Message 12843 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT12843 Message: 1/2 L0 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

[ox-de] Interview



Hi Liste!

Im Vorfeld der morgigen Veranstaltung in Bern hat Marina Bolzli ein
Interview mit mir geführt, dass ich euch nicht vorenthalten möchte.


						Grüße

						Stefan

=== 8< === 8< === 8< === 8< === 8< === 8< === 8< === 8< === 8< === 8< ===

Um dieses Interview war ich im Umfeld der `Tour de Lorraine 2010`_
gebeten worden. Interviewerin war Marina Bolzli, an die an dieser
Stelle mein Dank geht.

.. _Tour de Lorraine 2010: http://www.tourdelorraine.ch/index.php?id=45

Mit Hilfe von Computern den Kapitalismus ablösen
================================================

von Stefan Merten
-----------------

.. topic:: Abstract

   "So wie die mechanischen Erfindungen der Aufklärung Voraussetzung
   für die Entwicklung des Kapitalismus waren, so ist die Entwicklung
   von Computern Voraussetzung für das neue System", sagt Stefan
   Merten, Betreiber der virtuellen Plattform Oekonux, die sich der
   wissenschaftlichen Bearbeitung des Themas verschrieben hat. Das
   neue System heisst Peer Production und soll dereinst den
   Kapitalismus ablösen.

.. sidebar:: Infobox

   Stefan Merten betreibt die virtuelle Diskussionsplattform Oekonux,
   die er 1999 gegründet hat. Die Plattform hat sich dem Ziel
   verschrieben, Peer Production und dessen gesamtgesellschaftlichen
   Potentiale auf wissenschaftlicher Basis zu erforschen und zu
   verstehen. Oekonux besteht ausschliesslich aus Freiwilligen.
   Konkret gibt es einige Mailing-Listen, von denen die
   englischsprachige die wichtigste ist. Ausserdem gab es bislang vier
   internationale Konferenzen. Ein wichtiges aktuelles Projekt, das
   von Oekonux ins Leben gerufen wurde, ist ein wissenschaftliches
   Journal, das gerade in der Aufbauphase ist. Stefan Merten wird am
   Alternativenmärit am 23. Januar einen Workshop durchführen. Mehr
   Infos finden sich auf http://www.oekonux.org/

.. pull-quote::

   Stefan Merten, die Peer Ökonomie ist eine Weiterentwicklung der
   Freien Software auf andere Bereiche - aber was ist Freie Software
   überhaupt?

Freie Software ist auf zweierlei Arten frei: Erstens sind die Quellen
der Software verfügbar, veränderbar und weitergebbar. Diese
Verfügbarkeit der Freien Software hat zur Folge, dass sie in der
Praxis nicht verkauft werden kann, sich also nicht als Ware eignet.
Diese Freiheiten werden in der Regel durch spezielle Lizenzen
juristisch abgesichert.

.. pull-quote::

   Was ist die zweite Art Freiheit?

Auf der Seite des Produktionsprozesses ist es so, dass auch heute noch
Freie Software zu einem ganz erheblichen Teil von Freiwilligen
geschrieben wird. Von Menschen also, die für ihre Tätigkeit kein Geld
bekommen. Diese Freiwilligkeit ist ein ganz wichtiges Anzeichen dafür,
dass hier Selbstentfaltung stattfindet. Platt gesagt: Menschen tun
gesamtgesellschaftlich sinnvolle Dinge und haben Spass dabei. So sind
zum Beispiel Linux, aber auch Thunderbird, Firefox und OpenOffice
entstanden - das sind Programme, die heute auch von normalen
Windows-UserInnen problemlos angewandt werden können.

.. pull-quote::

   Inwiefern ist Freie Software also mit Ideologien verbunden?

Die kurze Antwort ist: Gar nicht.

.. pull-quote::

   Und die lange?

Die lange Antwort ist, dass sich mit Freier Software die
unterschiedlichsten Ideologien verbinden. Richard Stallman, einer der
Urväter Freier Software, ist im US-amerikanischen, linksliberalen
Sektor zu verorten. Eric S. Raymond, einer der Erfinder des Begriffs
"Open Source" gehört meines Wissens zu den Libertarians, die man am
besten als rechte AnarchistInnen beschreiben kann. Linus Torvalds, der
Erfinder von Linux, ist zwar sozialdemokratisch vorgeprägt, folgt aber
recht explizit keiner politischen Ideologie. Diese Haltung wichtiger
Köpfe der Community setzt sich in der Community ungebrochen fort. Auch
dort sind alle Ideologien zu finden. Diese Neutralität gegenüber
politischen Ideologien kann ein wichtiger Hinweis darauf sein, dass es
sich bei Freier Software eben nicht um ein politisches Projekt,
sondern um etwas anderes handelt. Viele TeilnehmerInnen der Plattform
Oekonux sind davon überzeugt, dass wir hier einen grossen Schritt in
der historischen Produktivkraftentwicklung live und in Farbe
beobachten können.

