonux.org/Oekonux/Research/SuccessOfOpenSource

Um diesen Vorteil voll ausspielen zu können, ist es wichtig, allen
Menschen bestimmte Grundrechte zu gewähren, um das Risiko von
Erniedrigungen und Unglücksfällen zu mindern und so sicherzustellen,
dass sich alle im weitestmöglichem Maße einbringen können - das Prinzip
der Gleichheit. Es gibt also rein pragmatische Gründe, die für
Gleichheit sprechen, ein Rückgriff auf metaphysische Begründungen ist
nicht notwendig. Aus demselben pragmatischen Grund, die möglichst
weitgehende Entfaltung des Potenzials aller Menschen zu ermöglichen,
kann sich eine Gesellschaft auch für gezielte Gegenmaßnahmen gegen
bestehende Ungleichheiten entscheiden (durch "Affirmative Action",
Quotenregelungen u.ä.).

Gleichheit (in diesem Sinne) steht also nicht zur Freiheit im
Widerspruch (wie gerne angenommen wird), sie ist vielmehr deren
Bedingung.

Ähnlich wie Freiheit ist Gleichheit erstmal ein sehr abstrakter
Begriff. Darüber hinaus ist Gleichheit sicher eine der zentralen
bürgerlichen Ideologeme und von daher mit Vorsicht zu genießen.

Tatsächlich sehen wir in der Freien Software eben oft auch
Ungleichheit - z.B. in den Fähigkeiten der Beteiligten, aber auch in
den Rollenverteilungen. Dort ist diese Ungleichheit sogar ein
wichtiger Motor.

Gleichheit scheint mir nach wie vor als Chancengleichheit wichtig -
dazu kann dann eben auch ungleiche Behandlung zählen. Als abstrakte
Gleichheit wird sie mir immer suspekter.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

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