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Thread: choxT02025 Message: 1/1 L0 [In date index] [In thread index]
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[chox] Charismatische Verblendung



Washingtons Traum der permanenten Revolution ist gescheitert

Die Revolution ist beendet. Aber welche Revolution? Das Kernstück der 
außenpolitischen Umwälzung nach dem 11. September 2001 bildete der Plan, die 
islamische Welt zu demokratisieren. "Krieg gegen den Terror", 
Präventivschlagsdoktrin und Einmarsch im Irak leiteten sich von dieser einen 
Idee ab: Demokratien führen keine Kriege gegeneinander. Und wenn erst 
Washingtons offensive oder diskrete Interventionen Despoten verscheucht und 
Demokraten zur Macht verholfen hätten, dann würden die Wurzeln des Terrors 
ausgerissen sein.

Die zweite Revolution fand im Innern statt. Verfassungsbruch und Staatsstreich 
konnten auch die schärfsten Gegner der Bush-Regierung nicht nachweisen. Zu 
konstatieren bleibt aber eine stetige Verlagerung der Macht zugunsten der 
Exekutive. Die Ermächtigung verschaffte ein Kongress, der zeitweise an der 
Grenze zur Selbstabschaffung der Legislative operierte, einschließlich seiner 
großen Zahl von Demokraten.

Schon früh haben uns gelehrte Kommentatoren wie John Lewis Gaddis daran 
erinnert, dass die erste Revolution seit "9/11" nur die Zuspitzung einer 
außenpolitischen Tradition präventiver Machtenfaltung war. Die USA sind lange 
schon die einzige Macht, die Außenpolitik im klassischen Sinne betreiben 
kann, die einzige wirklich souveräne Macht. Aus Washingtoner Perspektive 
konnten die Grenzen anderer Staaten nie die Grenze der eigenen Macht sein. 
Eine planetarische Ordnungsmacht kann sich nicht um Flüsse und Gebirge 
scheren. Lediglich die kleine Elite liberaler Internationalisten, die das 
internationale System schuf, verpflichtete sich selbst auf das Ideal der 
Gleichberechtigung.

Amerikanische Interventionen sind seit dem 19. Jahrhundert an der 
Tagesordnung. Militärisch unterlegen und ökonomisch abhängig, nahm sich der 
Rest der Welt in den Augen der USA immer wie eine Horde von Zurückgebliebenen 
aus, denen der zivilisierte Riese Schutz und Zucht zuteil werden lassen 
musste. Und alle jüngeren Debatten um die Interventionen wiederholten sich. 
Irak klang wie Vietnam oder Kuba 1961 oder Iran 1951. Nach der Invasion in 
der Schweinebucht verhandelten Amerikas Intellektuelle Fragen wie heute. Auf 
beiden Seiten standen Liberale. Die USA blieben trotz allem immer auch 
liberaler Wohltäter, die einzige Weltmacht, die sich auch um Menschenrechte 
sorgte. Einer der führenden liberalen Leitartikler, Joseph Alsop, forderte 
1951 amerikanisches Eingreifen im Iran und 1953 die Unterstützung der 
Franzosen in Indochina auf der Grundlage eines zivilisatorischen Arguments: 
Die Völker der Dritten Welt und ihre irrationalen Führer bräuchten Hilfe, um 
nicht im Chaos zu versinken.

Dieses strukturelle Problem der USA ist unlösbar. Ihre Doktrin ist ihre Bürde. 
Dem liberalen Ideal in jedem Fall zu genügen, wäre selbstmörderisch. Dem 
Primat der Macht zu folgen, ist verlockend, weil es scheinbar Kosten spart 
und sich mit einem isolationistischen Ressentiment verträgt. Die USA befinden 
sich in dem Dilemma, einerseits einer aufgeklärten Idee verpflichtet zu sein, 
die in letzter Konsequenz die Auflösung der eigenen Hegemonie bedeuten kann, 
andererseits wie jede Macht nach deren Erhaltung zu streben. Allerdings haben 
die USA die Spannung von Macht und Ideologie stets ausbalancieren können, 
weil sie gouvernementale Herrschaftstechniken anwandten. Ihr demokratisches 
System war darauf angelegt, sich der Kritik zu öffnen und Freiheitspotentiale 
zu gewähren, die zur permanenten Reform und Stabilisierung des Systems 
beitrugen.