.. pull-quote::

   Wie sieht dieser Schritt aus? Welche Produktivkraftentwicklung?
   Erzählen Sie weiter.

Unter Produktivkräften versteht man das, was einer bestimmten
Gesellschaft und ihrer Produktionsweise an Möglichkeiten zur Verfügung
steht. Im Kapitalismus ist dies gegenüber früheren Systemen vor allem
die Möglichkeit industrialisierter Produktion mit all ihren
Konsequenzen wie z.B. Massengesellschaften. Von
Produktivkraftentwicklung sprechen wir, wenn eine bestimmte,
historische Konstellation von Produktivkräften sich so verändert, dass
eine neue Produktionsweise und damit auch neue Produktionsverhältnisse
möglich werden. In Peer Production sehen wir das geschehen:
Selbstentfaltung als in dieser Weise neue, wichtige Produktivkraft
verändert die Art und Weise wie produziert wird ganz offensichtlich
nachhaltig.

.. pull-quote::

   Das heisst, keine politische Ideologien, aber politischer Wandel?

Wenn wir hier tatsächlich einen Schritt in der
Produktivkraftentwicklung erleben, dann ist das natürlich
hochpolitisch. Der letzte Schritt in dieser Größenordnung - die
Entstehung des Kapitalismus - hat die Welt verwandelt wie nichts
vorher. Insofern ist das Konzept, dass wir hinter Freier Software zu
erkennen glauben, ein absolut Politisches. Es ist allerdings kein
Konzept, wie weite Teile der Linken sich das immer vorgestellt haben.
 
.. pull-quote::

   Das heisst?

Auf dem Feld der Produktivkraftentwicklung war die Linke in ihrer
Geschichte fast nie unterwegs. Das ist insofern auch nicht weiter
verwunderlich, als dass erst die modernen technischen Möglickeiten
einen solchen Schritt überhaupt erst möglich machen. So wie die
physikalischen Erkenntnisse und mechanischen Erfindungen der
Aufklärung Voraussetzung für die Entwicklung des Kapitalismus waren,
so ist die Entwicklung von Computern und universeller
Fernkopiereinrichtungen - auch bekannt als Internet - Voraussetzung
für Peer Production.

.. pull-quote::

   Das klingt nach schöner Theorie. Ist hier auch Realpolitik im
   Spiel?

Nun, mit Realpolitik ist das Thema insofern verbunden, als dass Freie
Software für heutige politische Akteure zunehmend ein Feld wird, mit
dem sie sich auseinandersetzen müssen. Gerade in Europa aber auch in
vielen Ländern der Dritten Welt gibt es auf der politischen Ebene
durchaus Bemühungen, sich Freier Software anzunähern. Dabei spielen
Themen wie die Unabhängigkeit von US-amerikanischen Quasimonopolen
eine erhebliche Rolle.

.. pull-quote::

   Was meinen Sie damit?

In einer Zeit, in der Computer-basierte Infrastruktur für Staaten
überlebenswichtig wird, steigen ganz einfach die Sicherheitsbedenken,
wenn einzelne US-amerikanische Firmen wie beispielsweise Microsoft
große Teile der Computer-Landschaft mit ihren Betriebssytemen und
anderen Programmen beherrschen. Da kommt Freie Software als
Alternative äußerst gelegen - denn im Zweifelsfall kann sich wegen der
Verfügbarkeit der Quellen jeder davon überzeugen, ob sie sicher ist.
Daneben bietet Freie Software auch wirtschaftliche Möglichkeiten, da
die Services rund um Freie Software sehr wohl verkauft werden können.
Dies stärkt den heimischen Arbeitsmarkt und fördert die
Konkurrenzfähigkeit. Für ärmere Länder kommt noch hinzu, dass Freie
Software kostenlos zur Verfügung steht.

