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[chox] Narrenfreiheit ohne Grenzen



Hi!

Den folgenden Artikel von Florian Schneider und Susanne Lang möchte
ich euch nicht vorenthalten. In der selben ak [http://www.akweb.de/]
gab es noch einen etwas weniger scharfen Artikel, der aber im Ergebnis
auch nicht viel positiver ist.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

PS: Mittlerweile bin ich ganz froh, dass da keineR von uns offiziell
war...

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aus: ak 465 (20.9.02)

Narrenfreiheit ohne Grenzen

Strasbourger Noborder-Camp: kommunikationsunfähig nach allen Seiten

Zelten kann manchmal zu einer nurmehr mit einem Höchstmaß an Sarkasmus
zu ertragenden Qual werden. Neun Uhr morgens, erstes Barrio-Treffen.
Auf der Tagesordnung stehen illegaler Bierverkauf, selbst gemachte
Marmelade und die Verfeuerung von frischem Astwerk. Frühestens zwei
Stunden später, dieselben Diskussionen im Inter-Barrio, angereichert
um nicht weniger substanzielle Auseinandersetzungen wie gemeinsamen
Barrikadenbau und hintersinnige Leergutsammelstellen.

Sobald die Ergebnisse der vermeintlich radikal-demokratischen
Willensbildung dann noch ausgiebig im größeren oder kleineren
Gruppenzusammenhang ventiliert worden sind, ist der frühe Nachmittag
bereits angebrochen. Höchste Zeit also für Aktionen. Im Tross von ein
paar Hundert eventuell sogar Gleichgesinnten wird die Innenstadt von
Strasbourg unsicher gemacht. Das heißt ebenso unvorsichtiges wie
wahlloses Demolieren von allem, was die symbolische Hauptstadt Europas
als Wahrzeichen ihrer politischen Bedeutungslosigkeit übrig hat.
Fahnen, Flaggen, Denkmäler - ganz zu schweigen von der derzeit
meistgehassten Ausgeburt von Überwachungsstaat und sozialer Kontrolle:
Videokameras.

Niemand kann oder will sagen warum, schließlich hält der Drang zur
belanglosen Sachbeschädigung auch nur solange vor, wie es die Polizei
erlaubt. Als die Ordnungshüter zur Wochenmitte ihre lasziv zur Schau
gestellte Zurückhaltung aufgeben, ist recht rasch Schluss mit lustig.
Immer noch wagemutige AktivistInnen, die sich trotz
Demonstrationsverbot zu schüchternen Straßentheateraktionen oder
kecken Trommelkonzerten in die Strasbourger Innenstadt vorwagen,
werden in den Gefangenentransportern der Riot-Polizei CRS vor die
demütigende Alternative gestellt. Ab in den Knast oder heim ins Camp?

Die Abgründe, die sich in den zehn Tagen des ersten europaweiten
Grenzcamps vom 19. bis 28. Juli in Strasbourg aufgetan haben, lassen
tief blicken. Wie nur konnte es nach den Erfahrungen von über einem
Dutzend Noborder-Camps an aller Herren Ländergrenzen zu einer
derartigen Blamage in taktischerund strategischer Hinsicht, in fast
allen politischen und inhaltlichen Belangen kommen.

In gewisser Hinsicht war das Noborder-Camp in Strasbourg natürlich ein
unbestreitbarer Erfolg. Wie immer bei solchen Gelegenheiten kam es zu
einer Unmenge an interessanten Begegnungen, wertvollem Austausch und
teilweise auch spannenden Debatten. Doch es gibtnoch mehr. Die
Erfahrungen der zehn Tage im Zelt offenbarten eine Symptomatik der
Bewegungsunfähigkeit, die bei einem auch nur halbwegs gelungenen
Ablauf zwischen zwanglosem Kennenlernen, der heutzutage üblichen
Netzwerkeuphorie, gewürzt mit pfiffigem Aktionismus und abschließendem
Schulterklopfen sicherlich verschütt gegangen wären.


Blamabel in vielerlei Hinsicht

Mit dem Noborder-Camp in Strasbourg war vielfach die Hoffnung
verbunden, nach den guten Erfahrungen mit den Camps an verschiedenen
europäischen Außengrenzen im Sommer 2001 nun den qualitativen Sprung
zu einer gemeinsamen europäischen Praxis zu schaffen, dieses mit einem
europaweit mehr und mehr vereinheitlichten Grenzregime nicht nur
inhaltlich aufnehmen kann, sondern dieses gemeinsame und aus
unterschiedlichen Herangehensweisen gespeiste Selbstbewusstsein auch
dadurch unter Beweis stellt, dass mit dem Schengen Informationsystem
(SES) nichts weniger als eines der wichtigsten Instrumente
europäischer Migrationspolitik ins Visier genommen wird.

