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[chox] Zum Scheitern der studentischen Proteste in Berlin im SS 2003



Heyho,

folgender text vom sozialreferat des fu-astas bleibt zwar dem linken
aufklärungsdenken verhaftet, enthält aber nichtsdesto trotz viel
weisheit.

Enjoy!

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Über Nation, Gewalt und was Studierende damit zu tun haben

DISCLAIMER: Der folgende Text enthält scharfe Polemik. Die Autoren schlagen
den harten Ton bewusst an, da sie lediglich Polemik als die adäquate Form der
Darstellung für die folgende Kritik erachten. Nur sie ist geeignet, die
Unerträglichkeit des Bestehenden angemessen darzustellen, Widersprüche nicht zu
glätten und zu rationalisieren, wie z.B. eine sachliche Schreibe, der
Wissenschaftsbetrieb oder die Demokraten. Wer sich beim Lesen des Folgenden mehr über
die Art des Geschriebenen aufregt, als über die analysierten und
kritisierten Zustände, der möge sich bitte an diesen Disclaimer erinnern.

Weiterhin wird vor den Folgen des Textes gewarnt. Er ist möglicherweise dazu
geeignet, zum Nachdenken anzuregen, was wiederum dazu führen kann, alles
bisher Gedachte über Bord zu werfen. Alles, woran man bisher glaubte, kann durch
diesen Text in Frage gestellt werden, was zu Wut und Aggression führen kann.
Die Polemiken können weiterhin wie Schläge in die Magengrube wirken. Es
können sich Ohnmachtsgefühle einstellen. Die gefühlte Hilflosigkeit kann in
Pessimismus und Misanthropie umschlagen und schließlich in Alkoholismus oder einem
Aufenthalt in der Psychiatrie münden, wobei dies die gängigen Risiken
kapitalistischer Vergesellschaftung sind, auch ohne Kenntnis des folgenden Textes.
Nicht selten treten nach dem Lesen solcher Texte Abwehrreflexe ("So schlimm
ist das doch gar nicht!"; "Pah! Aber wo ist die Alternative!"; "Muss man denn
immer alles so mies machen?") oder Ressentimentgeladenheit ("Das ist doch
marxistisches Gedöns!"; "So reden doch keine Demokraten!"; "Das ist doch
verrückt!") auf, die auch versuchen, das Folgende zu rationalisieren, aber letzten
Endes auch nur eine andere Form von Hilflosigkeit darstellen.

Sollten die beschriebenen Symptome bei dir, liebeR LeserIn auftreten, dann
sag nicht, wir hätten dich nicht
gewarnt!




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Ich bin nicht mit Dostojewski der Meinung, à la Schuld und Sühne, daß keiner
das Recht hat, einem anderen das Leben zu nehmen. Tatsache ist, daß man uns
in so und so vielen Fällen das Leben nimmt, ohne auch nur einen Schuß
abzufeuern. Auch ich habe mich für einen miesen Stundenlohn auspowern lassen,
während der Bonze in seinem Boudoir in Beverly Hills die Vierzehnjährigen
reihenweise entjungfert hat. Ich habe erlebt, daß Männer gefeuert wurden, weil sie
fünf Minuten zu lang auf dem Scheißhaus gesessen haben. Ich habe Sachen gesehen,
über die ich nicht mal reden will.
(Charles Bukowski)

Während des Sommersemesters 2003 kam Schwung in die Berliner
Hochschulpolitik. Von Seiten der demokratischen Oligarchen [1] im Berliner Abgeordnetenhaus
bzw. im Senat wurde einmal wieder eine "Naturnotwendigkeit" präsentiert, der
man sich zu stellen habe, wofür wiederum selbstverständlich die Herren
Demokraten prädestiniert sind, und die logisch dazu führt, den Gürtel enger zu
schnallen. Dass die präsentierte "Notwendigkeit", in dem Fall die Einsparungen im
Hochschulsektor [2], nichts weiter ist, als eine von den demokratischen
Oligarchen in ihrer eigenen Urteilskraft selbst gesetzte Bedingung, wird dezent
verschwiegen.

Lösungsvorschläge für die "Krise" waren Einsparungen im Rahmen der
Hochschulverträge zwischen den Berliner Unis und dem Land selbst sowie die Einführung
von Studiengebühren. [3] Dies behagte einigen Studierenden an diversen
Universitäten in Berlin nicht. Es wurden Vollversammlungen einberufen,
Aktionsgruppen gebildet, Internetseiten eingerichtet und Demonstrationen organisiert.
Anfangs schien das Interesse an der Thematik zumindest teilweise zu existieren
und die Möglichkeit für Widerstand gegen einen weiteren Plan von Demokraten,
die materiellen Lebensverhältnisse einzuschränken, gegeben zu sein. Der
Protest wuchs jedoch nicht, eine erhoffte Lawine geriet nicht ins Rollen.
Schließlich verfassten VertreterInnen der Studierendenschaft der HU nach einer mau
besuchten Demonstration folgende Erklärung:

"Die Beteiligung an der heutigen Demonstration gegen Bildungsraub und
Sozialabbau hat deutlich gezeigt, dass die Studierenden in großer Geschlossenheit
hinter den Kürzungsplänen des Berliner Senats stehen. Der ReferentInnenrat
(RefRat) der Humboldt-Universität zu Berlin zieht daraus Konsequenzen und
erklärt den studentischen Protest für beendet." [4]
Die im weiteren zynische wie pessimistische Erklärung drückt die
Enttäuschung der engagierten Studierenden über ihre müden KommilitonInnen aus. Aber ist
die fehlende Empörung vieler Studierender ein studentisches Phänomen? 

"Wir als Deutsche..." heißt übersetzt: "Ich verzichte und gehorche!"

