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Message 02074 [Homepage] [Navigation]
Thread: choxT02074 Message: 1/1 L0 [In date index] [In thread index]
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[chox] Tony Judt: ... über Zensur der Wissenschaften ... und die schweigende Öffentlichkeit



Noch gibt es die freie Rede, nur nicht unbedingt in Amerika
Der britische Historiker Tony Judt, den man in den USA zu boykottieren 
versucht, über Zensur der Wissenschaften, Druck der Israel-Lobby und die 
schweigende Öffentlichkeit

Vergangene Woche unterzeichneten 154 namhafte Wissenschaftler, Publizisten und 
Diplomaten einen Aufruf, in dem sie dagegen protestieren, dass ein Vortrag 
des britischen Historikers Tony Judt über Nahostpolitik aus politischen 
Gründen abgesagt wurde. Tony Judt leitet das Remarque Institute for European 
Studies an der New York University, das er 1995 gegründet hat. Zuletzt 
erschien von ihm die "Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart" (Hanser, 
2006).

SZ: Professor Judt, was ist passiert?

Tony Judt: Ich wurde vor Monaten von der Organisation 20/20 eingeladen, bei 
einer Veranstaltung im polnischen Konsulat einen Vortrag zum 
Thema "Israel-Lobby und die amerikanische Außenpolitik" zu halten. Ungefähr 
drei Stunden vor dem Vortrag teilte mir die Vorsitzende der Organisation mit, 
die Veranstaltung sei abgesagt worden, weil die Anti-Defamation League und 
andere Organisationen Druck auf das polnische Konsulat ausgeübt haben.

SZ: Was muss man sich unter "Israel-Lobby" vorstellen?

Judt: Zum einen gibt es die offiziellen Lobbygruppen wie das American-Israel 
Public Affairs Committee oder die parlamentarischen Aktivitäten von 
Organisationen wie dem American Jewish Committee oder dem Jewish Institute of 
Middle East Studies, deren Ziel es ist, den Kongress und die amerikanische 
Regierung zu einer proisraelischen Außenpolitik zu bewegen. Dann gibt es noch 
die informellen Lobbygruppen, die dasselbe Ziel verfolgen, aber gleichzeitig 
als Beobachter fungieren: schreibt jemand kritisch über Israel, reagieren 
sie.

SZ: Ist es nicht legitim, dass andere Staaten in Washington durch eine Lobby 
die Außenpolitik zu beeinflussen suchen?

Judt: Natürlich gibt es hier tausende von Lobbygruppen. Lobbyisten für 
bestimmte Länder, sei es Griechenland, die Türkei oder Israel, sind eine 
etwas komplizierte Angelegenheit, weil es natürlich etwas anderes ist, ob 
sich ein Abgeordneter für die Interessen eines anderen Landes einsetzt oder 
aber für die Interessen einer Industrie. Das erstere wird oft als politisch 
fragwürdig oder sogar als Form des Landesverrats gesehen.

SZ: Haben Sie mit solchen informellen Lobbygruppen schon vorher zu tun gehabt?

Judt: Ja, in zwei Formen. Da gibt es die Briefkampagnen und die öffentlichen 
Erklärungen in den Medien, das kriegt man natürlich mit. Was man eher nicht 
mitbekommt, ist der Druck, den diese Organisationen auf kleine Colleges, auf 
jüdische Gemeinden und manchmal auch auf nichtjüdische Gemeinden in kleinen 
Städten und Vororten ausüben - der Druck darauf, keine Leute einzuladen, die 
sie ablehnen. Halten sich die Schulen und Gemeinden nicht an die 
Empfehlungen, müssen sie mit Aktionen, Demonstrationen rechnen. Das ist mir 
und einem Kollegen in Riverdale passiert, als wir dort bei einem Symposium 
zum Nahen Osten sprachen.

SZ: Welche Probleme haben diese Organisationen mit Ihnen?