.. pull-quote::

   Ich kann mir das immer noch nicht genau vorstellen - erklären Sie
   mir bitte, wie die Peer Production in der Realität funktioniert.

Tatsächlich haben wir uns in Oekonux darauf geeinigt, den Begriff Peer
Production als Verallgemeinerung dessen zu verwenden, was wir in
Freier Software in konkreter Form sehen können. Ein prominentes
anderes Beispiel für Peer Production ist Wikipedia, die auf ganz
ähnlichen Prinzipien beruht wie Freie Software. Hier wie dort sind es
Freiwillige, die es als ihre selbstgewählte Aufgabe betrachten, Dinge
zu tun, die für andere nützlich sind. Nicht, weil sie dazu gezwungen
sind, sondern weil sie die Tätigkeit selbst lieben, weil sie es als
ihr Ding verstehen, Programme oder Wikipedia-Artikel zu schreiben.
Diese Prinzipien der Selbstentfaltung kennen wir übrigens nicht erst
seit Peer Production. Vielmehr beruhen wichtige Teile der Gesellschaft
schon immer darauf. Neu ist lediglich, dass diese Prinzipien, die
gleichzeitig die Prinzipien eines erfüllten Lebens sind, heute
gesamtgesellschaftlich immer mehr dazu in der Lage sind, das
bestehende, auf Entfremdung und damit Entmenschung beruhende Prinzip
des abstrakten Tauschs zu ersetzen. Wie eine weitere Verallgemeinerung
von Peer Production hin zu einer Gesellschaft, die zum überwiegenden
Teil auf deren Prinzipien beruht, konkret aussehen kann, betrachte ich
allerdings als offenes Forschungsthema. Oekonux widmet sich diesem
Thema seit einiger Zeit verstärkt.

.. pull-quote::

   Konkreter können Sie nicht werden?

Generell ist zu sagen, dass es nicht leicht ist, hierzu seriöse
Aussagen zu machen. Wir befinden uns am Beginn einer Umbruchsphase
zwischen zwei gesellschaftlichen Großsystemen und wenn auch Ausgangs-
und Endpunkt einer solchen Phase einigermassen präzise beschrieben
werden können, so ist die Umbruchsphase selbst doch durch chaotische
Abläufe geprägt, die kaum konkret vorhergesagt werden können. Das sehe
ich aber auch grosse Chance: Schon kleine Aktionen können in einem
chaotischen System zu grossen Wirkungen führen.

.. pull-quote::

   Kann die Peer Production als Modell für die Gesellschaft dienen?

Wenn wir sagen, dass mit Peer Production ein neues
Produktivkraftmodell entsteht, dann sagen wir letztlich, dass dieses
in der Lage ist, den Kapitalismus - das aktuelle
Produktivkraftmodell - zu überwinden.

.. pull-quote::

   Ist das realistisch?

Absolut.

.. pull-quote::

   Oder anders: werden wir das noch erleben?

Kommt ein bißchen auf Ihr Alter an ;-) . Was wir heute erleben, ist,
dass wir Produkte aus Peer Production heute schon nutzen können. Diese
Produktion setzt heute schon Kapitalismus stellenweise außer Kraft.
Wir sehen weiter, dass dieses Prinzip, das mit der Freien Software vor
nicht mal 30 Jahren geboren wurde, sich ausbreitet. Ich sehe derzeit
keinen Grund, warum diese Ausbreitung nicht kontinuierlich weiter
gehen sollte. Wann es "den ganzen Laden" übernehmen kann, ist sicher
nicht seriös zu beantworten. Aber wir sollten auch nicht vergessen,
wie schnell letztendlich der Ostblock zusammengebrochen ist...

.. pull-quote::

   Weshalb setzen Sie sich für die Peer Production ein?

Ich habe mich sehr lange als Linker verstanden. Mit der Entdeckung des
Potentials Freier Software und später des Konzepts von Peer Production
habe ich allerdings eine ganz neue Dimension entdeckt, die zwar mit
Marx'schen Kategorien recht gut beschrieben werden kann, die aber mit
dem, was ich aus der Linken kenne, nichts, aber auch gar nichts zu tun
hat. Und die viel, viel aussichtsreicher für eine grundlegende
Veränderung ist als das, was normalerweise unter linker Politik
verstanden wird. Diese Kraft kommt eben genau aus dem neuen
Produktivkraftmodell. Bei Peer Production ist das Konzept der
Selbstentfaltung ganz entscheidend. Für mich ist der Knaller an diesem
Konzept, dass es individuelles Glück mit gesamtgesellschaftlichen
Notwendigkeiten harmonisch verbindet. Mir ist kein anderes Konzept
bekannt, bei dem das so ideal und in der Praxis überprüfbar gelänge.