Man sieht den konstruktiven Untertanengeist, der einem immer wieder in
Deutschland begegnet. Statt zu sagen: "Schnauze voll, ich mach nicht mehr mit",
dient man sich den Regierenden auch noch an und zerbricht sich doch glatt deren
Kopf.
(aus der vorherigen Analyse des Sozialreferats, Mai 2003)

Damit wäre bereits alles gesagt, jedoch will das Sozialreferat dies anhand
einiger Analogien der noch nicht all zu weit zurückliegenden Vergangenheit
genauer skizzieren.


"Alles, was gegen die USA geht, ist immer richtig."
Ein Mitglied der Grünen Hochschulgruppe
der FU Berlin in einem Gespräch


"Zwar ist es in bestimmten – auch linken – Kreisen moralisch
verpönt, zu sagen "Ich bin stolz ein Deutscher zu sein". Andererseits haben die
gleichen Leute kein Problem, sich permanent gegen die USA auszusprechen.
Dabei ist die positive Aussage "Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein"
gleichzeitig die negative "Ich bin ganz froh, alles andere nicht zu sein", also auch
kein Amerikaner. Insofern unterscheidet sich Amerikafeindschaft und (deutscher)
Nationalismus gar nicht, denn ersteres ist nur die negative Wendung von
zweiterem!
Anonym, August 2003

Am 15. 2. 2003 gingen in Deutschland hunderttausende Menschen auf die
Straße. Sie waren empört, wütend, ballten die Faust – für ihre individuellen
Lebensverhältnisse? Nein. Irgendein Präsident, tausende Kilometer ab vom
Schuss und wie eine Schallplatte nervend ("The game is over"), ließ Bomben
fallen. Nichts Ungewöhnliches in einer Welt der Staatenkonkurrenz. Fielen die
Bomben in Deutschland? Nein. Denn wie schon erwähnt, demonstrierten die Menschen
nicht für ihre individuellen Bedürfnisse. Sie waren empört, dass ein
militärisch hochgerüsteter Staat seine Interessen ohne Rücksicht auf deutsche Einwände
durchsetzt. Dabei haben sich die Deutschen doch so verdient gemacht im
gezielten Töten von Menschen zur Durchsetzung nationaler Interessen, also
humanitären Einsätzen, im Kosovo, in Mazedonien, in Afghanistan... Und dann setzt ein
Staat sein in Hülle und Fülle und für nichts anderes als das Töten bestimmte
Kriegswerkzeug auch noch ein, ohne auf Gerd und Joschka zu hören. Was für
beleidigte Nationalisten!

Wie? Das ist zu hart? So kann man das nicht sagen? Den dort anwesenden
Menschen klopfte das Herz wegen der im Luftschutzbunker verharrenden verängstigten
Irakis? [5] Es wäre doch ungerecht, wir sollen uns doch nicht so haben, es
wäre doch schön, wenn die Menschen nicht immer nur an sich denken würden? ...
Sie dachten nicht an sich, das ist wahr, aber die Irakis waren ihnen auch nur
einen Fliegenschiss wert. Aber um zu begreifen, warum, machen wir einen
kleinen Szenenwechsel.

Wieder Deutschland, ca. ein Viertel Jahr später. Die IG Metall, eigentlich
eine dieser langweiligen deutschen Gewerkschaften, denen der nationale
Standort wichtiger ist als die Lebensqualität ihrer Mitglieder, macht mal was
Vernünftiges: Sie ruft einen Streik (besser: nach dem üblichen Bürokratiequatsch,
Abstimmungen, Gucken, ob das Arbeitskampfrecht auch mitspielt usw. holt man
die alten Transparente und Trillerpfeifen aus der Mottenkiste) in
Ostdeutschland aus, damit die dortigen Arbeitnehmer in der Branche ein kleines Stückchen
vom brutalen Los der Lohnarbeit befreit sind, der Ausbeutung ihrer
Arbeitskraft ein wenig entrinnen und mehr leben, mehr genießen können – so weit
dies in den bestehenden Zuständen machbar ist. Es geht um eine
Arbeitszeitverkürzung von 38 auf 35 Wochenstunden. Ist das nicht eine nachvollziehbare
Forderung? Nicht für all die Privat- und Berufsnationalisten (also den Demokraten
inner- und außerhalb des Parlaments) in Deutschland, die zur Hetzjagd gegen
die Metaller schritten.


Es ist dies aber die Herrschaft, die nicht stückchenweise heimlich und
gewaltsam fremdes Gut, heiliges und profanes, privates und öffentliches raubt,
sondern gleich im ganzen. Für jede einzelne solcher Schandtaten trifft den, der
sie verübt und dabei gefasst wird, Strafe und die größte Schmach. Denn man
hat für die, die solche Verbrechen im Einzelnen verüben, Namen wie
Tempelräuber, Seelenverkäufer, Einbrecher, Spitzbuben und Diebe. Wenn aber jemand außer
der Habe der Mitbürger auch sie selbst zu seinem Eigentum macht und in
Knechtschaft bringt, dann hört man für sie nicht jene schimpflichen Namen, sondern
als "Glückselige" und "Gottbegnadete" leben sie im Munde...
Thrasymachos in einem Dialog mit Sokrates in Platons "Politeia"

EXKURS: An dieser Stelle wird es Zeit, einen Begriff näher zu bestimmen, da
sich bestimmt einige LeserInnen angegriffen fühlen. Es geht um den Begriff
des Nationalisten. Viele Menschen denken dabei an den braunen Mob mit
Springerstiefeln oder antirepublikanische Faschisten, vielleicht auch an Norbert Geis
von der CSU. Mit solchen Leuten will man nichts zu tun haben, als
NationalistIn würde man sich nicht bezeichnen lassen! Vielleicht schon eher als
Verfassungspatriot und Demokrat, das hat nicht so was Fieses, Anrüchiges.

Leute, die so denken, haben zunächst einmal dahingehend recht, dass es
qualitative Unterschiede zwischen den Entwürfen politischer Herrschaft eines
republikanischen Demokraten und eines Faschisten gibt. Es gibt bei dem ersteren
Meinungsfreiheit, freie und geheime Wahlen, es besteht regelmäßig die
Möglichkeit, staatliche Akte durch die Justiz zu kontrollieren (Rechtsstaat), die
Staatsgewalt ist geteilt, was zur gegenseitigen Kontrolle führt. 