Judt: Sie kommen immer wieder auf zwei Punkte aus meinem Essay "Israel the 
Alternative" zurück, den ich vor drei Jahren im New York Review of Books 
veröffentlicht hatte. Dort beschrieb ich Israel wegen seiner ethnischen 
Struktur und der Vorrangstellung, die einer Bevölkerungsgruppe gegeben wird, 
als Anachronismus. Den zweiten Angriffspunkt bildet meine These, dass die 
Zukunft Israels und der Palästinenser wahrscheinlich ein binationaler Staat 
sein wird und dass es darum sinnlos ist, endlos an einer Zweistaatenlösung zu 
arbeiten, die nie verwirklicht werden wird. Was diese Gruppen an meiner 
Person stört, ist, dass ich kein Extremist bin. Da gibt es Leute wie Noam 
Chomsky und Norman Finkelstein, die sehr bekannt und äußerst anti-israelisch 
eingestellt sind. Die stehen so weit links und allem, was in der politischen 
Mitte geschieht, so kritisch gegenüber, dass man sie leicht als verrückte 
Randerscheinungen abtun kann. Ich dagegen bin sehr gemäßigt in meinen 
Ansichten, etwas links von der Mitte, manchmal nicht einmal links, den 
Marxismus zum Beispiel sehe ich sehr kritisch. Darum kann ich auch immer 
wieder in der New York Times oder im New York Review of Books schreiben. Wenn 
aber ein Gemäßigter solche Dinge sagt, ist das viel bedrohlicher.

SZ: Wo stünden Ihre Argumente denn im Diskurs in Israel selbst?

Judt: In Israel bin ich Teil einer allgemeinen Debatte, meine Artikel stehen 
in der großen liberalen Zeitung Haaretz. Viele in Israel argumentieren viel 
radikaler und vor allem zorniger als ich. Als Problem werde ich nur in 
Amerika gesehen.

SZ: Versucht man also nur in Amerika, die Nahostdebatte einzuengen?

Judt: Der einzige andere Ort, an dem mir das schon begegnet ist, war 
Deutschland. Ich nehme an, dass es heute nicht mehr so ist, aber vor ungefähr 
zehn Jahren war ich bei einer Konferenz mit Deutschen, Israelis, 
amerikanischen und europäischen Juden, die über den Nahen Osten diskutierten. 
Sowohl die europäischen Juden als auch die Israelis selbst waren viel 
kritischer gegenüber Israel als die Deutschen, die verlegen wirkten. 
Natürlich ist dies verständlich, vor allem wenn es um die Frage geht, ob 
Antizionismus automatisch antisemitisch ist. In Europa ist mir dies sonst 
nirgends begegnet - außer vielleicht in Polen, wo es eine neue politische 
Korrektheit gibt, die sich als super-pro-israelisch manifestiert, weil sie 
pro-amerikanisch sein wollen.

SZ: Bleibt Deutschland nicht ein Sonderfall und sollte deshalb prinzipiell 
pro-israelisch eingestellt sein?

Judt: Ja schon, aber es sollte keinen blinden pro-israelischen Kurs verfolgen. 
Sonst hat man das Problem, dass gerade junge Deutsche einwenden, sie 
verstünden nicht, warum sie sich nicht kritisch über Israels Vorgehen im 
Libanon oder in Gaza äußern dürfen, schließlich habe das nichts mit dem 
Holocaust zu tun, sondern mit dem Nahen Osten. Von deutschen Schülern, die 
ich hier in Amerika treffe, höre ich solche Argumente. Das schadet der 
Erinnerung an die Geschichte des wirklichen Antisemitismus in Deutschland, 
weil die jungen Menschen dieses Schweigen verdächtig finden: wenn wir über 
die Kritikpunkte an Israel schweigen, sprechen wir womöglich auch nicht offen 
über das Andenken an die deutschen Juden. Man muss sich über die deutsche 
Vergangenheit und die Vernichtung der Juden in klaren sein, ohne die Kritik 
an Israel auszublenden.

SZ: Gibt es noch Auswüchse der politischen Korrektheit wie in den neunziger 
Jahren, als einige Debatten effektiv nicht mehr geführt werden konnten?

Judt: Wenn wir von politischer Korrektheit sprechen, denken wir meist an die 
politische Linke an den Universitäten. Reden wir aber von Selbstzensur, vom 
kollektiven Totschweigen heikler Themen, dann ist das an den amerikanischen 
Hochschulen sehr präsent. In England wurde zum Beispiel bis vor kurzem nicht 
über die islamische Frage geredet. Jetzt schwingt das Pendel allerdings 
gerade in die entgegengesetzte Richtung, plötzlich ist es salonfähig, 
anti-moslemische Einstellungen zu pflegen. Und genau deshalb finde ich diese 
Formen des kollektiven Schweigens beunruhigend.