Diesen Mechanismus hat die Bush-Regierung ins Leere laufen lassen. Statt 
Kritik zu inkorporieren, erzeugt die Macht ihre eigene Illusion der Kritik. 
Stimmen von außen dringen nicht mehr durch. Der heterogene innere Machtzirkel 
wurde durch eine außenpolitische Strategie zusammengehalten. Als diese 
Klammer zerbrach, zerfiel die Koalition der verschiedenen internen Lager 
nicht. Zwar verließen die Intelligenteren das sinkende Schiff, fast alle aber 
verschanzten sich auf Gedeih und Verderb hinter der Person des Präsidenten. 
Das Binnenverhältnis im inneren Kreis der Macht ersetzte die Außenwelt und 
formierte dort ein neues Herrschaftssystem. Rationale Herrschaft wurde in 
charismatische Herrschaft überführt. Im Zentrum der Macht fand der 
eigentliche Systemwechsel statt - eine epistemologische Revolution.

Das ist das arcanum imperii: Im Innern der Macht regiert ein hermetisches 
charismatisches Herrschaftssystem. Mit Bush kann es in der Tat, wie Bob 
Woodwards jüngstes Buch "State of Denial" belegt, keinen Realismus und 
keine "Realpolitik" mehr geben. Es wurde so deutlich wie nie zuvor, als die 
für eine Realistin geltende Condoleezza Rice am Beginn des Libanon-Krieges 
behauptete, die Geburtswehen eines besseren Nahen Ostens zu beobachten. Oder 
wenn Rumsfeld Kritiker des Irakkrieges mit Nazi-Appeasern vergleicht, während 
der Präsident den nahen Erfolg im Irak imaginiert.

Und wenn es eines Tages tatsächlich einen demokratischen Nahen Osten gäbe? Mit 
der amerikanischen Invasion hätte es nichts mehr zu tun. Die Ereignisse haben 
eine Eigendynamik entfaltet. Sowenig wie der symbolische "Sturm" auf die 
Bastille mit der Krönung Napoleons in Verbindung stand, so wenig trägt das 
amerikanische Eingreifen zu einem demokratischen Nahen Osten bei.

Die Verdichtung charismatischer Herrschaft im Innern der Macht wurde von einem 
ideologischen Paradigmenwechsel begleitet. In der Sprache historischer 
Vergleiche: Das römische Paradigma wurde zunehmend vom griechischen 
überlagert. Das klassische Athen war eine hegemoniale Macht, die 
demokratischste der Antike. Diese Demokratie folgte ihren führenden 
Politikern in einen verheerenden Krieg, und doch war die Kontrolle über die 
Ereignisse den Großen entzogen. Die demokratische Dynamik ist unberechenbar. 
Es ist gerade die Demokratie, die Athen im Peloponnesischen Krieg so viel 
kriegslüsterner machte als den Antagonisten Sparta. Die Interessen der 
Unterschichten, neureicher Bürger und ruhmessüchtiger Aristokraten trafen 
sich, der Krieg versprach Expansion, Gewinn, Anerkennung, Freiheit. Die 
großen Pläne entwickelten ein Eigenleben, bis es am Ende nur noch um eines 
ging.

Das Sendungsbewusstsein war umgeschlagen in das Streben nach Macht um der 
Macht willen, ohne die "römische" Verkleidung als zivilisatorische Mission. 
Die Ideologie der nackten Macht hat sich auch im Inneren der Bush-Regierung 
ausgebreitet, was nicht bedeutet, die USA seien auf dem Weg, ihre 
demokratische Konstitution zu verlieren. Regierung und Masse handeln durchaus 
im Einklang, immer noch, wenn auch die Mehrheiten schwinden.

Den als Gehirne der Regierung gerühmten Neocons fiel dabei lediglich die Rolle 
zu, die kulturelle Hegemonie zu erobern. Sie reichte weit über die eigene 
Klientel hinaus, war angewandter Gramsci, war erfolgreich.