Damit ist das Lob auf die Demokratie [6] aber auch erschöpft. Was auffällt:
Die gängigen, als positiv verstandenen Begründungen für den Erhalt von
Demokratie, sind eigentlich negativ gewendete, nämlich solche in Abgrenzung zum
faschistischen bzw. realsozialistischen Herrschaftsmodell (sog. Totalitarismus),
in denen die benannten politischen Standards nicht erfüllt sind. Die Nation,
also ein Staatsgebiet mit einem Staatsvolk, welches beherrscht werden soll,
ist immer unterstellt. Lediglich die Ausgestaltung politischer Herrschaft ist
für Demokraten kritikabel. Herrschaft an sich und damit das Durchstreichen
des Wohls und Glücks des Einzelnen wird gar nicht in Frage gestellt. Und
solches ist die Regel in einer Gesellschaft, in der die menschliche
Auseinandersetzung mit der Natur, die Arbeit, Mittel der Verwertung und nicht der
Bedürfnisbefriedigung des Einzelnen ist. Die Ausübung von Herrschaft – um diesen
Zustand zugunsten derjenigen, die von der Verwertung profitieren, zu wahren
– wäre ja auch sonst nicht notwendig.

Letzendlich ist die auf einem geographisch begrenzten Territorium verfügbare
Menschenmasse für den Faschistischen – oder wie es modern heißt: den
totalitär herrschenden Dikator – genau wie für den Demokraten ein
Mittel, das dem Zweck dient, die eigene Nation gegen die anderen Staaten
voranzubringen. Die Demokratie hat wegen der Tatsache, dass die regierte Menschenmasse
alle Jahre wieder Kreuzchen machen geht, den Vorteil, dass der Eindruck oder
besser der Irrtum entsteht, sie hätte was zu sagen ("Das Volk ist Souverän")
und die demokratische Nation würde dem Einzelnen nicht schaden wollen. Wäre
dies der Fall, würden also die Menschen beginnen, ihre materiellen
Lebensinteressen einzuklagen, die durch die bestehende Herrschaft eine regelmäßige
Schädigung erfahren. Dann würde das Ziel, Deutschland nach vorn zu bringen, ganz
schön schieflaufen. Also ist es notwendig, die Untertanen der demokratischen
Nation zur Loyalität zu bewegen, zum einen mit der üblichen Demonstration von
Staatsgewalt, zum anderen durch gezieltes Lob auf die Staatsform, was im
Sozial- oder Politikunterricht frühzeitig beginnt. Dabei wird der Eindruck
vermittelt oder, was wieder dasselbe ist, der Irrtum hervorgerufen, dass das Wohl
des Einzelnen vom "Allgemeinwohl" abhängig oder gar mit diesem identisch ist
und dass die adäquate politische Form dieses Allgemeinwohls zu gewährleisten
und zu steigern eben demokratische Herrschaft ist. Der Witz ist dabei, wie
oben bereits angedeutet: Das Allgemeinwohl ist das Wohl der politisch wie
ökonomisch Herrschenden. Ob man zu letzteren zählt, ergibt sich aus der
persönlichen Stellung innerhalb der Produktion – und hat mit dem einzelnen Wunsch
nach einem schönen Leben gar nix zu tun. Dieser Wunsch erfährt täglich ein
überdeutliches Dementi. Man schaue sich nur einmal Gesundheits- oder
Rentenreform, Agenda 2010 und deren schädigenden Folgen für den Einzelnen an. Trotzdem
meinen die meisten Untertanen, dass diese gesellschaftliche Organisation von
Produktion und Konsumtion trotz ihres Produktionsüberflusses und der
Herstellung von völlig nutzlosen Gütern (z.B. Waffen) oder Ausbildung überflüssiger
Berufsaspiranten (z.B. Juristen, BVG-Kontrolleure, BAföG-SachbearbeiterInnen)
nicht anders zu gestalten sei und halten an ihrer Nation fest, ganz
demokratisch! Der Irrtum, dass das eigene materielle Lebensinteresse mit dem
nationalen Interesse (besagtes Allgemeinwohl) absolut nicht identisch ist, ja sogar
massive Schädigung erfährt, wird nicht durchschaut. Wir geben die Hoffnung
allerdings nicht auf...

Noch einmal zusammengefasst: Nationalismus ist keine alleinige Sache des
braunen Mobs. Um das Fortkommen der Nation kann man sich auch als Demokrat sehr
viele und intensive Gedanken machen, wenngleich mit anderen politischen
Spielregeln. Der ideologische Vorteil demokratischer Herrschaft: durch die ganzen
Prozeduren (Wahlen usw.) und Propaganda (Politik-, Sozialkundeunterricht,
Politikwissenschaft, Pädagogik) wird der Irrtum vermittelt, der Einzelne hätte
an der Herrschaft seinen Anteil, was wiederum zu dem Fehlschluss führt, dass
das nationale Interesse mit dem des Einzelnen identisch ist und dass der Staat
somit dem Einzelnen gar keinen Schaden zufügen kann! Wer sich in diesem
Fehlschluss aber das nationale Interesse zu eigen macht, die Nation als Medium
zur Erfüllung von einem schönen Leben anerkennt, der kann gerne Demokrat sein,
ein Nationalist ist er allemal auch. EXKURS ENDE

Dabei bleibt es aber ganz und gar nicht! Diejenigen, die, wie gerade
beschrieben, so denken, beginnen nämlich, diejenigen zu ächten, die sich gegen diese
tägliche Schädigung seitens Kapital und Nation wehren!