SZ: Sind die akademische Arbeit und der wissenschaftliche Austausch in den USA 
seit dem 11. September allgemein schwerer geworden? Letzte Woche musste ein 
Symposium der New York University über die Muslimbrüder ohne die beiden 
Hauptredner stattfinden. Dem einen, der in Kairo als Beirat der Muslimbrüder, 
aber auch als Vorsitzender des Dachverbands arabischer Mediziner fungiert, 
wurde kein Visum ausgestellt. Der andere, Gründer der Muslim Association of 
Britain, wurde in London aus dem Flugzeug nach New York abgeführt.

Judt: Ähnlich ging es ja auch Tariq Ramadan, einem eher moderaten Kopf des 
modernen Islam, der eine Stelle an der Notre Dame University nicht antreten 
durfte. Einwanderungsgesetze und Beschränkungen für Veranstaltungen werden 
zunehmend zu einem Problem. Ich veranstalte solche Konferenzen inzwischen 
fast immer in Europa, weil ich dort einladen kann, wen ich will. Noch gibt es 
die freie Rede, nur nicht unbedingt in Amerika.

SZ: Aber gerade das widerspricht dem Grundgedanken Amerikas.

Judt: Wenn sich Amerika bedroht fühlt, neigt es, was Ausländer betrifft, seit 
je zu Hysterie und Paranoia. Es begann mit dem Ausländergesetz von 1796, ging 
über die Ausländergesetze von 1918 und 1919 und die McCarthy-Ära bis heute. 
Ich finde es nicht so beunruhigend, was im Moment geschieht, weil Amerika 
eben so eine lange Geschichte des Misstrauens gegenüber Ausländern hat, 
obwohl die Bushregierung sicherlich extremer ist als so gut wie alle 
Regierungen zuvor. Wirklich beunruhigend ist, dass es keinen Widerstand gibt 
und es alle kalt lässt. Man darf nicht vergessen, dass die Mehrheit der 
Amerikaner noch nie ins Ausland gereist ist. Das gilt auch für einen guten 
Teil der Kongressabgeordneten. Amerika ist ein Land, das ganz froh ist, 
provinziell und vom Rest der Welt abgeschnitten zu sein. Darum sind 
juristische Übergriffe gegen die Verbindungen mit der Außenwelt eher 
willkommen. Eines der beliebtesten Zitate von Bush ist sein Satz, dass wir im 
Irak gegen sie kämpfen, damit wir nicht hier gegen sie kämpfen müssen. 
Deshalb interessiert sich auch niemand dafür, ob irgendein Araber nicht ins 
Land gelassen wird oder irgendein Pakistani sein Recht auf 
Habeas-Corpus-Recht verliert und fünf Jahre ohne rechtmäßige Anklage 
festsitzt.

SZ: Nun haben gerade über 150 namhafte Akademiker, Publizisten und Diplomaten 
eine Erklärung unterschrieben, in der sie die Absage Ihres Vortrages zum 
Anlass nehmen, gegen die Unterdrückung der Debatte über die amerikanische und 
israelische Außenpolitik zu protestieren. Von den US-Medien wurde das 
allerdings nicht weiter wahrgenommen.

Judt: Die New York Times hat mich interviewt, das könnte diese Woche 
erscheinen. Aber es stimmt. Es war nicht anders, als wir mit dem London 
Review of Books eine Konferenz zur Israel-Lobby veranstaltet haben. 
Europäische, israelische, arabische Medien berichteten, aber kein einziges 
US-Organ. Das ist kein aktives Schweigen. Niemand in Cheneys Büro ordnet an, 
dass keiner darüber berichtet. Es ist eher ein passives Schweigen. Ich bin 
fest überzeugt, dass die Universitäten der einzige Ort sind, an dem wir 
dagegenhalten können. Die Rolle der Universitäten wird in Amerika in den 
nächsten Jahren äußerst wichtig sein.

Interview: Andrian Kreye

Quelle: Süddeutsche Zeitung
Nr.244, Montag, den 23. Oktober 2006 , Seite 13
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