.. pull-quote::

   Wo ist das denn in der Praxis überprüfbar?

Nun, im Grunde in jedem Peer-Production-Projekt. Freie Software und
Wikipedia hatte ich schon genannt. OpenAccess (Freie Wissenschaft)
wäre ein weiteres Beispiel, aber auch auf dem Gebiet der Musik gibt es
zahlreiche Initiativen. Um es nochmal an der Freien Software deutlich
zu machen: Wir reden innerhalb der Software-Branche hier von keinem
kleinen Phänomen. Mittlerweile spielt Freie Software überall mit und
ist nicht mehr wegzudenken. Tatsächlich befindet sich nach meinem
Dafürhalten Peer Production in der Software-Branche schon sehr weit.
Hier ist die "Übernahme des ganzen Ladens" nicht mehr abwegig.

.. pull-quote::

   Und weshalb ist das nötig?

Nötig ist das, weil der Kapitalismus am Ende ist. Spätestens die
Finanzkrise macht das überdeutlich. Wichtiger aber noch: Die
Finanzkrise wird genau mit den Mitteln bekämpft, die sie erst
ausgelöst haben. Jetzt werden die Grundlagen für die nächste, noch
grössere Krise gelegt. Ich bin fest davon überzeugt, dass eine
systemimmanente Lösung auf dem heutigen Entwicklungsstand nicht mehr
möglich ist. Der Grund dafür liegt darin, dass der Kapitalismus
einfach zu erfolgreich geworden ist. Die Verwertung menschlicher
Arbeit - die Grundlage dieses Systems - funktioniert auf Grund der
ständig steigenden Automatisierung immer schlechter. Das führt zur
Paradoxie, dass ein gutes Leben für ganz viele heute von der Seite der
Produktionsmittel her leicht möglich wäre, leider dieses gute Leben
aber nicht durch das sich verkleinernde Nadelöhr der Kapitalverwertung
passt. Deswegen existieren unerhörte Potentiale direkt neben tiefster
Armut.

.. pull-quote::

   Wie könnte die Peer Production dem Abhilfe schaffen?

Peer Production ändert das Koordinatensystem. Ein Äquivalententausch
ist unter Bedingungen der Peer Production nicht nur nicht üblich,
sondern sogar tendenziell schädlich. Wenn aber gesellschaftlich
nützliche Dinge nicht mehr wegen des Profits geschaffen werden,
sondern weil sie nützlich sind, dann haben wir es mit ganz neuen
Bedingungen zu tun. Wir haben dann ein neues Koordinatensystem, bei
dem nicht mehr das Geld im Mittelpunkt steht, sondern der Mensch - und
selbstverständlich auch die natürliche Umwelt. Das ist für heutige
Menschen sicher schwer vorstellbar. Aber für einen mittelalterlichen
Menschen wäre unsere geldzentrierte Lebensweise ebenfalls
unvorstellbar gewesen.

.. pull-quote::

   Geht das Prinzip Peer Ökonomie nicht von einem zu guten Menschenbild aus?

Nein, Peer Production geht eben gerade nicht von einem guten
Menschenbild aus - eine weitere, wesentliche Stärke. Das ist schon
daran zu sehen, dass die unterschiedlichsten Menschen sich an
Peer-Production-Projekten beteiligen - und das sind nicht alles
bessere Menschen. Das Konzept der Selbstentfaltung beruht darauf, dass
Menschen ihre Interessen verfolgen. Allerdings tun sie das unter
Bedingungen der Selbstentfaltung nicht unter entfremdeten Bedingungen
wie im Kapitalismus, sondern unter ihren eigenen, je konkreten. Dafür
braucht es keine guten Menschen, sondern die richtigen Bedingungen.
Wir können uns glücklich schätzen, dass wir heute in einer Zeit leben,
in der die Bedingungen für Selbstentfaltung auf einer
gesamtgesellschaftlichen Basis nicht nur theoretisch, sondern auch
ganz praktisch heranwachsen. Oder anders: Wir leben in spannenden
Zeiten!


[English translation]
Thread: oxdeT12843 Message: 1/2 L0 [In index]
Message 12843 [Homepage] [Navigation]