Der Manipulationsnutzen des sozialen Friedens liegt darin, als Ausgleich in
der Verteilung von Gütern und Chancen alle Gruppen einer Gesellschaft zu
umfassen, zugleich nur diejenigen disziplinierend zu treffen, die potentiell sich
gegen die ungleiche Verteilung von Herrschaftspositionen und
Privilegienchancen richten. Anders gesagt: Es ist seine Funktion, genau die letzteren
zurückzudrängen, zu entmachten – und dem öffentlichen Haß preiszugeben.
Johannes Agnoli, "Die Transformation der Demokratie"

Und damit zurück zur IG Metall und dem Sturm der Deutschen gegen den Wunsch,
weniger zu arbeiten. Eben noch Friedenstauben und die Irakis fest im Herzen,
schreiten die Deutschen gegen die Metaller zum Kampf. Egal, ob
Friedenskanzlerclique, der Nationalpfaffe Friedrich Schorlemmer oder Lieschen Müller,
Einzelhandelskauffrau bei Lidl im Wedding, die sich darüber aufregt, dass "die
Bauarbeiter immer blau machen" – sie können es überhaupt nicht verstehen,
wenn Menschen ihre Individualinteressen vor die von Kapital und Nation
stellen. [7] Schützenhilfe zur Denunziation der Volksschädlinge gibt's
selbstverständlich von ganz oben. Wenn Guido Westerwelle bei den Gewerkschaften von
einer "Plage für unser Land" spricht, dann ist alles gesagt; und wie man mit
einer Plage umgeht, weiß nicht nur der Arbeiter in der Landwirtschaft.

Nun könnte man einwenden: Wieso diese eigentlich willkürlich daherkommende
Zusammenfassung dieser beiden Anekdötchen in Deutschland? Und was hat das
ganze eigentlich mit Studierenden zu tun? 

Drei Punkte dazu:

I.
Egoismus, Individualinteressen, materielle Bedürfnisse sind in Deutschland
verpönte Wörter. Wegen des Fehlschlusses, dass das eigene Interesse in einem
Höheren gut aufgehoben oder mit diesem identisch ist, schnallt man für den
Betrieb, den Standort oder die Nation den Gürtel enger oder macht Dinge, auf die
man vernünftigerweise nie kommen würde: z.B. drei Jobs zu haben, als
Akademiker Blätter im Park zu sammeln, Taxi zu fahren oder für eine Berufsausbildung
einen Kredit aufzunehmen. Rentenreform, Agenda 2010, Erhöhung der
Wochen-/Lebensarbeitszeit (ein Vorschlag, der gerade neben dem Streichen der
staatlichen Finanzierung künstlicher Hüftgelenke und dem Zahnersatz immer wieder heiß
diskutiert wird); also ganz reale Gewalt und Schädigung des Lebens erfahren
nur wenig Protest. Im Gegenteil: diejenigen, die das satt haben, werden noch
beschimpft und denunziert. Hier beantwortet sich nun die Frage von oben
hinsichtlich der Sorge um die Irakis. (Man hätte zwar schon auf die weitestgehend
ausbleibenden Proteste bei Kriegen mit Bundeswehrbeteiligung, also in deutschem
Interesse hinweisen können, aber das Beispiel des Streiks der IG Metall ist
noch für einen anderen Punkt geeignet; siehe dazu Punkt II). Die meisten
derer, die am 15. 2. 2003 gegen den Irak-Krieg protestierten, taten dies ganz
bestimmt nicht wegen der Opfer und der Schädigung der im Irak lebenden Menschen.
Die waren nur Projektionsfläche für nationale Befindlichkeiten. Wie oben
angedeutet, hat es die Leute nicht empört, dass Gewalt angewendet wird, sondern
lediglich, dass auf das nationale Interesse bei diesem Diktatorensturz nicht
eingegangen wurde. Gewalt und Schaden für Menschen stören Deutsche nur dann,
wenn es nicht dem nationalen Interesse dient!

Wie jetzt? Wir können doch nicht Bomben und die Agenda 2010 oder die
Gesundheitsreform in einen Topf werfen? Dies führt uns zu 

II.
Sicherlich: Wenn wir wählen müssten, ob wir lieber einen Granatsplitter im
Hintern, ein Loch im Kopf, ein Bein weniger, Leukämie wegen Strahlenschäden
oder keine staatlich bezahlten dritten Zähne haben wollen, wir würden letzteres
wählen. Wir halten es aber andererseits für zynisch, genau daraus zu
schließen, dass die krasse Beschneidung des Lebens mittels staatlicher Gewalt etwas
ganz Wunderbares oder Erträgliches sein soll, nur weil man das Leben ja auch
ausgelöscht bekommen kann. Gewalt gegen den Einzelnen muss nicht notwendig
Krieg bedeuten, sie ist der ganz normale Alltag während des Friedens in der
kapitalistischen Vergesellschaftung, wird aber nicht mehr als solche
wahrgenommen. Dies hat folgenden Ursprung. Weil der Souverän, also die Protagonisten der
Staatsgewalt festlegen, wie Gewalt ausgeübt wird und wer dies wie/wann/wo
darf, und andere Handlungen entweder ignoriert oder, wenn sie am weiteren
Bestehen des Staates und der verwalteten Ökonomie hinderlich sind, sanktioniert
werden, macht der Unterworfene der Macht nach deren Anerkennung einen im
wahrsten Sinne des Wortes gewaltigen Fehlschluss: Die als legal definierten
Handlungen sind gewaltfreie, quasi vernünftige und die als illegal definierten
Handlungen verwerfliche gewalttätige Angelegenheiten. So kommt es zu solch
merkwürdigen Ansichten wie der, dass die Kündigung eines arbeitenden Menschen, also
der Entzug der notwendigen Mittel, sein Leben zu bestreiten, als eine völlig
vernünftige Sache betrachtet wird und nicht als Gewalt, eben weil diese
Handlung legal ist. Zwar könnte man den Kündigungsschutz als Bremsfunktion solcher
Handlungen anführen. Doch mal abgesehen davon, dass der Kündigungsschutz
sowieso "zum Abschuss freigegeben" ist, mus man sich fragen, was das für eine
merkwürdige Gesellschaft ist, in der es überhaupt einen Kündigungsschutz
braucht, einem also die Arbeit, die man zum Lebensunterhalt verrichtet, jederzeit
wieder entzogen werden kann? Dieses Beispiel ließe sich adäquat zu
Mietproblematiken formulieren, also der Gewährung und dem Entzug von Wohnraum.