Sie war. Nicht nur, weil liberale Medien wieder beginnen, liberale Meinungen 
offensiver zu behaupten. Das symbolische Kapital der Neocons zerbröckelte in 
dem Augenblick, in dem es seinen Zweck erfüllt hatte. Die Revolution, ein 
weiteres Mal, ist beendet. Doch die Revolutionäre finden nicht zurück ins 
Zivilleben. Nur selten ist über das typologische Durcheinander gesprochen 
worden, das der Begriff Neocon verschweigt - es war ja schon schwierig genug, 
die verschiedenen Gruppen des Bush-Lagers zu unterscheiden. Aber im 
Augenblick ihres Verschwindens paradieren sie alle noch einmal ruhelos auf 
und ab. Da ist der Typus des Tschekisten, Elliott Abrams, erst 
Demokratisierungs-, dann Nahostdirektor des Nationalen Sicherheitsrates, der 
ohne Skrupel jedem Herrn dient und doch ideologisch felsenfest erscheint. 
Seine Karriere geht weiter.

Auf der anderen Seite steht der Idealist, Robert Kagan etwa, der die 
demokratische Mission der USA beschwört und doch nicht ganz von Bush lassen 
kann. Der trotzkistische Typus der Väter lebt in den jungen Neocons kaum noch 
fort, man ahnt einen Glauben an die permanente Revolution nur in Kagans 
reiner Schriftexistenz und der Überzeugung des einzigen echten 
neokonservativen Nahostexperten, Reuel Marc Gerecht, der um der Demokratie 
willen auch einen islamistischen Nahen Osten in Kauf zu nehmen bereit ist. 
Bill Kristol hingegen gleicht als unerschütterlicher Bushgetreuer eher einem 
stalinistischen Typus. Der Herrscherkult fordert seinen Preis, nicht zuletzt 
das sacrificium intellectus, tödlich für einen Intellektuellen. Kristols 
Verhältnis zu seinem einstigen, dann aber verratenen Helden der Revolution 
John McCain ist eisig, auch wenn man angesichts der Präsidentschaftswahlen 
2008 wieder miteinander redet.

Die Neocons waren Händler auf einem protektionistischen Markt der Ideen, der 
nach außen undurchlässig war. Ist mit dem Niedergang der Neocons, mit ihrer 
Fahnenflucht, ihrem Schweigen oder ihrer Regression zu Funktionären also ein 
weiteres Mal das katastrophale Scheitern ideologisch geleiteter Politik zu 
diagnostizieren? Die Antwort ist nicht einfach. Die Neocons waren in ihrem 
utopischen Idealismus unvorbereitet, überheblich ignorant, rücksichtslos in 
ihrem Siegestaumel. Doch nicht die Wucht ihrer Ideen behielt am Ende die 
Oberhand, sondern das nackte machtpolitische Kalkül der beiden 
Feldherren-Freunde Cheney und Rumsfeld, die industriell-politische Motive 
hegen, aber die Neocons einzuspannen wussten. Die Ideenwelt der Neocons bot 
keine Widerstandskraft gegen die Ideologie der Macht. Die Neocons waren 
selbst infiziert, fixiert auf die Rolle als Diener ihrer Herren. Das ist die 
Tragödie dieser brillantesten Generation von Intellektuellen seit den Tagen 
der Neuen Linken und der Revolutionen Osteuropas.

Gerade die gesteigerte Betonung von Werten hat zur völligen Suspension von 
Verantwortung geführt. Die Bush-Regierung hat die Gesinnungsethik zur 
Herrschaftsmaxime erhoben. Dass Rumsfeld nie gehen musste, dieses deutlichste 
Signum dafür, dass das Prinzip Verantwortung außer Kraft gesetzt war, wird 
einmal als einer der größten Makel dieser Präsidentschaft gelten. Strukturell 
war es beinahe unvermeidlich. Die charismatische Herrschaft im Innern der 
Macht kennt rationale Kontrollprozesse nicht mehr. Gefolgschaft steht über 
Verantwortung. Es war eine Revolution.

TIM B. MÜLLER

Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.234, Mittwoch, den 11. Oktober 2006 , Seite 15
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