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Was ist Antisemitismus? Die Geburt des Antisemitismus aus dem Geiste der Harmoniesucht 1. Antisemitismus als Ideologie der Biologisierung des Sozialen In antisemitischen Denkweisen wird die kapitalistische Gesellschaft als ein natürlich gewachsenes Gebilde vorgestellt (sie löste die mechanistischen Vorstellungen von kapitalistischer Gesellschaft ab - auf die Gründe dafür kann hier nicht eingegangen werden). Dabei werden in dieser Gesellschaft „Fremdkörper“ für „krankhafte Störungen“ verantwortlich gemacht. Eine angeblich natürlich gewachsene harmonische Ordnung des „Volkes“ bzw. der Nation etc. werde dabei angeblich von außen untergraben. Rassismus und Antisemitismus treten in einem derartigen Weltbild als Ideologien der Biologisierung des Sozialen auf. Rassismus und Antisemitismus sind dabei gegensätzliche sich jeweils ergänzende Ideologien. Während der Rassismus sich vorzugsweise gegen „unten“ richtet, gegen Menschen, die angeblich faul sind, nicht intelligibel, „dumm“, auf Körper und Sexualität, Natur reduziert werden, tritt der Antisemitismus „gegen oben“ an: er halluziniert sich seine Opfer als geheimnisvolle verschworene Macht. Diese gilt ihm dann als verantwortlich für wirtschaftliche Zerrüttungen und daraus folgende soziale Probleme. (Bsp. aus Rheinland) In der Logik dieser Denkweise müsse man sich von beiden - den „dummen Negern“, die über uns herfallen und ausplündern sowie von der bösen Macht der Juden befreien. Damit soll die angeblich „ursprüngliche“ Harmonie wieder hergestellt wird. Reale Probleme werden nach außen verlagert, nicht im inneren selbst verortet. In diesem Zusammenhang ist eine Abgrenzung des Antisemitismus vom Judenhass (dem Antijudaismus) nötig: letzterer argumentiert stets religiös: seine Opfer galten ihm als „gereinigt“, wenn sie ihre Religion abschwörten und sich zum Christentum bekannten. Anders im Antisemitismus: assimilierte Juden gelten ihm als die schlimmsten. Darin drückt sich sein perfides Wesen aus: sie müssen ihm schlimmer vorkommen, weil sie ja nur geschickter und verdeckter ihre Macht spielen lassen würden. Hier findet der Antisemitismus eine deutliche Parallele zum Rassismus: auch er spricht seinen Opfern Eigenschaften zu, die im Blut, in der Seele, der „natürlichen“ Kultur dem Charakter verborgen liegen und gegen die der oder die betreffende nichts unternehmen kann. Die Ideologie der Biologisierung des Sozialen zeigt sich wesentlich darin, dass sie die Interessen der Gemeinschaft über die des Einzelnen stellt. Die Ansprüche und Bedürfnisse des einzelnen zählen. Dabei, so konnte man auch argumentieren, ist doch eine Gemeinschaft um des einzelnen willen da und kann in nichts sonst eine Existenzberechtigung finden. Sie stellt sich die Gesellschaft analog einem biologischen Organismus vor, dessen einzelne Individuen nur ausführende Organe wären. Oft stellt sie, ganz im Gegenteil zu dem was die meisten von ihr erwarten, ganz tolerant die Vielfalt der Völker in den Mittelpunkt - solange diese sich nur nicht vermischen. Dabei handelt es sich um eine Denkweise, die widersprüchliche soziale Prozesse und Verhältnisse harmonisiert. Der Philosoph Detlev Claussen spricht von einer „Alltagsreligion“. 2. Die politische Ökonomie des Antisemitismus (Robert Kurz) Antisemitisches Denken resultiert zusammen mit anderen Ideologien der Biologisierung des Sozialen (z.B. dem Rassismus) aus der Ökonomie der Waren produzierenden Gesellschaft. Sie ist Ausdruck der indirekten Vergesellschaftung, die die Menschen im Kapitalismus zusammenbringt: Sie treten sich in dieser Gesellschaft gegenüber als Warenbesitzer und die Bewegung dieser Waren stellt hinter ihrem Rücken als „invisible hand“ die schöne Maschine der kapitalistischen Gesellschaft her. Wir haben es also mit einer Gesellschaft zu tun, deren Entwicklung nicht dem Willen der sie betreibenden Menschen unterliegt. Der