Noch ein Beispiel: Nahezu niemand kommt auf die Idee, dass Zensuren oder, im
Hinblick auf die Universität, diverse Leistungsnachweise die reine Gewalt
gegen eine Person darstellen, weil über ihr Leben wahlweise mit den Prädikaten
"schlau" und "dumm" sowie kleinen Abstufungen dazwischen entschieden wird.

Und wenn jemand ein Leben lang seine Physis häppchenweise für den Profit von
jemand anderem verscheuern muss – mal für einen Minilohn, mal für
etwas mehr –, dann ist das nicht etwa Gewalt gegen den Lohnabhängigen, der
nichts anderes zu verkaufen hat, als seine Arbeitskraft, sondern ein
Arbeitsvertrag. [8] Oder hören wir doch, wie die Juristen, die am besten wissen, wie
man die Herrschaft des Menschen über den Menschen schriftlich fixiert, dazu
sprechen: "Der Vertrag ist eine Willenseinigung. Es handelt sich genauer um
ein Rechtsgeschäft, das aus inhaltlich übereinstimmenden, mit Bezug aufeinander
abgegebenen Willenserklärungen von mindestens zwei Personen besteht" (Brox,
1997). Also doch ganz freiwillig, wenn so ein Arbeitnehmer seine Arbeitskraft
verkauft. Wo ist das denn Gewalt? Eine Gegenfrage: Was passiert, wenn sich
ein Mensch, der keine Millionen auf dem Konto hat, dem ganzen Arbeitswahn
nicht zur Verfügung stellt? Er setzt sich der staatlichen Zwangsverwaltung durch
den Sozialstaat aus, lebt von einer lächerlichen Stütze und wird allgemein
als Faulpelz denunziert, ist also gesellschaftlich geächtet. Eine wahrlich
überzeugende Alternative...! Die Wahl zwischen letzterem und dem Verkauf von
Arbeitskraft zu irgendeinem Lohn, damit jemand anderes einen Mehrwert abschöpft,
soll also eine freiwillige Kiste, ein selbstbestimmter Akt sein. Die Frage
nun, ob das Arbeitsverhältnis deshalb keine Gewalt darstellt, weil ein
Arbeitsvertrag freiwillig unterzeichnet wird, könnte man auch adäquat so formulieren,
ob es dann auch keine Gewalt wäre, wenn man zwischen Pest und Cholera wählen
dürfte und sich für eines von beiden entscheiden müsste.


Die Sphäre der Zirkulation oder des Warentausches, innerhalb deren Schranken
Kauf und Verkauf der Arbeitskraft sich bewegt, war in der Tat ein wahres
Eden der angeborenen Menschenrechte. Was allein herrscht, ist Freiheit,
Gleichheit, Eigentum und Bentham. Freiheit! Denn Käufer und Verkäufer einer Ware,
z.B. der Arbeitskraft, sind nur durch ihren freien Willen bestimmt. Sie
kontrahieren als freie, rechtlich ebenbürtige Personen. Der Kontrakt ist das
Endresultat, worin sich ihre Willen einen gemeinsamen Rechtsausdruck geben.
Gleichheit! Denn sie beziehen sich nur als Warenbesitzer aufeinander und tauschen
Äquivalent gegen Äquivalent. Eigentum! Denn jeder verfügt nur über das seine.
Karl Marx, Das Kapital

Die Bedingungen zu dieser ziemlich unangenehmen Organisation menschlicher
(Re)Produktion sind aber nicht gottgegeben oder durch eine "unsichtbare Hand"
gesteuert, sondern ganz bewusst gesetzte und mittels staatlicher Gewalt
durchgesetzte Bedingungen, die da Freiheit, Gleichheit und Eigentum heißen und den
beschriebenen menschenfeindlichen Schlamassel ermöglichen. Nur, wie eingangs
erwähnt, wird die staatliche Definition von legaler und illegaler
Gewaltausübung im Rahmen von Freiheit usw. affirmiert. Deshalb gehen bei dem Versuch der
IG-Metaller, dieser Gewalt etwas entgegenzusetzen, keine Massen mit auf die
Straße, streiken mit den Metallern oder demonstrieren gar für ihre eigenen
Bedürfnisse, die ständig durchgestrichen werden. Obwohl doch für eine Bewegung,
die gegen den Krieg als Form von Gewalt aufbegehrt, nach dem Krieg die
Arbeit erst richtig anfangen müsste! Sagen wir es in Anlehnung an einen Satz von
Max Horkheimer: Wer von kapitalistischem Frieden nicht reden will, soll zu
imperialistischen Kriegen schweigen!

Und die Studierenden? Ach ja, da war ja noch was und das ist Punkt 

III.
Wer die vorangegangenen Gedanken nicht für völlig neben der Spur hält, der
wird jetzt schon erahnen können, was das alles mit den Studierenden zu tun
hat. Wieso sollten sich denn aus dem Status "StudentIn" logisch ergeben, dass
diese gegen Maßnahmen, die ihre materiellen Lebensinteressen einschränken, wie
z.B. Studiengebühren, mehr aufbegehren als andere Menschen in Deutschland? Da
sieht man nur einmal mehr, dass Bildung und Wissenschaft garantiert nicht
dazu bestimmt sind, die Zusammenhänge der bestehenden Ordnung zu begreifen,
sondern lediglich, sie zu akzeptieren und zu verbessern! Es wäre ja auch fast
schon verrückt seitens staatlicher Protagonisten, wenn jemand in einer
staatlichen Institution vermittelt bekommt, wie der Laden wirklich tickt. Dann hätte
man als Souverän ganz schön Ärger am Hals. Daher wird, wie oben schon
erwähnt, vielmehr die Notwendigkeit der Ordnung gelehrt, wobei für die
Rechtfertigung der Herrschaft über den Menschen eine ganze Menge gute Gründe gefunden
werden, aber: "In unsrer reflexionsreichen und räsonierenden Zeit muß es einer
noch nicht weit gebracht haben, der nicht für alles, auch das Schlechteste und
Verkehrteste, einen guten Grund anzugeben weiß." (Hegel) Selbstverständlich
kann auch einE StudentIn für die Nation den Gürtel enger schnallen, sich
selbst zugunsten der Nation zurückstellen und die vorgegebenen Notwendigkeiten
bzw. ihre Ohnmacht, dagegen aufzubegehren, einsehen und sich verkneifen zu
demonstrieren o.ä.! StudentIn sein schützt nicht davor, dem Staat Loyalität zu
zollen und jeden Schaden am eigenen Leben hinzunehmen...