Dass dieser Anspruch auf der Strecke blieb, ist die sicherlich größte
Chance, die im Verlauf des Camps und wohl schon seiner Vorbereitungen
vergeben wurde. Anstatt die Mannigfaltigkeit und Verschiedenartigkeit
der angereisten TeilnehmerInnen wenigstens zur Kenntnis zu nehmen,
wurde das gesamte politische Potenzial der heterogenen Zusammensetzung
auf dem Altar eines scheinheilig herbeigebeteten Massenkonsenses
geopfert. Es kam, wie es kommen musste. In Ermangelung inhaltlicher
Gemeinsamkeiten zwischen aktueller Antisemitismus und obligatorischer
Sexismus-Debatte, speziellen Essgewohnheiten und straßenmilitanten
Vorlieben wird ein solcher Konsens dann allenfalls noch über die
Beschreibung oder Beschwörung der gegnerischen Repressionsmaschine
erreicht.

Die Tragödie von Strasbourg bestand in einer auch auf den zweiten
Blick hin erschütternden Unfähigkeit zur Kommunikation. Dabei hätte
ausgerechnet das europaweite Camp mit seiner breiten Zusammensetzung
die Gelegenheit geboten, Rituale selbst gewollter
Handlungsunfähigkeitund als Basisdemokratie mühsam verbrämte
Entscheidungsunfähigkeit nichtlänger als unveränderbare Konstante
politischen Aktivismus hinzunehmen, sondern in viele verschiedene,
sich aber aufeinander beziehende Potenziale aufzulösen.

Wenn unter dem aktuellen Schlüsselbegriff "Multitude" mehr verstanden
wird als die Menge der Anwesenden in einer sich einfach
aufsummierenden Bewegung ansonsten wirrer oder hilfloser
Gestikulikationen, dann besteht die eigentliche Herausforderung wohl
darin, die unterschiedlichen Strömungen möglichst sinnvoll und
effektiv zueinander in Beziehung zu setzen. Dass diese
Auseinandersetzungen nicht akademisch bleiben, sondern in Aktionen und
Ad-hoc-Interventionen münden, die von Einzelnen vorbereitet, aber
möglichst vielen dann getragen werden können, machtebislang den
Anspruch der Noborder-Camps aus.

Zumal auf europäischer Ebene verlangt ein solcher Anspruch die
ständige Entwicklung immer neuer und an veränderte Situationen laufend
angepasster Organisationsmodelle. Es geht eben längst nicht mehr
darum, eine gemeinsame Linie, ein geschlossenes Bild, eindimensionale
Solidarität, ostentative Einigkeit oder eine insgeheim einende
Subkultur auszudrucken, sondern um die tiefe Einsicht und den
unbedingten Willen, die eigenen Unterschiedlichkeiten zu erkennen und
flexible Zusammenhänge zu schaffen, in denen die verschiedenen
Herangehensweisen sich sinnvoll und zum gegenseitigen Nutzen
kurzschließen. Es geht um politische Kommunikation im besten Sinn.
Vernetzung als situatives Aushandeln, das die Möglichkeit der
Veränderung der eigenen Standpunkte wie der der anderen zur Grundlage
nimmt und so darauf verzichtet, in den eigenen Reihen nach Gut und
Böse zu fahnden, sondern stattdessen nach Grundlagen eines sinnvollen
und für alle praktikablen Miteinander sucht - wohlgemerkt. auf Zeit.


Unfähigkeit zur Kommunikation

Es ist egal, ob das klägliche Scheitern nun mit dem kaum verhohlenen
Hegemoniestreben einiger kleinerer oder größerer Gruppen erklärt wird,
denen es mit etwas Erfahrung im Manipulieren von zufällig zu Stande
kommenden Versammlungen natürlich spielend gelingt, selbst Grauen
erregenden Außenseiterpositionen zur Vorherrschaft zu verhelfen, oder
der Manie einer politischen Korrektheit geschuldet ist, die mitunter
geradezu grotesk totalitäre Züge annahm und bestenfalls dazu geeignet
ist, lähmender Ausdruck eines multilateralen Nicht-Angriffspaktes in
Sachen Antisemitismus, Sexismus, Rassismus etc. zu sein. Alles in
allem wurde ein ungeheures Maß an Selbstbezüglichkeit offenbar. Hin-
undhergerissen zwischen Philister- und Ferienrevoluzzertum wurde so
einer konstruktiven Auseinandersetzung mit den politischen
Verhältnissen von allen Seiten her der Boden entzogen.

Eine detaillierte Aufarbeitung der Aktionen des Noborder-Camps in
Strasbourg dürfte zu niederschmetternden Ergebnissen führen. Vom
ersten bis zum letzten Tag, von der lächerlichen Brückenblockade, bei
derdergrößte Trumpf zur etwaigen Verteidigung des Camps zum
frühestmöglichen Zeitpunkt und wohlgemerkt. ohne große Not ausgespielt
wurde, bis zum kläglichen Scheitern der als Großdemonstration
angekündigten Aktivitäten vor dem SIS in einem Katz-und-Maus-Spiel,
bei dem de Bullen längst vergeben waren und das deswegen an beliebigen
Orten mit immer gleichem Ausgang stattfinden konnte - von Anfang an
erschien nur eines als ausgemacht. Für Überraschungen
istheuerallenfalls die Gegenseite gut.