kritische Sozialphilosoph Adorno sagt, der Kapitalismus setzt sich hinter dem Rücken, über die Köpfe der Menschen hinweg und mitten durch sie hindurch durch. Dabei steuert er diese zum Leidwesen der sie Betreibenden nicht umsichtig sondern zerstörend: sie ruft Krisen, Inflation, Deflation und massenhafte Verelendung hervor. Daher besteht in ihr die Tendenz, die abstrakte und indirekte Vergesellschaftung in der antisemitischen Alltagsreligion abzurufen. „Marktwirtschaft“ wird halluziniert als angeblich an sich gesunde und harmonische Wirtschaftsordnung, die von einzelnen Bevölkerungsgruppen (Schmarotzer, Machenschaften, unfähige Politiker und Manager, Raubtierkapitalisten aber auch faule Arbeitslose)angeblich untergraben würde. In diesem Kontext entstand die antisemitische Unterscheidung von „raffendem“ und „schaffendem“ Kapital - das eine angeblich sinnvoll produzierend, das andere angeblich lediglich abschöpfend. Es gäbe die guten Unternehmer, die mit sinnvoller Produktion alles für das Wohl des Volkes tun - sie stellen nützliche Güter her und schaffen Arbeitsplätze. Diesem schaffenden Kapital wurde logisch zugeordnet - die nicht minder schaffende, ehrliche und deutsche Wertarbeit. Auf der anderen Seite wurden jene angeblich Raffenden einsortiert, die die Produktion angeblich nur absaugen oder für sich ausnutzen: Banken, die Spekulanten, die Schmarotzer aber eben auch Arbeitslose als böse zersetzende Wesen halluziniert. Das eigene zerstörerische Handeln wird in einem solchen Denken weghalluziniert. Das die Arbeit, so erzwungen sie sein mag oder so „ehrlich“ sie sich ankommt, erst das böse Kapital hervorbringt, das kein moderner Kapitalismus ohne Banken, Börse und Spekulation existieren kann - all das verdrängt diese Denkweise aus der Logik der kapitalistischen Produktionsweise heraus. Man beschwert sich über den bösen „Raubtierkapitalismus“ der Banken und Großkonzerne und reflektiert nicht, dass auch das eigene bürgerliche Handeln diesen Maßstäben folgt. Man will die Schließung von Betrieben durch „gewinnsüchtige Manager“ verhindern und erkennt nicht, das es ohne effizientes Management keine Arbeit für niemand gibt. Diese Ideologie kann bruchlos an die antijüdischen Traditionen des Abendlandes anschließen. Seit hunderten Jahren galten die Juden als jene, die die Gesellschaft unterwühlten, die Pest verursachten, die Brunnen vergifteten und geheime Seilschaften bildeten. Sie waren in den Gesellschaften, in denen sie lebten, stets ausgeschlossen und musste jene Tätigkeiten ausführen, mit denen die Christen sich im frühen MA nicht abgeben durften, die aber dennoch notwendig für die damals bestehenden Gesellschaften waren (Handel, Umgang mit Geld, Einnahme von Steuern etc, Bsp. vom Bauern). Daher wurden ihnen stets die gesellschaftlichen Missstände angelastet. So war es dann auch kein historischer Zufall sondern folgerechte Logik, dass jene, die angeblich die gesunde Marktwirtschaft zersetzen immer wieder mit den Juden assoziiert wurden. Daher sprechen wir von der Politischen Ökonomie des Antisemitismus. Der Antisemitismus ist daher als Ideologie in der kapitalistischen Gesellschaft stets latent vorhanden. Seine militanten Eruptionen erfolgen jedoch zumeist in krisenhaften Zuständen. Überproduktionskrisen, der deutsche „Gründerkrach“ 1873, die Inflation 1921 -23 oder die große Depression von 1929 bis 1933 waren daher stets vom Aufschwung des offenkundigen Antisemitismus flankiert. Heute befindet sich die kapitalistische Weltwirtschaft erneut in einer schweren - unseres Erachtens seiner letzten große Krise (M. wir das nachher ausführen), die Gefahr ist daher auch heute offenkundig. In Momenten deutlicher Bedrohung besteht die Tendenz die antisemitische Alltagsreligion abzurufen - sie erlangt Handlungswirksamkeit. Wir bestimmten den Antisemitismus als eine Ideologie. Darunter ist eine Denkweise zu verstehen, mit deren Hilfe sich