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Message 00576 [Homepage] [Navigation]
Thread: choxT00576 Message: 1/1 L0 [In date index] [In thread index]
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[chox] moishe postone über den zusammenhang von weltmarkt, kapitalismus und antisemitismus



»Und er ist es heute wieder ...« 
 


Moishe Postone über den Zusammenhang von Weltmarkt, Kapitalismus und
Antisemitismus 


Der 1979 erschienene Aufsatz »Antisemitismus und Nationalsozialismus« von
Moishe Postone wird in der Linken der BRD seit Beginn der neunziger Jahre
wieder verstärkt gelesen. Im Zentrum der neuen Aufmerksamkeit stand dabei zunächst
seine Erklärung von Nationalsozialismus und Antisemitismus, die beide ernst
nimmt, statt sie im Gefüge einer allgemeinen Kapitalismuskritik unter ferner
liefen zu behandeln. Mit seinem spezifischen Erklärungsansatz, der eine
Analyse des Antisemitismus mit der Marxschen Theorie zu verbinden sucht, ist
»Antisemitismus und Nationalsozialismus« in der wertkritischen Linken bis heute
prägend. Das Interview mit Moishe Postone soll helfen, die historischen
Entwicklungen innerhalb der spezifischen sozialen Formation des Kapitalismus zu
verstehen, die für die Entstehung von Antisemitismus ausschlaggebend sind. Moishe
Postone promovierte 1983 an der Goethe-Universität in Frankfurt/M. und lehrt
heute an der University of Chicago Geistesgeschichte und
Gesellschaftstheorie. Sein Buch »Zeit, Arbeit und soziale Herrschaft«(1) ist soeben auf deutsch
bei ça ira erschienen. 


PHASE2: Seit dem 11. September wird in der Linken hier, aber auch von Seiten
der Regierung in den USA, wieder davon gesprochen, es müssten »Lehren aus
der Vergangenheit« gezogen werden. In »Antisemitismus und Nationalsozialismus«
hatten Sie kritisiert, dass trotz des Slogans von den »Lehren aus der
Vergangenheit« für die Linke in Deutschland Projektionen und Identifikationen das
Handeln bestimmen. Wenn heute die Unterstützung der israelischen Armee mit der
Begründung eingefordert wird, sie stehe im Gegensatz zu den palästinensischen
Gruppen in der wirklichen Tradition des Warschauer Ghettos, sind dann heute
im Gegensatz zu den siebziger Jahren eher »Lehren aus der Vergangenheit«
gezogen worden?


Moishe Postone:Weder die einseitige Unterstützung der PalästinenserInnen
noch die Verteidigung der israelischen Armee hat etwas mit einem Lernen aus der
Vergangenheit zu tun. Eine Frage, die in diesem Zusammenhang aber schon in
den siebzigern gestellt werden konnte, ist, warum plötzlich der Kampf der
palästinensischen Nationalbewegung die große Bedeutung gewann, die er für die
Linke hatte. Der palästinensische Kampf war für einen Großteil der Linken viel
bedeutsamer als der Kampf irgendeiner anderen nationalen Bewegung. Und warum
wurde zugleich Zionismus nicht einfach als etwas behandelt, das
selbstverständlich als nationalistische Bewegung kritisiert werden konnte, sondern auf eine
Art und Weise, die fast antisemitisch war? Der Zionismus wurde dargestellt,
als sei er Teil einer weltweiten Verschwörung und als seien Juden deshalb
überall anzugreifen. 