Im vorletzten Sommer am Frankfurter Flughafen hatte die Souveränität
noch genau darin bestanden, der Polizei die Drecksarbeit zu überlassen
und den Flughafen eben nicht selbst, sondern von den vermeintlichen
Hütern der Ordnung blockieren zu lassen. Dies hatte nicht nur
metaphorische Bedeutung, schließlich wurde mit dem Rollentausch den
Behörden ein gewaltiges Vermittlungsproblem aufgehalst, das ihnen
nurden Ausweg ließ, die AktivistInnen als noch größere ChaotInnen zu
dämonisieren. Doch statt als schwarzer Block, der nichts anderes im
Sinn hat, als den Flughafen in Schutt und Asche zu legen, triumphierte
das Noborder-Camp mit klassischen Musikkonzerten, pink-silbernem
Cheerleading und Verhandlungsgeschick. Auf dieser Grundlage konnten
dann viele verschiedene, differenzierte Aktionsformen ein produktives
Miteinander eingehen, das mitnichten von vorneherein und im Detail
geplant und abgesprochen sein muss, solange die gemeinsame Absicht
darin besteht, Handlungsspielräume systematisch zu erweitern statt
einzuengen.

Dass auf dem Noborder-Camp in Strasbourg das genaue Gegenteil zum
ehernen Prinzip erhoben wurde, hat sicherlich viele verschiedene
Gründe. Doch für eine politische Naivität wie den dramatischen
Kurswechsel, der am allerersten Abend des Camps fast klammheimlich
vorgenommen wurde, gibt es keine Ausreden. Während die meisten noch
mit dem Zeltaufbau beschäftigt waren oder dringend benötigte
Infrastruktur einrichteten, fasste ein Gremium den kühnen Entschluss,
in diesem Jahr auf die Vermittlung der Ziele und Hintergründe des
Noborder-Camps völlig verzichten zu können. Die Zusammenarbeit mit
Medien wurde aus ideologischen Motiven rundweg abgelehnt, und dies
sollte sich nicht nur auf so genannte bürgerliche oder
Mainstream-Medien beziehen, sondern logischerweise auch jede eigene
Öffentlichkeitsarbeit verunmöglichen. Verhandlungen mit VertreterInnen
der Stadtverwaltung oder Polizei galten plötzlich als ebenso verpönt
wie der Besuch von JournalistInnen, egal ob von indymedia oder
Lokalzeitung.


Selbstreferentielles In-die-Falle-Laufen

Wenn der bloße Vermittlungsversuch der eigenen Inhalte schon als
Opportunismus abgetan wird, verschiebt sich notwendigerweise auch der
von außen wahrgenommene Gesamtcharakter der Veranstaltung. Statt um
Bewegungsfreiheit schien es nurmehr um Narrenfreiheit zu gehen. Wer
hier warum und wie gekleidet auf die Straße ging, weswegen wann welche
Aktionsformen gewählt wurden, was Geschichte und Hintergrund,
Vorstellungen und Ziele des Camps waren, wurde nonchalant
verschwiegen. So blieb der Presse natürlich nichts anderes, als sich
auf die Statements von Bürgermeisterin und Einsatzleitung zu
konzentrieren. AnwohnerInnen und Passanten wurden mit der
Interpretation unfreiwillig dadaistischer Parolen wie "Freedom is
illegal" allein gelassen. Wer es nicht für nötig erachtet,
Außenstehenden zumindest die Chance einzuräumen, das Getane
nachzuvollziehen und sich eine eigene Meinung darüber zu bilden,
handelt nicht nur fahrlässig und verantwortungslos, sondern vor allem
eitel. Was vorgibt, militant zu sein, degeneriert zu schalem
Expressionismus, bei dem es von vomeherein nur darum geht, der
eigenen' Andersartigkeit, selbst gefühlter Radikalität und plumper
Identitätssuche zu möglichst schroffem Ausdruck zu verhelfen.


Ohne Vermittlung keine Verbreiterung

Überhaupt war erstaunlich, wie der starke Zuspruch aus Kreisen der
authentischen Globalisierungsgegner Versatzstücken eines
neo-romantisch motivierten Anti-Kapitalismus auf die Tagesordnung
verhalf. Von der kategorischen Ablehnung von jedwedem Zahlungsmittel
als Inbegriff des Bösen bis zur eigens für Plenumsitzungen
entwickelten Zeichensprache, in der sich Debattierende nicht mehr ins
Wort fallen, sondern wie Börsenmakler Handsignale geben - was in den
zehn Tagen von Strasbourg vorherrschte, war eine hermetische Kultur
der Unmittelbarkeit, diejede Form von künstlicher oder technologisch
unterstützter Vermittlung als hinderlich für die natürliche
Selbstentfaltung zu empfinden scheint.

Wichtiger als sich vorzustellen, kennen zu lernen und gegenseitig zu
verstehen, war die Übersetzung des Gesagten in drei bis sieben
Sprachen. Und je weniger dann tatsächlich kommuniziert wurde, desto
größer wurde die heimliche Sehnsucht nach Repression und dem endlich
wieder einenden Gefühl, als Opfer eines alle Themen und Kontinente
umfassenden Komplottes namens Globalisierung auf der richtigen Seite
der Unterdrückung zu stehen.

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