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[ox] dot-com oekonomie



Was ist digitaler Kapitalismus?  

Die seltsam abgeschlossene Allgemeingültigkeit des digitalen Kapitalismus
und die damit einhergehenden Abgrenzungskonflikte, lassen sich vielleicht
mit einem einfachen Satz Norbert Wieners besser verstehen: 'information is
information not matter nor energy'. Die Welt der Bits hat ihren Grund im
Selbstbezug und in der Abgeschnittenheit von der Welt der Partikel und
Wellen. Der kybernetische Schnitt trennt die Infospaehre von den
Phaenomenen wodurch diese im Gegenzug steuerbar und messbar werden. Der
Leitbegriff der Information stellt innerhalb dieser Triade weder
Dreieinigkeit her noch lässt er unendlich viele Aufloesungen zu, vielmehr
verdraengte die Kybernetik andere Dreieickssysteme westlicher
Kulturgeschichte und machte Information zum Platzhalter des Machtpols. Um
diesen Platz streiteten sich bereits unabhänges Subjekt, patriarchale
Autorität, oedipaler Vater, goettlicher Herrscher, reines Zeichen und
absoluter Geist . 

Auch wer diese Sichtweise nicht teilt, muss heute zugeben: Money rulez. Das
Internet, ehemals Cyberspace genannt, blieb nicht verschont von
Kapitalisierung. Im Gegenteil verschlingt die dot-com-Oekonomie einen
erheblichen Teil derzeit getaetigter Investitionen und lädt ein zur
achterbahnartigen Boersenspekulation. Seinen Bekanntheitsgrad erhält die
jeweils neue Top10-website weniger durch eine besondere Idee sondern
gigantische Marketingcampagnen in Ubahnen und Wochenmagazinen. Die Frage
lautet: Kann der Finanzmarkt die existierende und weiter explodierende
Datenproduktivitaet noch einholen und in einen stabilen Geldwert fassen?
Der Ruf der Hacker 'information will frei sein' verschmolz mit dem der
Banker, 'alles was fest war wird nun fluessig'. Die Konvergenz von
Kapitalismus und Kybernetik fuehrte zu einem Clondyke-effekt der die
Errungenschaften beider Lehren deckungsgleich brachte. Erste
Geister-websites liegen hinter uns, doch ganz in der Ferne tut sich ein
schwarzes Loch am Finanzmarkt auf. 

Das derzeitige Businessmodell ist das der Industrialisierung, bekannt von
Eisenbahnnetz, Elektrifizierung. Erst investieren, dann kassieren. Was für
Bereiche gewisser Schluesseltechnolgien gelten mag, trifft nicht für die
gesamte Produktivitaet immaterieller Arbeit im Netz zu: Die unaufhaltsame
Ausbreitung der Free Services, Anstieg der Bandbreiten bei fallenden
Transaktionskosten, freie Betriebsysteme und Open Source Software,
Mp3-Audio, freie Faxserver, Communities und Internetdienstleistungen incl.
Warez und CD-Fern-Kopiererei stellen die Durchsetzbarkeit der Grundlagen
digitalen Geldes in Frage. Es mag sein dass dies ein abgekartetes Spiel
ist, eine Fortfuehrung der Geschenkoekonomien mit anderen Mitteln, um
möglichst viele User abhaengig zu machen, sie an Firmen zu beteiligen,
ihnen bezahlte Jobs zu geben, um in der anschliessenden Konsolidierung, dem
grossen Shake-out der Kleinen, richtig abzusahnen. Doch die freie
Marktwirtschaft des Wissens ist nicht auf die Freiheit der digitalen
Information vorbereitet. 

Digitaler Konservativismus sieht daher Regulierungsmassnahmen vor die auf
verschiedenen Ebenen greifen sollen. Ziel ist die Sicherung der eigenen
Pfruende. Das Stichwort: intellektuelles Eigentum. Die Akteure: ICANN
(Internet Weltregierung under construction) WIPO (Weltorganisation fuer
Intellektuelles Eigentum) die bunte boese Firmenwelt der transnationalen
Hitech-konzerne, Eliteschulen, Herrensalons (Bilderberg), Regierungsgremien
usw. Die Methoden sind zahlreich. Eine heisst: FUD (Fear Uncertainty
Doubt): Mache den Leuten klar dass 'da draussen' ein Krieg tobt, ein
babylonisches Elend herrscht und nur der dominante Standard die beste
Loesung bietet, wer abweicht wird mit Inkompatibilität bestraft, wer
mitmacht kann nichts falsch machen. Das Draussen ist im weiteren Sinne der
soziale Abstieg, dritte Welt und die die keinen Internetanschluss haben.
Eine andere Methode liegt darin jedem Netzbenutzer eine eineindeutige
Kennung zu geben (z.b. ueber die IP adresse oder den Domainnameneintrag,
bzw. die PentiumIII Kennung) und diese für Verschluesselung begehrter Daten
im Namen der Privatsphaere und Sicherheit (s.o) zu nutzen. Verschluesselung
dient, entgegen allgemeiner Auffassung nicht bloss der Sicherung der
individuellen Privatheit, sondern der Sicherung privaten Eigentums. Über
Verschluesselung lässt sich digitaler Code 'hart' machen und zentralen
Registraturen, z.b. zur Urheberrechteverwaltung zuordnen. Aehnlich der
Einfuehrung des Grundbuches bei Aufkommen des Feudalismus kommt es zur
Parzellisierung und Verknappung von Allgemeineigentum. Digitaler Code soll
sich damit wie ein materielles Objekt verhalten und seine ?natuerliche"
Eigenschaft verlieren endlos kopierbar zu sein. 

Die letzte und wohl bedenklichste Kontrollmoeglichkeit ist eine
internationale vollautomatisierte Netzpolizei. Erst erfolgt eine
Generalamnestie bis 2000, dann die schrittweise Verfolgung von
Copyrightdelikten. Die Kontrollgesellschaft hat viele Moeglichkeiten offen
das digitale Subjekt zu konstituieren, Lizenzen, Sendeerlaubnisse, rigide
Verwaltung von knappen Ressourcen und nicht zuletzt die von Film, Radio und
Fernsehindustrie bekannten 'soften' Methoden der informationellen
Fuegbarmachung bei der Wiedereinfuehrung der Massenmedien. 

Nach den grossen Menschenopfern und dem Excess der Industrialisierung in
den Vernichtungsmaschinen der Weltkriege und des Holocaust, taucht die
Frage auf welche Opfer in Zukunft im Ernstfall den Siegeszug der
Digitalisierung beenden werden, um die naechste Folge der Modernisierung
einzuleiten, und dessen Grenzen oder Expansionsbewegung zu verteidigen. Der
radikale Pragmatismus der Medienaktivisten in und ausserhalb von Firmen und
Regierungen, die von Kulturpessimisten beklagte elektronische
Unsinnsschwemme, die Aufzaehlung der Weltprobleme der Oekologie und
Oekonomie, die Durchdringung der Informationstechnik in alle Bereiche,
entkräftet nicht die Vermutung, dass wir uns längst in mitten eines
freundlichen Cyberfaschismus befinden.

Pit Schultz, pit icf.de, Berlin, 09.12.99
( )?-> http://www.opencontent.org

dies artikelchen ist auch zu finden in der gedruckten version von de-bug 
"zeitschrift fuer elektronische lebensaspekte", dezember '99,
http://www.de-bug.de



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http://www.oekonux.de/



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