Es ist sehr unangenehm für nordamerikanische Juden nach Europa zu kommen,
und zu bemerken, dass fast jede Synagoge seit den siebziger Jahren von der
Polizei bewacht werden muss. Diese Bedrohung wird einfach als Teil eines
»Befreiungskampfes« hingenommen, ohne dass die Leute wirklich hinterfragen, was die
Vorgehensweisen von »Befreiung« sind. Der African National Congress zum
Beispiel ist niemals auf eine solche Art und Weise vorgegangen, sondern lehnte
Angriffe auf Zivilpersonen aufgrund seiner politischen Prinzipien ab. Die Linke
aber scheint jede Fähigkeit verloren zu haben, zwischen den verschiedenen
Taktiken und Strategien zu differenzieren, die von verschiedenen nationalen
Bewegungen benutzt werden. Das alles bedeutet nicht, dass eine »Lehre aus der
Vergangenheit« gezogen wurde. Im Gegenteil mir scheint es, als ob die
Vergangenheit einfach weitergeht. Wenn heute Leute Sharon mit Bezug auf die
Vergangenheit verteidigen, lässt sich das vielleicht auch als eine Reaktion auf 30 Jahre
sehr, sehr unkritische linke Politik mit Bezug zum Nahen Osten verstehen. Es
hat an sich, aber sehr wenig mit einem Lernen aus der Vergangenheit zu tun. 


PHASE2: Was aber wäre dann ein tatsächliches Lernen aus der Vergangenheit?


Moishe Postone: Ich benutze diesen Ausdruck nie. Leider wird er gewöhnlich
benutzt, um zu sagen, dass eine einfache Lehre gezogen und gelernt wird. Das
ist etwas anderes als zu versuchen, die Vergangenheit zu verstehen. Zum
Beispiel gab es bis 1945 etwas, das faschistischer Antiimperialismus genannt wurde.
Das zu wissen, hätte der Linken in den siebzigern und achtzigern immens
geholfen, als sie sowohl progressive als auch faschistische antiimperialistische
Bewegungen unterstützte, weil sie einfach unterstellte, dass alles, was sich
antiimperialistisch nennt, fortschrittlich sei. Dass das auch viel mit der
Politik der Sowjetunion zu tun hatte, sei an dieser Stelle nur angemerkt. 


PHASE2: Ähnlich waren auch Ihre Überlegungen in »Nationalsozialismus und
Antisemitismus« motiviert, bei denen es um Bedeutung des Antikapitalismus für
den Nationalsozialismus ging. Dort argumentieren Sie, dass nicht nur Shoah und
Antisemitismus zum Kern des Nationalsozialismus gehören, sondern dass sich in
beiden auch der antikapitalistische Charakter des Nationalsozialismus
ausdrückte.


Moishe Postone: Die Bezeichnung »antikapitalistischer Charakter« habe ich
nie benutzt, sondern gesagt, das sei eine fetischisierte Form des
Antikapitalismus. Das ist etwas anderes, denn »antikapitalistischer Charakter« legt nahe,
dass der Nationalsozialismus absichtlich und bewusst gegen den Kapitalismus
war – was er nicht war. Der Ausdruck, eine »fetischisierte Form des
Antikapitalismus« versucht die besonderen Züge der nationalsozialistischen
Revolte in Bezug darauf zu erklären, was den Unterschied ausmacht, zwischen dem,
was das Kapital ist und was es zu sein scheint. 


PHASE2: Die Problematik Ihres Arguments liegt darin, wie der komplizierte,
doppelte Schritt von Reduktion und Übertragung in ihm erklärt werden kann.(2)
In Ihrem Aufsatz haben sie mit Analogien gearbeitet. Sie beschreiben die
Abstraktionseffekte des Werts im Kapitalismus und die zugeschriebenen und realen
Rollen von Juden in Europa. Wie aber konnte das Ökonomisch-Abstrakte mit der
Ideologie der Judenfeindschaft identifiziert werden? Oder entsteht der
Antisemitismus doch vor den ökonomischen Zusammenhängen?


Moishe Postone: Beide sind innerlich miteinander verwoben. Es ist bedeutsam,
dass es in Ländern, die vor dem 19. Jahrhundert liberal-bourgeois waren,
zwar anti-jüdische Vorurteile gab, aber nicht die Vorstellung, dass die Juden
die Welt kontrollieren. Das gibt es nicht in England, das gibt es nicht in
Holland, und das gibt es auch nicht in den USA. Das ist so sehr bedeutsam, weil
es zeigt, dass es sich hier nicht nur um die abstrakte Frage handelt, ob
Kapitalismus Antisemitismus hervorbringt. 

