[ox-de-raw] Eindrücke von der WOS 4
- From: Stefan Meretz <stefan.meretz hbv.org>
- Date: Mon, 18 Sep 2006 12:53:57 +0200
Hi all,
zwei Tage konnte ich an der Konferenz "Wizards of OS 4" teilnehmen, und
ich war sehr positiv überrascht. Heise brachte bisher diese Berichte:
http://www.heise.de/newsticker/search.shtml?T=WOS[PHONE NUMBER REMOVED]
die ganz gut widerspiegeln, was diskutiert wurde. Aus meiner Sicht nun
ein paar subjektive Ergänzungen.
Wovon wir auf der 1. Oekonux-Konferenz in Dortmund noch phantasiert
haben, ist inzwischen Wirklichkeit geworden: Die Ideen Freier Software
haben wurden in vielen anderen Bereichen der Gesellschaft übernommen,
und das global. So wie Die GNU GPL für den Bereich der Software ein
wichtiger Trigger und Freiraumschaffer war, so sind es die
CreativeCommons-Lizenzen für Inhalte beliebiger Art. Inzwischen werden
vom CC-Projekt 140 Millionen Backlinks zur Website gezählt. Was GPL für
Software ist CC für den Kulturbereich. Freie Kultur war daher auch
eines der meist genannten Schlüsselbegriffe auf der WOS4. Wenn man es
sich als Zwiebelschalenmodell vorstellen will, dann haben wir damit nun
die zweite Schale erreicht. Die dritte Schale, und das wurde ein
einigen Stellen deutlich, wird der Kern der gesellschaftlichen
Produktion sein - so meine steile These:-)
Welche Indizien habe ich dafür gefunden? Beispiel 1: Lawrence Lessig hat
auf der WOS4 einen wirklich beeindruckenden Vortrag gehalten (ich
wünschte, ich könnte das auch so gut). Titel: "The Read-Write Society".
Mit Hilfe der Filesystem-Metapher "read-only" (RO) und "read-write"
(RW) hat Lessig die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft Revue
passieren lassen und entlang der 4 Dimensionen Arbeit, Kultur, Nochwas
(vergessen) und Politik klassifiziert. Hinsichtlich der Kultur - und
nur diese Dimension betrachte er im weiteren Verlauf - war die
Gesellschaft des 19. Jh. eine RW-Gesellschaft, in der grundsätzlich
alle Bürger "schreibend" Zugriff auf die Gesellschaft hatten, also
Kultur erzeugt haben. Na ok, da fallen mir einige Einwände ein, aber
sei's drum. Das 20 Jh. wurde hingegen zur RO-Gesellschaft gemacht, in
der zu faulen Couch-Potatos degenerierten Konsumenten nur das
vorgegebene Angebot schluckten. Mächtige Hebel sind hierbei die
Regelungen um das sog. "Geistige Eigentum", v.a. das Copyright. Im
Internet tobt der Kampf zwischen RO und RW, wobei die großen
Content-Konzerne die Menschen zu passiven Konsumenten machen wollen.
Aber, so die These, das 21. Jh. bringt die Wende zurück zu einer
RW-Kultur, in der die Menschen selbst wieder zu Produzenten ihres
(kulturellen) Lebens werden. Kern dieser RW-Kultur sei das Remixing,
also die Verwendung von kulturellen Produkten für die Erzeugung neuer
Kulturprodukte. - Die vielen Beispiele auf der Konferenz zum Beispiel
aus Brasilien waren auch wirklich beeindruckend. Oder dieses Beispiel
("Read my lips"), wirklich köstlich:
http://www.atmo.se/zino.aspx?articleID=399
Oder das hier ("Jesus must survive"):
http://www.metacafe.com/watch/63576/jesus_must_survive/
Komisch fand ich die Rede vom "zurück" zu einer RW-Kultur. Lessig sprach
auch davon, dass einige Kulturen die Chance hätten - jetzt mal in
meinen Worten - direkt vom 19. ins 21. Jahrhundert zu springen ohne den
Quatsch mit Copyright etc. überhaupt erst anzufangen. Hm, na ja, ist da
was dran? Deskriptiv schon. So berichten bei einem anderen Panel Leute
aus Brasilien (das so etwa wie "Gastland-Status" auf der WOS hatte -
ich springe etwas), dass sich die Kids in den Favelas keine Sekunde mit
Urheberrechten beschäftigen würde, wenn sie ihre Musik machen und auf
den Straßen (und nur dort) verkaufen. Und wenn dann europäische
Musiker/innen sich die Musik holen und ebenfalls remixen und dann
verwerten, sei das auch ok. Publikumsfrage: Ist das nicht
Kulturimperialismus? Antwort: Nein, Kultur bedeutet _immer_ andere
Kulturprodukte zu verwenden. Deswegen gäbe es in Brasilien auch keinen
Begriff von "Piraterie" (außer vielleicht bei den Musikkonzernen, die
dort natürlich auch sind).
