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[ox] Artikel "Im Unruhestand" von Gundolf Freyermuth



Liebe Oekonuxler!

Bereits in der c't 25/99 ist der Artikel "Im Unruhestand" von Gundolf
Freyermuth erschienen (S. 90). Mit Zustimmung des Autors zitiere ich
daraus vier Abschnitte. SchnellleserInnen würde ich die letzten beiden
"Vom Industrie- zum Wissensarbeiter" und "Neue Arbeit, neues Alter"
besonders ans Herz legen.

Kommentare kommen gesondert.


						Mit li(e)bertären Grüßen

						Stefan

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Zitiert aus "Im Unruhestand" von Gundolf Freyermuth
Erschienen in c't 25/99, S. 90

[...]

Die Digitalisierung hebt die industriellen Lebensphasen auf

In ihrer wachsenden Zahl künden die schulpflichtigen
Internet-Unternehmer von einem Trend zur Auflösung der starren
sozialen Rollen, die sich im Gefolge der industriellen Revolution
durchgesetzt haben. In der Agrarwirtschaft der vorherigen
Hochzivilisationen waren bürokratisch-gesetzliche Abtrennungen von
Lebensphasen nach numerischem Alter unbekannt. Fließender Übergang
bestimmte das Zusammenleben und -arbeiten aller Altersgruppen, ein
organisches Hineinwachsen in Rollen, die allmähliche Übernahme und
dann wieder Aufgabe von Verantwortungen. Die Industrialisierung trieb
jedoch die Menschen aus ihren Häusern in die Fabriken. Sie trennte
Lebens- und Arbeitsraum, zerriß Familien- und Dorfgemeinschaften und
entflexibilisierte damit den Umgang der verschiedenen Lebensalter.

Erst diese wahrhaft unmenschlichen, weil am Bedürfnis von primitiven
Maschinen orientierten Produktionsbedingungen der industriellen
Frühzeit ließen eine strikte Definition von Lebensabschnitten
notwendig erscheinen. Um wenigstens die Schwächsten von der physisch
wie psychisch kaum erträglichen Last industrieller Arbeit zu befreien,
mußten Schutzzonen etabliert werden. Das Verbot der zuvor in allen
Kulturen üblichen Kinderarbeit (in Preußen ab 1839) und die Einführung
der allgemeinen Rentenversicherung (durch Bismark 1889) gehören zu den
sozialen Errungenschaften der Zeit. Kindheit und Rentenalter als
abgezirkelte Lebensbereiche stellen insofern gelunge
Anpassungsleistungen an die besonderen Verhältnisse der industriellen
Epoche dar.

Mit ihr freilich überleben sie sich; nun, da die Digitalisierung alle
Lebensverhältnisse erfaßt. Wie sich die schulpflichtigen
High-Tech-Unternehmer nicht in die Kindrolle fügen wollen, die unsere
Zivilisation ihnen zugedacht hat, so auch immer weniger ihre Groß- und
Urgroßeltern in die komplementäre Rolle von ruhiggestellten Greisen.
Für jeden arbeitenden Teenager finden sich derweil Ausbrecher am
anderen Ende der Alterspyramide. Besondere Aufmerksamkeit erregen
natürlich prominente Alte -- etwa Walter B. Wriston, einst Chef der
Citicorp Bank und heute mit weit über 80 Jahren als Berater
zahlreicher Hightech-Neugründungen tätig, der 92jährige Architekt
Philiph Johnson oder gar Senator Strong Thurmond, der mit 96 Jahren
das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Clinton leitete.
Außerordentliche Männer und Frauen wie sie gab es natürlich zu allen
Zeiten; wie ja auch geigende oder Schach spielende
»Wunderkinder«. Doch gleich den jugendlichen Unternehmern
stellen die arbeitenden Alten keine seltenen Ausnahmen mehr dar.

»Ich habe es 1990 mal mit dem Ruhestand probiert«, zitierte die
Los Angeles Times jüngst Thomas Sahms, einen 73jährigen
Immobilienmakler: »Ich hatte wenig Talent dafür.« Joseph A.
Mintz, mit 81 Jahren als Versicherungsagent in Texas tätig, ist
derselben Ansicht: »Es gibt viele Leute, die nicht in Rente gehen,
weil sie nicht Golf spielen oder fischen oder weil sie nicht genug
Geld für solche Vergnügungen haben. Sie können ja nicht ihre ganze
Zeit vor dem Fernseher und mit Schundromanen verschwenden.« James
Russell Wiggins, seit 1922 im Berufsleben und heute mit 95 Jahren
Redakteur einer Wochenzeitung in Maine, beklagt die Massenverrentung
als Verschwendung von Talent und Ressourcen: »Wie kann eine
Gesellschaft solchen Müßiggang unterstützen?« Und
Pulitzer-Preisträger Stanley Kunitz, mit 93 fest entschlossen, sich
weder aus- noch abschalten zu lassen, erklärt Ruhestand schlicht zum
»schmutzigen Wort«.