Antisemitismus ist vielmehr eine Möglichkeit, abhängig vom strukturellen Ort
einer Gesellschaft innerhalb der Weltordnung die Macht des Kapitals auf
globaler Ebene zu verstehen. Es geht nicht nur um Geld und auch nicht nur um
Kapital auf der nationalen Ebene. Antisemitismus hat als Gegenstand
internationale Macht. Die Briten und Amerikaner dachten nicht, dass die Juden die Welt
kontrollieren. Nicht, weil sie bessere Menschen sind, sondern weil sie sich,
bezogen auf den Weltmarkt, an einem anderen Ort befanden. Gesellschaften, in
denen die Kapitalakkumulation später einsetzt und deshalb die Vermittlung durch
Nationalstaaten stattfindet, Frankreich, Deutschland und Russland, sind
Gesellschaften, in denen Antisemitismus sehr stark auftaucht. Es ist also eine
historische Frage, die nur betrachtet werden kann, wenn die globalen Positionen
der verschiedenen Gesellschaften gesehen werden und nicht als eine rein
logische Übung, die nichts mit der historischen Position zu tun hat. 


PHASE2: Trotzdem wirkt das Argument noch ökonomistisch. Die Differenz zu
einem solchen Ansatz wird vielleicht klarer, wenn der Unterschied zwischen dem
Antisemitismus in Frankreich, der nicht zur Shoah führte, und dem spezifisch
deutschen Vernichtungsantisemitismus einbezogen wird?


Moishe Postone: Ich habe Schwierigkeiten auf diesen Einwand zu antworten,
weil ich glaube, dass wir die Marxschen Kategorien der Kritik der politischen
Ökonomie vielleicht auf fundamental andere Art verstehen. Mir scheint, dass
Ihr die Kategorien so lest, dass sie einem Basis-Überbau-Modell folgen, bei dem
die Ökonomie die Basis ist. Die Kategorien der politischen Ökonomie
erscheinen dann als ökonomische Kategorien, von denen angenommen wird, sie lägen
ökonomischen Gesetzen zugrunde. Ich benutze dagegen die Kategorien als
strukturierte Formen, die sowohl Praxen als auch das Bewusstsein strukturieren. Sie
sind für mich also, wie Marx sagt, »Daseinsformen« einer speziellen sozialen
Ordnung. Der von Euch aufgemachte, sehr traditionalistische Dualismus von
Ökonomie und Denken ist es, den Marx, Lukacs und Adorno, bei all ihren
Unterschieden, zu überwinden versuchen. 

Zweitens würde ich eher Ebenen der Analyse unterscheiden, als
»ökonomistisch« (sic) und »historisch« auf derselben Ebene gegeneinander zu setzen. Die
Unterschiede zwischen Frankreich und Deutschland sind natürlich ein sehr
komplexes Problem. Ein Unterschied ist die Stärke der republikanischen Tradition in
Frankreich. Trotzdem war der Antisemitismus der französischen Rechten genauso
virulent wie jener der deutschen Rechten. 


PHASE2: Wieso wird sich in diesen Gesellschaften dann nicht einfach an dem
Fetisch orientiert, von dessen Wirksamkeit die Menschen überzeugt sind? Wozu
dient der Antisemitismus, der die Verschiebung der fetischisierten Erfahrung
erfordert?