Menschen reflektierend über die Gesellschaft in der sie leben klar zu werden versuchen. Dabei entdecken sie bestehende Probleme, aber nicht indem sie sie aufdecken, sondern indem sie sie eben erkannt, sogleich wieder verhüllen. Dies geschieht, indem man sie verdeckt, wegwischt, anderen anlastet oder für natürlich und hinnehmbar erklärt. Die soll kurz skizziert werden am möglichen Umgang mit Leiden, die in der kapitalistischen Gesellschaft notwendig entstehen: sobald sie vielen bewusst werden und man über ihre Ursache nachdenkt setzt die Ideologisierung des Leidens ein (Bsp. Arbeitsplatz): sie ist z.B. möglich als ein Naturalisieren (es ist halt so), Externalisieren (andere sind schuld), Bagatellisieren (es ist ja nicht so schlimm), Funktionalisieren (es muss so sein), Individualisieren (ich bin selbst dran schuld), verleugnen (ich leide ja gar nicht). Eine andere, gegensätzliche, eine nichtideologische Umgangsweise bestünde im begrifflichen Durchdringen des Leidens und im anschließenden Angehen des Leidens. Das wäre ein kritischer Umgang mit dem Leiden, welcher auf sein Abschaffen zielen würde (sich einsetzen für bessere Lebensbedingungen, Gesellschaftskritik) - das aber wäre das Thema eines anderen Vortrags. 3. Auschwitz als die "Deutsche Revolution": Die Modernisierungsexzesse der Zuspätgekommenen Aus der krisenhaften bürgerlichen Gesellschaft resultiert - wie oben festgestellt - der Wunsch nach einer gesunden und harmonischen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die leicht an antisemitisches Denken anschlussfähig ist, sofern man nicht zu einer kritisch-begrifflichen Durchdringung und Umwälzung vordringt. Daher ist die antisemitische Ideologie nicht als ein halber Antikapitalismus zu verstehen, der quasi auf halben Wege stehen geblieben sei. Vielmehr stellt er eben eine ideologisch verzerrende Form der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen dar. Die antisemitische Ideologie gebärdet sich sehr oft antikapitalistisch, will aber den Pelz waschen ohne ihn nass zumachen - sie will auf die zentrale Prinzipien des Kapitalismus, die gerade seine Disharmonie immer wieder hervorzaubern gerade nicht verzichten. Daher muss sie seine missliebigen Seiten: Inflation, Deflation, Arbeitslosigkeit, soziales Elend und Unsicherheit sowie Egoismus immer wieder anderen anlasten. Kapitalistische Ordnung schreit daher nach Sündenbockmechanismen und Plänen zur möglichen Ausschaltung der erklärten Sündenböcke. Das Perfide der antisemitischen Logik: man hasst seine Opfer, bringt sie sämtlichen Unannehmlichkeiten und Brutalitäten dieser Gesellschaft in Verbindung und braucht sie dennoch zur eigenen psychischen wie kollektiven Stabilität, da die Ursachen ja nicht verschwinden. Man hasst daher ohne Ende und kennt keine Erfüllung. Der Antisemitismus entpuppt sich als die hässliche Fratze des eigenen schönen staatsbürgerlichen Selbst. Der Antisemitismus ist der ungeliebte und anderen angedichtete Teil der eigenen Persönlichkeit wie des eigenen gesellschaftlichen Verhaltens. Die Erfindung („Konstituierung“) von Sündenböcken, die angeblich immer wieder die eigene Harmonie unterminieren, ruft nach Ausgrenzung und perspektivisch Vernichtung der Angeklagten, wie auch zur immer weiter antreibenden stetigen Suche nach „Objekten“ des Hasses und der Vernichtung. Er ist daher eine Kette des ständig sich steigernden Hasses und der fortwährenden Projektionen ohne Ende. Die Besonderheit des Antisemitismus im deutschen Nationalsozialismus war sein eliminatorischer (vernichtender) Charakter (Goldhagen): Der vernichtende Grundzug war und ist stets im Antisemitismus angelegt - als Wunsch nach Vernichtung derer, von denen man sich bedroht fühlt, deren Vernichtung einem die Befreiung von der offenkundigen Bedrohung verspricht. Er sollte als Deutsche Revolution (Postone) „die Welt vom Übel befreien“ und zu einer harmonischen gesellschaftlichen Welt- Ordnung