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[ox-de] Copyright & Copyriot: Aneignungskonflikte



http://www.opentheory.org/immaterial_world_09/text.phtml

Erschienen in Streifzüge 39, April 2007 [http://www.streifzuege.org/]

Stefan Meretz

Copyright & Copyriot: Aneignungskonflikte

Sabine Nuss, PROKLA-Redakteurin, hat ihre Dissertation als Buch 
[http://wbk.in-berlin.de/wp_nuss/dissertation] veröffentlicht. Es 
handelt sich um ein Werk, um das die Debatte aktueller 
Entwicklungstendenzen im »informationellen Kapitalismus« (Zitate aus 
dem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet) nicht herum kommt -- 
leider bisher ohne größere Beachtung.

Die Autorin strukturiert ihr Buch in drei große Anschnitte. Im ersten 
Teil eröffnet sie das Szenario mit einer Beschreibung der aktuellen
Aneignungskonflikte rund um digitale Informationsgüter. Dabei 
konzentriert sie sich auf zwei divergente Praxen: File-Sharing und 
Freie Software. Zentrale Auseinandersetzung ist dabei die um das 
sogenannte »geistige Eigentum«. Nuss beschreibt die juristische und 
technische Aufrüstung, die betrieben wird, um das exklusive Eigentum 
digitaler Güter durchzusetzen.

Schwerpunkt und inhaltlich stärkster Bereich ist der zweite Teil des 
Buches, in dem die Autorin einen historischen Abriss über die 
Entstehung des Eigentums bis hin zum modernen bürgerlichen 
Eigentumskonzept gibt. Überzeugend zeigt sie, dass die traditionelle 
Geschichtsschreibung moderne Kategorien auf vergangene Praxen 
rückprojiziert und damit den realen vormodernen Verfügungsformen nicht
gerecht wird. Zentrale ontologisierende Behauptungen werden auf diese 
Weise von ihr dekonstruiert, etwa die Annahme, dass der Ausschluss 
Dritter seit jeher konstitutiver Bestandteil von Eigentum war. Statt 
einem Eigentumsrecht mit einem abstrakten Eigentumsbegriff und der 
strikten Trennung zwischen Bedürfnis und Sachverfügung, handelte es 
sich hingegen bei den vormodernen Formen eher um eine Art nicht 
exklusives materiales Eigentumskonzept (eigene Begriffswahl) mit
zahlreichen verwandtschaftlich oder religiös strukturierten Weisen der
Verknüpfung zwischen Bedürfnissen und Verfügungen über eine Sache.

Interessant ist die Koinzidenz zwischen den Ergebnissen von Nuss auf dem 
Gebiet des Eigentumsrechts und denen von Eske Bockelmann (»Im Takt des 
Geldes«) in seiner Untersuchung über die Taktwahrnehmung. Erst die 
Verallgemeinung der Waren- und Geldform als zentralem Element der 
sozialen Vermittlung setzte mit der Realabstraktion im Tausch den Takt 
als vom Material entkoppelten abstraktiven Taktrhythmus in der 
Wahrnehmung durch. Die überkommene materiale Taktwahrnehmung mit all 
ihren stofflichen und sozialen Bezügen überholte sich genauso wie eine 
verantwortungseingebundene materiale Eigentumsvorstellung. Reste davon 
scheinen in der leeren Floskel »Eigentum verpflichtet« noch heute
durch.

Doch während es Bockelmann gelingt, die zugrundliegende Transformation 
im gesellschaftlichen Stoffwechsel hin zur Verallgemeinerung des
Äquivalententausches als Ursache und Antrieb für die Veränderung in 
Wahrnehmung und Denken sichtbar zu machen, bleibt dies bei Nuss im 
Dunkeln. Grund für diese Leerstelle in der Argumentation ist der 
Eigentumsbegriff selbst. Mit dem Begriff »Eigentum« ist für die Autorin 
nämlich letztlich alles gesagt. Wo bei Marx noch der Wert 
die »gesellschaftliche Hieroglyphe« ist, ist es bei Nuss das Eigentum 
als rechtsförmige Fixierung dieser Hieroglyphe. Zwar erklärt die 
Autorin, Eigentum sei »keine Herrschaft über eine Sache«, sondern »eine
Beziehung zwischen Menschen bezüglich einer Sache ... ein soziales 
Verhältnis« (123f). Doch wo kommt sie aber her, diese »Beziehung«? 
Wodurch wird das soziale Verhältnis konstituiert? Diese Fragen stellt 
sich die Autorin nicht. Sie wähnt, mit dem Begriff des bürgerlichen 
Eigentums selbst schon den Schlüssel in den Händen zu halten.