Nun könnte man auch auf die Idee kommen, dass diejenigen, die sich gegen
Studiengebühren und Bildungsabbau engagierten, Besseres im Schilde führen als
diejenigen, die dies nicht tun und das Gegebene hinnehmen. Aber auch das ist
bei weitem – wir betonen leider – in sehr vielen Fällen nicht so. 

"Bildung ist keine Ware!" (ATTAC u.a.); "Noch nie haben Studiengebühren den
Universitäten genutzt." (Grüne Hochschulgruppen an der FU/HU) oder von der
gleichen Gruppe "Studiengebühren erzwingen ein 'Schmalspur-Studium'" und auch
"GATS macht dumm" (Jungdemokraten Berlin) schallen einem entgegen.

Wenn diese "Argumente" nicht so – man möge uns unsere Arroganz
verzeihen – erbärmlich wären und die Zahl derer, die solchen Schwachfug
kritisieren würden, wesentlich größer, dann könnte man solche Scherzkekse beiseite
lassen, aber da so etwas im Ernst auf offene Ohren stößt ... also der Reihe
nach:

1.

Zu der ersten Parole "Bildung ist keine Ware" haben wir uns in der ersten
Analyse des Sozialreferats bereits hinreichend geäußert. Wir schrieben: 


"Die oben angeführten Zitate [also auch das benannte] sind nun deshalb
falsch, weil sie Bildung in Schule und Universität aus der Gesellschaft des
Kapitals herausreißen. Arbeitskraft ist eine Ware, die an diesen Institutionen
– staatlich subventioniert – für die Verwertung geschult und
qualifiziert wird. Dass sich ein wohlhabender bürgerlicher Nationalstaat Bildung und
Wissenschaft einiges kosten lässt und von der 'realen' Ökonomie abtrennt, ist
dem nicht abträglich. Im Gegenteil: Die Freiheit der Wissenschaft ist nahezu
optimal für die Standortverwertung. Zunächst fern von jeglichen ökonomischen
Einzelinteressen kann geforscht und 'gewissenschaftet' werden, was das Zeug
hält. Verwertbares Material bzw. die Urheber dessen bleiben uns dann
erhalten: z.B. in Form einer physikalischen Erkenntnis, die es erlaubt, bessere
Maschinengewehre herzustellen; einer neuen psychologischen Therapie, die den
Depravierten der Gesellschaft hilft, ihr Elend besser anzuerkennen; einer neuen
außenpolitischen Strategie, um Deutschland gegen die anderen Nationen in
Stellung zu bringen oder einer neuen Novelle des Ausländergesetzes, welche es
erlaubt, noch schneller abzuschieben. Nichtverwertbares Material bzw. deren
Urheber landen im Papierkorb bzw. in der Sozialstatistik."

Bildung ist also längst Ware, auch im öffentlich-rechtlichen Bildungssektor,
nämlich im notwendigen Zusammenhang mit der zu verwertenden warenförmigen
Arbeitskraft. Und Bildung ohne Arbeitskraft zu denken, macht keinen Sinn. Statt
also parolenhaft zu fordern: Weg mit einer Gesellschaft, deren Zweck der
Tausch von Waren (bzw. die Verwertung von Arbeitskraft) und nicht die
Befriedigung von Bedürfnissen ist, wo also auch der Mensch lediglich Mittel und nicht
Zweck ist (wobei dies Bildungsbedürfnisse einschließt!), bringen ATTACis, wie
die Mitglieder so niedlich genannt werden, lediglich eine private Bildung
gegen eine öffentlich finanzierte in Stellung. Das war's. Die Selektion durch
Abitur, der Leistungsdruck, die Zensuren, der Zweck von Wissenschaft und
Bildung usw. verdienen allesamt keine Kritik. Im Gegenteil: Man biedert sich auch
noch an den Staat an (öffentliche Bildungsfinanzierung), der nichts weiter
vorhat, als einen gnadenlos als Menschenmaterial verfügbar zu machen und
ökonomisch, manchmal auch militärisch, zu verheizen. Diese Einstellung resultiert
aus dem Demokratie-Fehlschluss, der oben beschrieben wurde ("Der Staat sind wir
alle" oder "Das Volk ist Souverän").

Wir geben natürlich zu, dass unsere Parole als solche ziemlich ungeeignet
ist. Einige Kritiker der politischen Ökonomie gab es ja auch unter den
protestierenden Studierenden. Sie sagten schlicht: "Bildung für alle und zwar
umsonst". Das bringt es selbstverständlich auch auf den Punkt. Kürzer waren früher
immer nur noch Antifas: "Smash capitalism!"

2.