führen. Da jedoch die Bedrohung in der bürgerlichen Gesellschaft selbst angelegt war und nach wie vor auch ist, erwies sich der nationalsozialistisch-antisemitische Vernichtungswahn als maßlos. Auschwitz war historisch einmalig. Niemals zuvor wurden Menschen systematisch aufgrund antisemitischer Projektionen ermordet. Auschwitz kann daher nicht mit anderen Verfolgungen und Ermordungen gleichgesetzt werden. Die Spezifität des deutschen Vernichtungswahns bestand nicht nur im Morden schlechthin und auch nicht nur in seiner Art und Weise (industriell) - sondern (zunächst) wesentlich in seiner Motivation: der systematischen „Ausmerzung“: wobei die Juden stellvertretend für ein Prinzip, nämlich der Beseitigung der angeblich äußeren Bedrohung zwecks Herstellung innerer Harmonie der deutschen Gesellschaft umgebracht wurden. Mit den Juden sollte ein im Inneren der Gesellschaft selbst angelegtes Prinzip „ausgeschaltet“ werden. Im Folgenden sei mir eine kleine Abweichung vom Thema gestattet. Zur weiteren Entfaltung der Thematik ist es notwendig, einige Gedanken zum Thema rationales und irrationales Denken und Handeln zu entwickeln. Als rational soll im Folgenden ein Denken und Handeln bezeichnet werden, dass sich logisch an der Verfolgung von Zielen durch den Einsatz bestimmter Mittel orientiert. Irrational gilt im Gegensatz dazu eine andere Art zu Denken und zu handeln, die sich nicht vordergründig an der Erreichung von Zielen durch den Einsatz bestimmter Mittel bestimmt, sondern quasi „aus dem Bauch heraus“, „spontan“. Diese Unterscheidung ist grundlegend und bestimmend für Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft: also uns alle. Allerorten werden „vernünftig sein“, „rational handeln“ eingefordert, im akademischen Bereich muss sich eine Theorie erst als „wissenschaftlich“ erweisen, ehe sie ernst genommen, bevor sie überhaupt diskutabel wird. Andererseits wird nicht selten, oft von denselben Menschen das Gegenteil dieser Umgangsweise stark gemacht: eben die spontane Entscheidung aus dem Bauch heraus, bzw. es werden bestimmte Taten als Ausdruck puren Hasses, bar jeglicher Vernunft gekennzeichnet. Es ist für die jetzige Gesellschaft grundlegend, dass ein Mensch bzw. eine bestimmte Handlung als vernünftig oder unvernünftig eingeordnet wird (Bsp.). An der Einordnung von Auschwitz bricht sich diese Vorgehensweise. Auschwitz wird auf wie folgt skizzierte Weise oft gegensätzlich einsortiert, um damit gebannt zu werden: Bei der Rationalisierung bekommt Auschwitz seine Singularität (Einmaligkeit) abgesprochen und wird zu einem Ereignis neben vielen anderen. Auschwitz wird logisch in eine Kette von historischen Ereignissen eingereiht. Bei dem liberaldemokratischen Soziologen Ralf Dahrendorf spitzt sich dass soweit zu, dass er Auschwitz in gewisser Weise sogar für notwendig erklärt, weil dadurch Deutschland modernisiert und die Marktwirtschaft voll durchgesetzt wurde. Damit war Auschwitz die Grundlage für die Demokratie. Anders verfahren andere rein rationale Erklärungsweisen wie etwa die des traditionellen Marxismus, der hinter der Zerstörung das individuelle Profitstreben einzelner Kapitalisten vermutete, die aus den Juden angeblich nur einen möglichst großen Extraprofit ziehen wollten. Auch diese Denkweise greift nicht - auch wenn es freilich Kapitalisten gab, die an Auschwitz profitierten. Diese Denkweise erklärt nicht den umfassenden Charakter der „Vernichtung“, nicht das Aufspüren der Juden - hier können nur Erklärungen weiterhelfen, die erkennen, dass die Täter von einem irrsinnigen Hass auf ihre Opfer beseelt gewesen sein müssen (darauf hingewiesen zu haben ist der großen Leistungen von Daniel J. Goldhagen). Ebenso wenig können imperialismus-theoretische Erklärungen, die von dem Wunsch der deutschen sich Land zu erobern oder sich Rohstoffe anzueignen ausgehen, weiterhelfen. Auch sie sind nicht in der Lage, die Ermordungsexzesse