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Message 02377 [Homepage] [Navigation]
Thread: choxT02377 Message: 1/1 L0 [In date index] [In thread index]
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[chox] Warum wir die Globalisierung des Mitgefühls brauchen.



Empire
virtuelle Gleichzeitigkeit
künstliche Paradiese
moralische Weltklima
informatischer Kommunismus
Fern- Solidarität
virtuelle Nachbarschaften, Solidaritäten,Kommunitäten

verwoben von Peter Sloterdijk




Alle Welt spricht seit etwas mehr als einem Jahrzehnt von der »Globalisierung« und ihren ökonomischen Konsequenzen – und doch geschieht es nur selten, dass man sich über die kulturellen, technischen und moralischen Implikationen dieses Vorgangs Gedanken macht. Fürs Erste ist ja nicht zu leugnen: Das aktuelle Bewusstsein vom Zusammenwachsen der Welt zu einem einzigen Geflecht aus schnellen Transaktionen wird zunächst durch die ökonomischen Tatsachen wachgerufen. Dieses Geflecht nennt Niklas Luhmann »Weltgesellschaft«, Antonio Negri tauft es auf den klingenden Namen »Empire«. Der globale Welt-Effekt beruht in technischer Sicht auf ultrarapiden Kommunikationen, die den Raum neutralisieren und alle Regionen auf dem Planeten, ungeachtet ihrer physischen und kulturellen Abstände voneinander, in eine virtuelle Gleichzeitigkeit versetzen. Der große Demiurg, der allein imstande war, aus vielen Welten eine Welt zu machen, ist ohne Zweifel das Geld, das auf der Suche nach Verwertungschancen vor keinem Hindernis haltzumachen pflegt. Die weltbildende Energie des Geldzusammenhangs erzeugt freilich auch eine radikale Ambivalenz: Zum planetarischen Kapitalismus gehört auf der Ebene der Prozeduren ein elektronischer Kommunismus (das heißt die Tendenz zum Gemeineigentum an Wissen), und mit der Ausweitung der Profitzone geht mehr oder weniger automatisch eine Ausweitung der moralischen Einmischungszone einher.

In diesem Zusammenhang sind die aktuellen Versuche zu würdigen, Afrika in den Fokus der Weltaufmerksamkeit zu rücken. Das moralische Interesse an Afrika beruht auf der Beobachtung, dass es in der vorgeblich vernetzten, in Gegenseitigkeiten eingebetteten Welt noch immer riesige Territorien gibt, in denen die alte Vormacht des Raums und des Elends fortbesteht. Auf diese Weise wird innerhalb der »Weltgesellschaft« ein Gegensatz sichtbar gemacht, der die moralische Physiognomie der Gegenwart zerklüftet. Während immer größere Teile der Weltpopulation sich bereit machen, in das große Treibhaus des Wohlstands einzuziehen, bildet sich vor der empfindlichen Außenhaut der Komfortzone eine bedrohliche Armutsvorstadt von weltweiten Ausmaßen. Diese Opposition ist nicht nur architektonisch relevant. Der schreiende Gegensatz zwischen den künstlichen Paradiesen der Wohlstandszone und dem Elendscamping der Ausgeschlossenen affiziert mehr und mehr das moralische Weltklima. Dies kann auch gar nicht anders sein – nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass der informatische Kommunismus, der unserer Weltform inhärent ist, sich mit dem Provinzialismus der Gier nicht verträgt.


Es ist das große Verdienst Bob Geldofs und vieler anderer, die die afrikanische Ausnahme thematisiert haben, dass sie den Beweis liefern: Die Globalisierung des Mitgefühls macht an den Grenzen der Komfortzone nicht halt. Es gibt schon jetzt viele Menschen, die das Weltbild und Welterlebnis beider Seiten kennen und die aus der Pendelbewegung zwischen den Zonen jene moralische Energie erzeugen, ohne die kein Ausgleich, kein Transfer von Wissen, von Techniken und von erweiterten Lebenschancen geschehen kann. Diese Afrika-Aktivisten sind darum zugleich symbolisch und pragmatisch bedeutsam: Als Pragmatiker leisten sie effektive Hilfe zur Gegensteuerung, als Symbolisten zeugen sie für eine moralische Avantgardefunktion, deren Auftrag darin besteht, nach dem Kollaps des im Klassenhass verwurzelten Kommunismus eine von Generosität und Einfühlung inspirierte Form von Fern-Solidarität ins Leben zu rufen und am Leben zu halten. Welche Kräfte bei solchen Unternehmen freigesetzt werden können, hat die weltweite Hilfsaktion nach der Flutkatastrophe in Ostasien am zweiten Weihnachtstag 2005 gezeigt – nicht zuletzt durch die große Hilfsbereitschaft der Deutschen. Man darf sich angesichts solcher Indizien fragen, ob es nicht auch in moralischer Hinsicht einen Global-Warming-Effekt gibt, allen abwinkenden Signalen abgebrühter Experten für immergleiche Menschenschlechtigkeit zum Trotz.


Dieser moralische Weltklimawandel – von dessen Tatsächlichkeit man sich in den kommenden Jahren wird überzeugen können – geht auf die positiven Nebenwirkungen einer im Übrigen sehr gefährlichen Verwandlung in der Weltform der Modernen zurück: auf die Unterdrückung der herkömmlichen Distanzhygiene (bei welcher der Abstand selbst konfliktvermeidend wirkt) und die Schwächung der Grenzfunktionen. Für beides sind die modernen Raumvernichtungstechniken verantwortlich, an erster Stelle die schnellen Transportmittel und ultraschnellen Nachrichtentechniken. Sie haben dafür gesorgt, dass ein völlig neues System virtueller Nachbarschaften, virtueller Solidaritäten und Kommunitäten entstanden ist, mit deren Auftauchen die Basisdaten der konventionellen Soziologien außer Kraft gesetzt wurden. Man muss nicht mehr zusammenleben, um verbunden zu sein; man muss nicht verwandt sein, um füreinander etwas übrigzuhaben; man muss keine gemeinsamen Illusionen nähren, um sich miteinander zu solidarisieren; man muss sich nicht persönlich gesehen haben, um füreinander etwas zu tun. Ich nenne die Summe dieser Verhältnisse: Fern-Nachbarschaften. Sie ist die unpathetische Gestalt dessen, was Nietzsche die Fernstenliebe nannte. Deren Entdeckung fällt weder ins 19. Jahrhundert noch in unsere Zeit, denn ihre Formulierung beginnt bereits mit dem Anbruch der Hochkulturen vor mehr als zweieinhalbtausend Jahren. Die Globalisierung hat für den Ernstfall fern-nachbarschaftlicher Weltbezüge gesorgt. Wenn man von dem Abenteuer der Moral hat sprechen können – wird es im kommenden Jahrhundert nicht vor allem in der Kultivierung der Fern-Tugenden bestehen?

Der Philosoph Peter Sloterdijk ist Teilnehmer des Intellectual- Live-8-Forums für Afrika in der kommenden Woche in Berlin. Die hochrangig besetzte Konferenz erarbeitet Vorschläge zur Unterstützung Afrikas – rechtzeitig zum G8-Gipfel der führenden Industrienationen Anfang Juni in Heiligendamm. Zu den Gastgebern des Forums gehört neben anderen der Musiker Bob Geldof

©  DIE ZEIT, 26.04.2007 Nr. 18
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