Moishe Postone: Ich glaube, das war der Schritt, der eine Erklärung der
Weltmacht versuchte, die außerhalb der Kontrolle der Nationalstaaten zu liegen
schien. Das ist eine ganz andere Ebene, die bei der Rede von »Reduktion und
Verschiebung« ausgelassen wird. Was ausgelassen wird, ist die Ebene des
Weltmarktes. Wo es kein Verständnis des Weltmarktes gibt, beginnen sofort die
Verschwörungstheorien. Und die prominenteste Verschwörungstheorie, um den Weltmarkt
zu erklären, war Antisemitismus. Und er ist es heute, wie wir sehen, wieder
geworden. Die Rede Mahatirs vor der Organisation der Islamischen Konferenz war
klassischer Antisemitismus.(3) Sie muss vor dem Hintergrund des dramatischen
sozialen und ökonomischen Niedergangs des größten Teils der arabischen Welt
während der postfordistischen Umstrukturierung verstanden werden. Wenn so
etwas versucht wird, durch Hinweis auf die PalästinenserInnen zu erklären, ist
das ein ernstzunehmender Fehler. Denn das bedeutet, dass die gesamte Ideologie
nicht ernst genommen, sondern in einer extrem rationalisierenden Weise
dargestellt wird. Außerdem führt eine solche Position dazu, dass die
Geschichtsideologie der Arabischen Liga für bare Münze genommen wird. 


PHASE2: Geht mit dieser geographischen Verschiebung des Antisemitismus auch
die Möglichkeit einher, dass sich die antisemitische Ideologie gegen andere
Gruppen als Jüdinnen und Juden richten kann – etwa ge-gen chinesische
Einwandernde, deren Läden bei Unruhen in Indonesien angegriffen werden oder
Kleingewerbetreibende koreanischer Abstammung, die das hauptsächliche Ziel der
Riots in L.A. von 1992 waren?


Moishe Postone: Es gibt ein Problem mit diesen Analogien. Diese Übergriffe
ähneln viel mehr früheren Formen von Antisemitismus im Mittelalter: Angriffe
auf Menschen, die Kaufleute sind und Geld haben. Weder in Westafrika noch in
Indonesien gab es die Idee, dass die InderInnen oder die ChinesInnen die Welt
beherrschen. Ich glaube nicht, dass die meisten Leute wirklich verstehen,
dass das der zentrale Kern des modernen Antisemitismus ist. Dafür ist Mahathirs
Rede ein perfektes Beispiel. Eine Rede darüber, wie eine winzige Minderheit
die Welt beherrscht. Diese Minderheit sei sehr schlau, nur so könne sie das.
Sie habe Kommunismus, Sozialismus und Menschenrechte erfunden, damit sie
unangreifbar ist. Und dann sind da all die muslimischen Staatschefs vom Atlantik
bis zum Pazifik, die aufstehen und ihm mit Standing Ovations applaudieren.
Während die EuropäerInnen offenkundig nicht einmal glauben, dass dies etwas sei,
dass der Beschäftigung wert wäre. Man muss Sharon nicht leiden können, man
muss überhaupt nichts an der israelischen Politik mögen, um zu sehen, dass es
sich hier um eine extrem gefährliche Ideologie handelt. 


PHASE2: Sie gehen also davon aus, dass der aktuelle Antisemitismus sich
darin zeigt, dass von IslamistInnen und islamischen Ländern erneut eine
Verschwörung der Jüdinnen und Juden beschworen wird, um die gegenwärtigen Verhältnisse
auf dem Weltmarkt zu erklären. Ist das eine Veränderung Ihrer Position im
Vergleich zu Ihrer Analyse in den siebziger Jahren?


Moishe Postone: Ich habe nie von etwas gesprochen, das sich auf InderInnen
in Westafrika oder ChinesInnen in Indonesien übertragen ließe. Mir ging es
immer um die Vorstellung von Weltherrschaft. Auch wenn die Situation damals eine
andere war und deshalb vielleicht dieser Aspekt nicht so stark betont wurde,
habe ich den Antisemitismus nie einfach als pogromhaft dargestellt. Und ich
finde auch nicht, dass die Betonung des Weltmarkts eine Position ist, die
sich von der Analyse des fetischisierten Antikapitalismus abhebt, weil ich schon
damals schrieb, dass diese Ideologie in den Staaten stark wird, in denen
eine kapitalistische Modernisierung durch den Staat durchgeführt wird. Es gibt
eine Korrelation. In den älteren bürgerlichen Ländern existiert die
antisemitische Ideologie nur als Randerscheinung. Dort geht man mit dem Abstrakten
anders um. 