zu erklären. Um land zu erobern und zu besiedeln muss man eben nicht systematisch eine bestimmte Bevölkerungsgruppe ermorden. Schauen wir uns die andere, entgegengesetzte Erklärungsweise von Auschwitz an: Auschwitz sei so unverständlich, dass es da nichts zu erklären gäbe. Jede Erklärung sei in Anbetracht des Schreckens schon wieder eine Rechtfertigung. So verständlich diese Position ist, so grundfalsch ist sie auch: Auschwitz wird damit aus der Geschichte der Moderne, des Kapitalismus exterritorialisiert, Auschwitz erscheint als ein vom Himmel gefallenes Ereignis. Der Zusammenhang von Auschwitz mit der Gesellschaft, in der es geschah, verschwimmt und damit scheitert man an dem sich oft gestellten Anspruch, alles zu tun, um Auschwitz zu verhindern. Häufig wird in diesem Zusammenhang von einer „deutschen Spezifik“ gesprochen. Auschwitz entspringe nicht dem Kapitalismus, sondern einem besonderen deutschen Wesen, das sich historisch gebildet hätte. So sei Deutschland besonders rückständig gewesen, wodurch rückwärtsgewandte, antimoderne archaische Kräfte hier besonders großen Einfluss gehabt hätten. Das mag zwar sein - zur Vernichtungslogik der Shoah führten diese aber nicht. Außerdem liefert die Irrationalisierung eben letztendlich doch wieder eine rationale Erklärung - auch wenn sie das nicht gern zugibt: Sie erklärt nämlich streng rational mit dem irrationalen Handeln der Menschen - setzt also an die Stelle der einen rationalen Erklärung: Modernisierung, Extraprofit oder Raubzug - eine andere. Damit ist auch diese Erklärung letztlich nichts anderes als eine „Rationalisierungsstrategie“. Im Gegensatz zu den beiden kritisierten Positionen kommt es darauf an, sowohl rationalisierende wie irrationalisierende Erklärungsmuster anzugreifen. Im Gegensatz zu diesen beiden Positionen gilt es, Auschwitz aus der kapitalistischen Gesellschaft, aber nicht als beliebiges Ereignis im Kapitalismus, sondern als dessen pure Zuspitzung zu begreifen: Auschwitz drückt nicht die Verwertungslogik, sondern die über sich selbst hinausschnappende Verwertungslogik aus, Auschwitz ist der Versuch der vollen Durchsetzung des Werts in Gestalt der Vernichtung des Werts. Robert Kurz kritisiert Auschwitz als negative Fabrik. Dazu sind einige Erklärungen nötig: Die kapitalistische Gesellschaft ist wesentlich über den Wert vermittelt. Der Wert drückt die durchschnittliche, gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit aus, die sich in der einzelnen Ware niederschlägt und die dann im Warentausch auf dem Weltmarkt vielfach gebrochen realisiert wird. Wir nennen den Kapitalismus eine wertverwertende Gesellschaft: sie beruht auf dem Grundprinzip, sich über den Austausch von Waren zu vermitteln, also sich als Gesellschaft herzustellen. Dies ist kein ausschließlich ökonomisches Prinzip, sondern durchdringt alle gesellschaftlichen Bereiche. Der Wert ist jene indirekte gesellschaftliche Vermittlungsinstanz, die die Menschen im Kapitalismus via Weltmarkt und Durchschnittsprofitrate zusammen bindet und dabei über ihr Wohl und Wehe entscheidet. Der Ökonom Adam Smith sprach von der invisible hand, die die Menschen geheimnisvoll zusammen bringt. Die moderne Ökonomie spricht lapidar und verkürzt von einer Preisbildung auf dem Markt nach dem ausgleichenden Mechanismus von Angebot und Nachfrage. Wie diese selbst wiederum entstehen, ist für sie ein weitgehend außer-ökonomisches Problem. Eine Gesellschaft, in der alle entscheidende Produktion als Warenproduktion, also für den Markt abläuft, nennen wir eine solche, in welcher sich der Wert völlig durchgesetzt hat. Die indirekte Vermittlung wird von den Menschen - wenn überhaupt thematisiert - dann als geheimnisvolle Macht hinter ihrem Rücken - und von ihnen selbst unabhängige Macht wahrgenommen. Da es sich dabei um einen von ihnen selbst, durch ihr eigenes gesellschaftliches Handeln hervorgebrachten Prozess handelt, wird ihnen