Die beiden Parolen der Grünen Hochschulgruppen wollen wir zusammen
behandeln. – Auch wenn wir bei dem folgenden Satz sicherlich wütende Reaktionen
bekommen: aber wir haben bisher noch nicht einmal erlebt, dass von Seiten der
Grünen etwas Vernünftiges gesagt wurde. Also hat uns auch dies nicht
überrascht. Nicht dass Studiengebühren den Einzelnen in seinem materiellen
Lebensinteresse schaden, ist ihr Thema. Es ist nicht schlimm, dass man einen Urlaub
weniger im Semester genießen kann oder der wöchentliche Besuch von Stammkneipe
und Kino wegfällt, wenn 500 Euro/Semester abzudrücken sind. Nein, die
"Zukunft der Bildung" liegt ihnen am Herz! Damit zeigen die Grünen einmal mehr, dass
sie wie eine Eins zum Väterchen Staat stehen, sich um seine Zukunft große
Sorgen machen und dass sie für den demokratischen Dialog als loyale
Staatsbürger bereit sind. Genau das, was wir oben unter den Stichwörtern "Sorge um die
demokratische Nation" und "Irrtum der Identität von Individualinteresse und
Allgemeinwohl" geklärt haben, zeigt sich hier einmal mehr. Die Nation und die
Zukunft dessen, was das Menschenmaterial ausbilden und optimal verwertbar und
verfügbar machen soll, sprich: ein noch effizienteres Humankapital ist es,
was sie einklagen. Noch besser hätte die Erziehung zum loyalen Staatsbürger per
Politikunterricht nicht sein können. 

Zudem steht unter der Parole, dass Studiengebühren noch nie den
Universitäten genutzt haben, Folgendes: "Studentische Gelder sollen nicht in die
Verbesserung der Lehre fließen, sondern zum Ausgleich der Berliner Haushaltslöcher
missbraucht werden." Im Umkehrschluss: Würden studentische Gelder auf der
Einnahmenseite im Berliner Haushalt bei Bildung/Wissenschaft stehen, ergo den
Universitäten direkt nutzen, gäbe es auch keinen Einwand gegen Studiengebühren
mehr...

3.

"GATS macht dumm" – Worum geht's dabei? Seit einiger Zeit empören sich
Menschen, vor allem aus dem so genannten globalisierungskritischen Spektrum
über einen völkerrechtlichen Vertrag namens "General Aggreement In Trade And
Services" – kurz GATS. Diesem Abkommen ist Deutschland wohl auch
beigetreten. Es ist vorgesehen, ehemals öffentlich finanzierte Dienstleistungen
privaten gleichzustellen bzw. erstere nicht zu bevorzugen, z.B. durch
öffentliche Subventionen. Es geht u.a. um die Wasser- und Stromversorgung, aber auch um
den Bildungssektor. 

Was spricht nun dagegen? Zunächst einmal, dass sich die Selektion für die
Lernwilligen verschärft, weil die Schulen und Hochschulen miteinander
konkurrieren und nur "die Besten" haben wollen. Nicht kritikabel wäre dieses Argument,
wenn man die Entwicklung im öffentlich finanzierten Bildungssektor
beobachten würde und nach eingängiger Analyse zu dem Schluss käme, dass die
derzeitigen Selektionsmaßnahmen (z.B. numerus clausus) vergleichsweise milde sind und
sich in den letzten Jahren nicht verschärft hätten. Letzteres würden wir
allerdings stark bezweifeln. "Schlimmer geht's nimmer" dachten wir vor einigen
Jahren auch schon, so dass wir diese Kritik einfach mal so stehen lassen wollen.

Was aber verbirgt sich hinter "GATS macht dumm"? Die JungdemokratInnen bzw.
die Linke im Allgemeinen behaupten ja gerne von sich, dass sie einige
Probleme mit Staat und Kapital und dem ganzen Drumherum haben. Konsequenz wäre nun,
nachdem man sich vergegenwärtigt hat, was das ist, etwas dagegen zu
unternehmen. Die JungdemokratInnen denken nun offenbar, dass ein öffentlich-rechtlich
finanzierter Bildungssektor dazu etwas beitragen würde, weil die Leute dann
schlauer würden. Auch sie bringen wie ATTAC einen öffentlich-rechtlich
finanzierten Bildungssektor gegen einen privaten in Stellung. Letzterer würde auf
jeden Fall "dumm machen". Umkehrschluss: Ein öffentlich-rechtlicher
Bildungssektor macht schlau. Erstmal stellt sich dann die Frage, was damit gemeint sein
soll. Es wäre zwar richtig, dass Bildung und Wissenschaft, werden sie nach
rein zweckrationalen ökonomischen Ansprüchen bestimmt, vermutlich nicht den
gleichen Umfang haben werden, wie ein erst einmal von der Ökonomie getrennter
Bildungssektor. Unterstellt, dass wäre so: Wenn nun die Menschen mehr Bildung
erheischen, also neben Lessing, Schiller und Goethe auch noch den Fontane
kennenlernen usw., was soll daraus folgen? Sollten die JungdemokratInnen wirklich
den Anspruch verfolgen, Opposition gegen bestehende Verhältnisse zu
formulieren, dann ist der Satz "GATS macht dumm" als Kritik absolut ungeeignet, weil
ja – wie oben schon erwähnt, die Bildungsinstitutionen gar nicht dazu
bestimmt sind, das Bestehende in Zweifel zu ziehen. Schlau sein und
kritisieren, bzw. soziale Opposition stehen in keinerlei logischem wie tatsächlichem
Zusammenhang. Es gibt hochintelligente Leute, die können Cleveres über
Mathematik, Philosophie, Physik, Biologie, Indologie, Soziologie, Politik usw.
erzählen, haben aber davon, wie der Laden läuft, keinen blassen Schimmer und werden
diesen an der Universität auch kaum vermittelt bekommen. Wenn man also den
Anspruch hat aufzuklären und reflektiert, dass Studieren und Nachdenken bzw.
Kritisieren zwei Paar Stiefel sind, dann kommt man zu dem Schluss, dass der
Satz "GATS macht dumm" selbst ziemlich dumm ist.

Der Satz macht nur dann Sinn, wenn man sich wieder lediglich um die Zukunft
der Bildung der deutschen Nation und nicht um die Folgen des Bestehenden für
den Einzelnen Gedanken macht. Da sind wir wieder bei den Grünen (s.o.). 