Zurück zu Lessig. Seiner RO/RW-Analogie folgend wollte ich von ihm
wissen, ob er ähnliche Entwicklungen auch bezüglich der anderen von ihm
genannten Dimensionen sähe - insbesondere bezüglich "Arbeit". Ob es
denn darum ginge, für eine freie RW-Kultur ein entsprechendes
gesellschaftliches freies RW-Betriebssystem bereitzustellen? Leider hat
er die Frage nicht wirklich verstanden, so ist das mit Analogien. Die
Antwort war sehr allgemein, und schnell ist er von der
Dimension "Arbeit" zur Dimension "Politik" gesprungen, weil er dort
mehr Beispiele parat hatte. Ok, auch hier wird die "dritte Schale" im
Denken noch kommen - erinnert mich, dass ich dann mein Urheberrecht
geltend mache, wenn es soweit ist;-)
Beispiel 2: Abschluss-Panel "Brazil, the Free Culture Nation". Mit dabei
Claudio Prado, Chef der Abteilung für Digitale Kultur im
brasilianischen Kulturministerium (geleitet von Gilberto Gil), der sich
selbst einen "Hippie" nennt. Ein nettes Abstract (und Film) dazu:
http://wiki.whatthehack.org/index.php/How_we_hacked_a_project_into_the_Ministry_of_Culture_in_Brazil
Ich dachte, dass ich mich verhört hatte, als Prado sagte (sinngemäß),
dass es nicht darum gehe, "Arbeit" und "soziale Sicherheit" für die
Menschen zu schaffen, denn das würde es ohnehin nicht mehr geben: "Jobs
and employment are things of the 20th century. The future has nothing
to do with employment." Deswegen sei das Ziel: "Jumping von the 19th
century to the 21th century bypassing the bullshit of the 20th
century." Es ginge darum, die Menschen zu befähigen autonom zu handeln
und sich die Technologie anzueignen, um von der Regierung unabhängig zu
werden. Es sei zwar schizophren, wenn als Regierungsvertreter das sage,
aber es ginge ihm darum, die Regierung überflüssig zu machen. - Whow,
nicht schlecht!
Volker Grassmuck, der Maintainer der WOS, griff die Idee auf und sagte,
dass damit das Thema der WOS 5 gefunden wäre. Na mal sehn, was er
darunter versteht;-) Wenn es gut läuft, dann meint er auch die "dritte
Schale" der Zwiebel, also die Frage der gesellschaftlichen Produktion
nicht nur kultureller, sondern aller Güter für das Leben der Menschen -
jenseits von Regierungen, Jobs und sozialer Sicherheit von oben, wie wir
sie einmal kannten.
Ok, ich höre hier auf. Es gab noch viel mehr spannende Diskussionsrunden
auf der WOS. Die Konferenz hätte mehr Besucherinnen und Besucher
verdient, aber dazu waren die Eintrittspreise schlicht viel zu hoch (60
EUR für drei Tage, ermäßigt die Hälfte).
Wenn sich die WOS wirklich der "dritten Zwiebelschicht" annimmt, dann
wäre es eine gute Sache, die nächste OX-Konferenz mit der WOS zusammen
zu machen. Aber das ist nur eine Phantasie...
Ciao,
Stefan
--
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