nicht bewusst. Daher sind sie bestrebt, die schlechten Seiten dieser Vermittlung anderen anzulasten. Besonders die antisemitische Ideologie will gerade die guten von den schlechten Seiten dieser Art der Produktion voneinander trennen, indem sie die negativen Konsequenzen den Juden zuweist. Alle - aber wirklich alle, sollen arbeiten, schaffen und kämpfen (also heftig und kräftig „Wert schöpfen“) - andererseits will man von den negativen Konsequenzen einer auf dem Prinzip des Wertes beruhenden Gesellschaft nichts wissen. Diese werden im Antisemitismus den Juden und auch anderen Personen angelastet und diese sollen dann stellvertretend ausgemerzt werden. Die dem Kapitalismus eigentümliche gespaltene Einheit von Arbeit und Tausch/ Handel (Wert!) wird bei dieser ideologischen Projektion auf gespalten und soll in deutschen Banken, deutschen Kapitalisten und deutschen Händlern seine Versöhnung finden. Schließlich kommt was kommen muss, denn auch deutsche Arbeiter, bei deutschen Kapitalisten, deren Waren von deutschen Händlern vertrieben werden, steuern die Wirtschaft zielgerecht in die nächste Inflation oder Deflation. Ist doch die wertvermittelte Gesellschaft nicht direkt, sondern eben nur indirekt (hinter ihrem Rücken, über ihren Köpfen und doch mitten durch sie durch…) Ergebnis menschlichen Handelns. Es müssen also erneut Opfer gesucht werden, die für die Konsequenzen des eigenen gesellschaftlichen Verhaltens gerade zu stehen haben. So wurden die Juden zunächst enteignet, dann ghettoisiert, nach und nach ihrer Rechte beraubt, schließlich sollten sie umgesiedelt werden - bis man schließlich ans mörderische Werk ging und sie systematisch umbrachte. Auschwitz ist die äußerst mögliche Zuspitzung der kapitalistischen Brutalität. Und Auschwitz war grundlegendes Moment der völligen Durchsetzung des Kapitalismus in Deutschland. Denn indem die Deutschen nach außen hin ihre mörderischen Wahnideen an den Juden ausagierten, formierten sie sich nach innen zur wertvertwertenden Zwangsgemeinschaft, deren Konsequenzen sie zu immer neuen Massenmordexzessen anstachelte. Dabei brachte man Deutschland nach vorn - mit mörderischen Konsequenzen. Dahrendorf ist somit negativ Recht zu geben. Ohne Auschwitz und Nationalsozialismus gäbe es in Deutschland keinen voll entfalteten Kapitalismus, also kein Wirtschaftswunder und keine bürgerliche Demokratie. Aber gerade darin wird deren Schrecken deutlich und das, was sie noch alles für uns bereithalten könnten. Auschwitz gilt es statt positiv, vielmehr negativ zu historisieren: da der Kapitalismus zu Auschwitz führte und Kapitalismus in Deutschland nur durch Auschwitz möglich, kann im Kapitalismus ähnliches wiederkehren (unter völlig anderen Bedingungen und mit verändertem Charakter) - deshalb muss sich die Menschheit bedingungslos vom Kapitalismus verabschieden. Der Kapitalismus ist mit Deutschland zusammen zu entsorgen. Den dargelegten gegensätzlichen Umgangsweisen mit Auschwitz entspricht die in der abendländischen kapitalistischen Moderne durchweg bestehende Dialektik von Rationalität und Irrationalität. Das Rationale beruht auf irrationalem Boden und ist recht eigentlich nur die Spitze des (weitgehend irrationalen) Eisbergs. Sigmund Freud und die Autoren der „kritischen Theorie“ um Horkheimer, Adorno und Marcuse beschrieben diesen Sachverhalt glänzend. Gleichzeitig hat alles sich irrational, impulsiv und emotional Gebende nicht selten durchweg rationalen Charakter. Maria Wölflingseder spricht daher von der Rationalität des Irrationalen und Irrationalität des Rationalen. So scheint der Kapitalismus alias Marktwirtschaft durchweg rational zu sein. Effizienz und Effektivität sind seine Kernmerkmale. Die grundlegenden ökonomischen Prinzipien, an denen er sich orientiert sind das Minimal- und das Maximalprinzip: aus so wenig wie möglich so viel wie nur möglich rausholen und etwas mit den geringst möglichen Kosten