PHASE2: Bedeutet das aber nicht, dass in Europa, abgesehen von MigrantInnen,
die sich durch einen Bezug zum arabischen Raum definieren, Antisemitismus
ein Randphänomen sein müsste? Schließlich geht in Deutschland die allgemeine
Orientierung am ökonomischen Liberalismus – genau die umgekehrte
Entwicklung zum Prozess in den zwanziger und dreißiger Jahren – mit einem
Aufleben des Antisemitismus einher. Wie passen diese beiden, in Ihrer Analyse
gegensätzlichen Tendenzen zusammen?


Moishe Postone: Das ist eine extrem komplizierte Frage. Ein Teil der
Antwort, den ich beschrieben habe, ist die unaufgearbeitete Vergangenheit. Ein
anderer Teil ist aber, dass sehr viel von dem, was aus meiner Perspektive in
Europa vor sich geht, der Versuch ist, eine gegenhegemoniale Macht darzustellen
und das hinter dem Rücken jenes Teils der europäischen Linken, der glaubt
lediglich Widerstand gegen den Hegemon USA zu leisten, ohne auch nur zu fragen, ob
er vielleicht dazu dient, die Formierung eines europäischen Superstaates
anzuspornen, der mit den USA konkurrieren wird. Es geht um eine stattliche, eine
Großmacht gegenüber den USA. Teilweise wird diese Strategie sehenden Auges
vollzogen. Teilweise wird sie von der Linken aber dadurch getragen, dass,
soweit ich es gelesen habe, der Weltmarkt eine amerikanische oder eine
amerikanisch-israelische Angelegenheit ist. So habe ich sehr wenig über den Druck
gelesen, den Frankreich und Deutschland 2000 auf Saddam Hussein ausgeübt haben,
damit für das irakische Öl nicht Dollar als Weltwährung gelten, sondern der
Euro. Mit so einer Forderung haben Deutschland und Frankreich natürlich einen im
alten Sinn imperialistischen Konflikt mit den USA angekündigt. Für Europa
geht es nicht einfach um Neoliberalismus, sondern um die Schaffung eines
Superstaates, der ein Rivale der USA wäre. 

Diese aufkommende Rivalität ist sehr selten Gegenstand einer kritischen
Analyse. Stattdessen wird nur von den USA geredet, was mit dieser beschissenen
Regierung in den USA sehr leicht ist. Und dabei hat man die Vorstellung, die
EuropäerInnen bedeuteten Frieden, Sicherheit, Vernunft, wofür es überhaupt
keine wahrnehmbaren Gründe gibt. Das heißt, es gibt auch in diesem Zusammenhang
eine Verschiebung. Aus mehreren solchen spezifischen Gründen wird jetzt Israel
zusammen mit den USA als Einheit gewertet. Was es so schwierig macht, ist,
dass ein Teil der Kritik an Amerika ganz berechtigt ist. Aber es gibt einen
Überhang, ein Surplus, das ideologisch ist. 


PHASE2: Glauben Sie, dass es in diesem gesamten Komplex auch eine Bedeutung
hat, dass sich bei HistorikerInnen ein Paradigmenwechsel vollzieht? Der Focus
der Forschung, der Punkt der größten Aufmerksamkeit scheint sich von der
Beschäftigung mit der Shoah auf die Postcolonial Studies zu verschieben.
Kennzeichnet das nicht auch eine Verschiebung im politischen Verständnis?