Epilog
Denjenigen, die jetzt immer noch nach der Alternative fragen oder mit den
üblichen Satz kontern: "Das ist ja alles schöne abstrakte Theorie, in der
Praxis geht es doch aber nicht anders", können wir es vermutlich nicht recht
machen. Ihrem oftmals zu hörenden Ruf nach "konstruktiver Kritik" und
"pragmatischen Lösungen" können wir nur folgendes Zitat entgegenhalten:


"Zersetzende Kritik" vs. "Konstrukive Kritik"

"Nach wie vor dient der Affekt gegen angeblich bloß zersetzende Kritik oft
dazu, diejenigen mundtot zu machen, die gesellschaftliche Mißstände erkennbar
machen, ohne gleich ein Rezept zur Veränderung mitzuliefern. Dass Kritik
negativ ist, liegt aber in der Sache. Wer etwas oder jemand kritisiert, der
verhält sich negierend. Insofern lässt sich in der Tat sagen, dass Kritik ein
destruktives Moment hat. Die Alltagssprache spielt dagegen die "konstruktive
Kritik" aus, die nicht zerstören, sondern der Verbesserung dienen solle.
Professionelle Kritiker bestehen aber aus gutem Grund darauf, dass man Kritik nicht
nur dann gelten lassen darf, wenn sie sich durch konstruktive Vorschläge
beliebt (und berechenbar!) macht. Wer Kritik überhaupt nur akzeptieren will, wenn
sie von jemandem vorgetragen wird, der das Kritisierte selbst besser zuwege
bringt oder behauptet, zumindest zu wissen, wie man es machen müsse, der folgt
einer Immunisierungsstrategie.

In der Aufklärung ist also deutlich geworden, dass die negative Seite der
Kritik von ihrer positiven gar nicht zu trennen ist. Indem Kritik die
Unwahrheit, das Falsche, den Schein zu destruieren versucht, soll sie die nötige
Vorarbeit zur Konstruktion des Wahren, Richtigen und Wesentlichen leisten."
(Schweppenhäuser in "Adorno zur Einführung")

Für alle anderen bleibt:


"Wir sind ein einziges Mal geboren; zweimal geboren zu werden ist nicht
möglich (...). Und da schiebst Du das, was Freude macht, auf, obwohl Du nicht
einmal Herr bist über das Morgen? Über dem Aufschieben schwindet das Leben
dahin, und so mancher von uns stirbt, ohne sich jemals Muße gegönnt zu haben."
(Epikur)



Das Sozialreferat des AStA FU Berlin



Dank an B.B.

Für Fragen, Kritik und Wutausbrüche: sozialreferat astafu.de

Auch wenn die letzte Analyse des Sozialreferats doch etwas zurückliegt,
sollen in regelmäßigen Abständen weitere erscheinen, die man jetzt per Mail
abonnieren kann. Einfach eine Mail an:

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Nochmals die erste Analyse (keine Angst, ist nicht so lang)


Anmerkungen
[1] Hier stellt sich bestimmt bei dem einen oder anderen Empörung ein, dabei
ist die Bezeichnung berechtigt: Oligarchie – Staatsform, bei der auch
bei formeller Gleichberechtigung der Staatsbürger die tatsächliche Herrschaft
bei einer kleinen Gruppe liegt (Wahrig-Fremdwörterlexikon 2001 S.652). Dabei
ist es völlig belanglos, ob diese herrschende Gruppe sich aus verschiedenen
Parteien zusammensetzt und sich diese Parteien alle fünf Jahre durch
Kreuzchen der Beherrschten einen Persilschein für die weitere Drangsalierung der
Beherrschten abholen ... aber dazu später noch mehr.

[2] Dies ist freilich nur ein Beispiel. Man kann das schablonenhaft auf die
ganzen anderen "neuen Anforderungen für unsere Gesellschaft" übertragen, also
z.B. auf Gesundheits-, Rentenreform, Hartz, Agenda 2010 etc. etc.

[3] Siehe zum genaueren Verlauf die erste Analyse des Sozialreferats. 

[4] Siehe die ganze Erklärung:
http://www.refrat.hu-berlin.de/sowi/alle/allenews/pmbeendet.html

[5] Solche Menschen gab es sogar ganz sicher. Es waren die gleiche Handvoll,
die es bei jedem Krieg engagiert auf die Straße zieht, also ein
verschwindend geringer Teil.

[6] Was Demokratie als nationale Herrschaftsform im Einzelnen leisten soll,
ist Gegenstand einer Veranstaltung des Sozialreferats im November, welche
auch in diesem Heft beworben wird.

[7] Nicht, dass wir für die Gewerkschaften irgendwas übrig hätten oder dass
diese etwa nicht besorgt um die Nation wären, aber in dem Moment des Streiks
haben sie sich zunächst objektiv dagegen gestellt.

[8] Um es an dieser Stelle ganz klar zu machen: Wir sind keine
Traditionsmarxisten, die dem Proletariat irgendwelche Potenzen zu irgendwas
Fortschrittlichem zuweisen. Zu leugnen aber, dass dieses immer noch die gleiche Stellung in
der Produktion, also die eines Arbeitskraftverkäufers hat, von welchem der
Käufer einen Gewinn zieht, hat, wäre töricht. Und dass diese Angelegenheit des
Arbeitskraftverkaufs im Vergleich zum 19. Jh. etwas angenehmer geworden ist
– auch geschenkt. Daraus wer daraus schließt, dass der Klassengegensatz
aufgehoben wäre und das Leben eines Proletariers eine schöne Sache ist, weil
er nun dank billigerer Produktionskosten auch ein Auto fahren, den
Drecksfraß von Lidl und Aldi essen kann, nicht mehr hungern muss usw., der soll sich
nur mal fragen, warum er/sie an der Uni gelandet ist?! Richtig, um der
"Despotie der Fabrik" und der des Baus zu entrinnen, um wenigstens die Chance zu
haben, dass ihm dieses Schicksal erspart bleibt.


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