In für mich irritierender Weise schreibt Nuss gleichwohl immer wieder 
von »Vergesellschaftungsform« oder »Vergesellschaftungsweise« und 
verweist gar auf die »Verwertung von Wert« als Prinzip, erklärt jedoch 
bis zum Schluss nicht, was sie darunter versteht. Erst beim erneuten 
Lesen fand ich den Grund für meine Irritation: »Bürgerliches Eigentum 
ist ... bestimmt als ein historisch-spezifisches Produktions- und 
Herrschaftsverhältnis, welches gekennzeichnet ist von der Trennung der 
unmittelbaren Produzenten von den Produktionsmitteln und der Verwertung 
des Werts als dominierender Zweck gesellschaftlicher Reproduktion« 
(177). -- Hier werden Eigentum und basale Vergesellschaftungsform 
verkehrt, denn umgekehrt wird ein Schuh draus: Nicht das »Eigentum« ist 
die basale Kategorie, deren Kennzeichen eine spezifische 
Vergesellschaftungsform ist, sondern die soziale Form der 
Vergesellschaftung über das Wertverhältnis als realabstraktive Praxis 
konstituiert das als Recht kodifizierte Verhältnis des abstrakten 
bürgerlichen Eigentums. Mit dem durch die Eigentumsbrille verengten 
Blick fallen in der Folge all jene Fragen aus, die sich auf das 
zugrunde liegende Wertverhältnis als der konstitutiven 
»gesellschaftlichen Hieroglyphe« beziehen könnten.

Daraus zieht die Autorin den Schluss, dass wer sich nicht in einem 
bewusstem politischen Akt gegen das bürgerliche Eigentum richtet, doch 
nur kapitalaffirmativ handelt. Den subversiven, ambivalenten und neue 
Möglichkeiten eröffnenden Charakter Freier Software- und 
Kulturbewegungen wird sie damit nicht gerecht. Im dritten Teil 
zu »Entwicklungstendenzen im informationellen Kapitalismus« lässt die 
Autorin folglich wenig gute Haare an Kritikerinnen und Kritikern 
des »geistigen Eigentums«, da diese nicht das bürgerliche Eigentum in
Gänze in Frage stellten und etwa mit freien Lizenzen gleichfalls das
Urheberrecht und damit das bürgerliche Eigentumsrecht nutzen würden.

Sabine Nuss hat ihre Rolle als Kritikerin euphorischer Projektionen 
neuer Entwicklungstendenzen im Informationskapitalismus erfüllt, und 
dabei gibt es eine Menge zu lernen. Wenn andere dazu tendieren, die 
sprengenden Momente eines Widerspruchs überzubetonen, dann steht sie 
für die entgegengesetzte Sicht: Alles, was im Kapitalismus geschieht, 
ist für diesen auch funktional. Dabei gerät jedoch gar nicht erst in 
den Blick, ob der Kapitalismus in seinen basalen Reproduktionsformen 
über Ware und Wert bereits Widersprüche erzeugt, die neue 
Handlungsformen eröffnen. Wer hier weitergehen will, dem sei die 
Ausgabe 31 der Zeitschrift krisis [http://www.krisis.org/] empfohlen.

  Sabine Nuss, Copyright & Copyriot. Aneignungskonflikte um geistiges
  Eigentum im informationellen Kapitalismus, Verlag Westfälisches
  Dampfboot, Münster 2006, 269 Seiten, 19,90 Euro.

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