Moishe Postone: Das muss zwar nicht so sein, ist aber oft so. Ich finde das
komisch, weil hier in den USA die Postcolonial Studies ihren Höhepunkt
bereits erreicht haben und gerade von jungen WissenschaftlerInnen durch die
Beschäftigung mit dem Kapital auf der globalen Ebene infrage gestellt werden. Ich
entnehme der Frage, dass sie in Deutschland im Kommen sind, während sie gerade
anachronistisch wurden. Die Postco-lonial Studies sind eine Kritik –
und zum großen Teil berechtigte Kritik –, deren Form aber immer die
ehemaligen Kolonisierten außer Acht lässt. Wenn man jemanden wie Edward Said
liest, lernt man sehr viel über europäische Vorstellungen über den
arabisch-muslimischen Raum, aber man lernt nichts darüber, was wirklich die Lage in diesem
Raum gewesen ist. In diesem Sinn kann dieser Ansatz zwar einerseits in Ländern
wie den USA, Frankreich, England usw. zu einer sehr guten Selbstkritik
führen, andererseits hat er aber leider zur Abwesenheit systematischer Kritik an
den »real existierenden« Dritte Welt Ländern geführt, auch derjenigen, die
nicht an den USA ausgerichtet waren. Stattdessen ist für sie die ganze Misere
nur eine, die von außen hereingetragen wurde. Gerade jetzt, wo der globale
Wahhabismus(4) so stark aufkommt, muss diese Art des postkolonialen Denkens
relativiert werden. Wenn man jetzt auf diesen Zug aufspringt, finde ich das
unglücklich.


PHASE2: Vielen Dank für das Gespräch. 


Fußnoten:

(1) Vgl. die Rezension »Aus dem Inneren des Kapitalismus« in Phase 2.06. 

(2) Auch als bloß fetischisierte Form des Antikapitalismus setzt das
antisemitische Denken einen doppelten Schritt voraus. Einerseits ist der
Antikapitalismus fetischisiert, weil nur ein Teil des Kapitalismus in den Blick gerät,
die Seite des Wertes, des Geldes und Kapitals, während die kapitalistische
Produktion ausgeblendet wird. Andererseits kommt zu dieser Reduktion des
Kapitalismus eine Übertragung hinzu. Die sozialen Dynamiken und Effekte, die unter
dem Fetisch der Macht des Geldes und des Kapitals wahrgenommen werden, werden
auf eine teilweise als konspirativ vorgestellte »jüdische Macht«, die in
einer ominösen Weise existiere, übertragen. Erst in dieser Form kann aus der
Vernichtung von Menschen die – wie Moishe Postone es genannt hat –
»Vernichtung von Wert« werden. Vgl. Dokumentation aus »Antisemitismus und
Nationalsozialismus«. 

(3) Der inzwischen abgetretene malaysische Premierminister Mohamad Mahathir
hatte als neuer Vorsitzender der Organisation der Islamischen Konferenz bei
deren Gipfeltreffen im Oktober gesagt: »Die Europäer töteten sechs von zwölf
Millionen Juden, aber heute regieren die Juden die Welt mit Hilfe ihrer
Bevollmächtigten.« Außerdem führte er aus: »Diese kleine Gemeinschaft [der Jüdinnen
und Juden - d. Red.] ist eine Weltmacht geworden. Wir können sie nicht
allein mit Muskelkraft bekämpfen, wir müssen auch unser Gehirn benutzen.« Die Rede
Mahathirs wurde von den Delegierten der islamischen Staaten mit Beifall
bedacht. 

(4) Eine sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert verbreitende Glaubens-
und Pflichtenlehre. In Saudi-Arabien ist der Wahhabismus Gründungs- und
Staatsdoktrin. Er beinhaltet die Verpflichtung auf die strikte Anwendung der
altarabischen Strafgesetze und den Djihad. Ziel ist die Rückkehr zu einem Islam in
der ursprünglichen, sich nur auf den Koran berufenden Gestalt. 

== Phase 2 Leipzig == 
[Nummer:10/2003 ] 
 



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