produzieren. Alle Ökonomie löst sich auf in Ökonomie der Zeit, so Marx. Doch schaut man sich an, wofür produziert wird, so entpuppt sich schnell die Irrationalität dieser Rationalität. Ein Großteil der Menschheit hungert, durstet, erkrankt und ist ungebildet in einer von materiellem Reichtum strotzenden Welt. Die Vernichtungspraxis des Nationalsozialismus, um zum Thema zurückzukehren, erfolgt scheinbar nach gegensätzlicher Logik. Hier wurde gemordet um des Mordens willen. Man ließ in Hochzeiten des Zweifrontenkrieges lieber Züge nach Auschwitz als an die Ostfront fahren. Nichts könnte irrationaler sein. Doch auch diese irrationale Massenmordpraxis war strengstens rational durchgeplant. Und auch die Motivation hinter dieser - selbst vom Standpunkt der deutschen Mörder aus gesehen - Irrsinnsidee, ist in sich rational: wenn man davon ausgeht, dass die Juden mit ihren geheimen Machenschaften deutsche Siege verhindern, indem sie Deutschland unterwühlen, muss man freilich auf diese absurde Schlussfolgerung kommen. Die Rationalität kapitalistischer Produktion und das irrationale Morden um seiner selbst Willen hängen in Deutschland aufs Engste zusammen: Während man sich via vernichtendem, eliminatorischem Antisemitismus unter dem Schlagwort der „Volksgemeinschaft“ zusammenschweißen wollte, holte man in Punkto Verwertungslogik kräftig auf. Während die Deutschen zum Vernichtungskrieg gegen Kommunismus, den Westen und die Juden, die als „Strippenzieher“ von beiden halluziniert wurden, rüstete, „emanzipierte“ und „revolutionierte“ man sich zum modernen kapitalistischen Staat. Bis 1933 lebten viele Menschen in Deutschland noch in bäuerlichen und handwerklichen Strukturen, die im Westen schon längst das Zeitliche gesegnet hatte. Der Philosoph Helmuth Plessner sprach von Deutschland als von einer „zu spät gekommenen Nation“. Das Deutschland von 1945 kannte demgegenüber kaum noch Menschen, die nicht in Verwertungsprozessen standen. Das Wirtschaftswunder der Fünfziger und frühen Sechziger basierte materiell und gesamtgesellschaftlich auf den verbrecherischen „Leistungen“ der „deutschen Revolution“ des Nationalsozialismus. Volkswagen, Autobahnen und eine gigantische Rüstungsindustrie waren durchgesetzt wurden durch das Zusammenschweißen der Deutschen in ihrer mörderischen Gemeinschaft. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang unbedingt auch die Fortschritte der Medizin, die durch Versuche an Menschen in den Vernichtungslagern gewonnen wurden. Von ihnen profitiert noch heute die sich neutral und wertfrei gebende medizinische Naturwissenschaft. Allenfalls stellen sich einige versponnene Naturwissenschaftler diesbezüglich die Moralfrage. Auf eine Radikalkritik an der kapitalistischen Gesellschaft und ihrer ganz und gar nicht „wert“freien Wissenschaft kommen sie dabei leider nicht. Diese Einheit des Mordens um seiner selbst willen mit stinknormaler kapitalistischer Realität macht die deutsche Spezifik und die Singularität von Auschwitz aus: In Deutschland gehör(t)en irrationales Morden und rationale Produktion aufs engste zusammen - das eine war die Bedingung des anderen. Damit offenbarten die Deutschen in ihrer einzigen erfolgreichen Revolution, der von 1933 bis 1945, die in der kapitalistischen Logik verborgenen Vernichtungsqualitäten in bisher unbekanntem Ausmaß. Im Nationalsozialismus ergriff der Antisemitismus eine umfassende Massenbasis. In der heutigen Krisensituation gibt es genug Anknüpfungspunkte für eine neue antisemitische Massenbewegung mit nicht minder blutigen Konsequenzen. Auch wenn die Auschwitz so nicht wiederkehren wird, ist es doch nötig zu ergründen, wie sich heutiger, aktueller Antisemitismus zeigt. Martin D. -- +++ GMX - die erste Adresse für Mail, Message, More +++ Neu: Preissenkung für MMS und FreeMMS! http://www.gmx.net _______________________ http://www.oekonux.de/
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