Diese Beispiele als Sammelsurium widerspenstiger Einzelfälle abzutun,
verbietet die schiere Zahl der Menschen, die in anderen Teilen der
Welt noch arbeiten oder gar neue Karrieren beginnen, nachdem sie ein
Alter erreicht haben, das in den europäischen Wohlfahrtsstaaten
statistisch zu Vorruhestand oder gesetzlich verordneter Pensionierung
führt. Inzwischen bezieht die Hälfte aller EG-Bürger über 55 eine
Rente -- während die Beschäftigungszahlen just derselben
Altersgruppe in den USA stärker als die aller anderen und sogar
überproportional zum Anteil an der Gesamtbevölkerung wuchsen. Noch
jeder zweite 60- bis 65jährige Amerikaner steht im Berufsleben, ebenso
jeder Dritte 65- bis 70jährige, jeder sechste der 70- bis 79jährigen.
Und das nicht primär aus sozialer Not: Der Anteil an gutausgebildeten
und vergleichsweise wohlhabenden Personen unter den älteren
Arbeitnehmern ist überdurchschnittlich hoch. Der offensichtlich
freiwillige Trend zum Alter in Arbeit setzt sich in die neunte und
zehnte Dekade ungebrochen fort. Die über 85jährigen sind Amerikas am
schnellsten wachsende Bevölkerungsgruppe, ihre Zahl wird sich in den
nächsten zwei Jahrzehnten auf 7 Millionen Menschen verdoppeln. Und
sogar von den 90- bis 100jährigen arbeiten heute bereits über 50 000
regelmäßig, darunter allein 1200 zugelassene Ärzte.

Längere Lebensarbeitszeit in der Hightech-Heimat

Helen Dennis, Altersforscherin an der University of California,
interpretiert diese wachsende Minderheit von radikalen
Ruhestandsgegnern und Pensionierungsverweigerern als soziale
Avantgarde: »Was wir heute als außergewöhnlich ansehen, wird immer
normaler werden.« Auch Joseph F. Quin, Ökonom der Boston
University, vermutet in der Verlängerung der Lebensarbeitszeit eine
langfristige Trendwende -- bei der die Hightech-Heimat dem Rest der
Welt nur um ein paar Jahre voraus ist. Für beider Ansicht spricht, daß
es in den USA keine offizielle Altersgrenze gibt und
Zwangspensionierungen verboten sind. Die aktuellen statistischen
Zahlen drücken insofern nicht primär Vorgaben staatlicher Politik aus,
sondern recht unmittelbar die psychischen (und natürlich auch
finanziellen) Bedürfnisse sowie physischen Fähigkeiten der
Betroffenen. Sie offensichtlich lehnen, solange sie nur können, das
Alte-Eisen-Schicksal ab, das in der industriellen Epoche all denen
zugedacht war, die dem monoton-brutalen Arbeitsalltag nicht mehr
standhielten.

Über das gesamte 20. Jahrhundert hinweg, die Reifephase der
Industrialisierung, sank das Rentenalter. 1950 setzte sich der
durchschnittliche US-Erwerbstätige mit 67 Jahren zur Ruhe, Mitte der
achtziger Jahre mit 60. Doch seitdem nimmt die Zahl der Arbeitsjahre
auf auffällige Weise wieder zu. Diverse wissenschaftliche Studien
sehen für die kommenden Jahrzehnte ein Ansteigen des statistischen
Rentenalters auf mindestens 70 Jahre, für die zweite Hälfte des 21.
Jahrhunderts gar auf 80 Jahre voraus (bei weiter gestiegener
Lebenserwartung). Mögen solche Langzeitprognosen auch wenig
zuverlässig sein, ein Ende des Trends zur Verlängerung der
Lebensarbeitszeit ist nicht in Sicht. Jüngste Umfragen ergaben, daß
die heute 35- bis 54jährigen Amerikaner -- die Angehörigen der
geburtenstarken Jahrgänge -- mehr noch als die aktuellen Alten
entschlossen sind, sich nicht in die Untätigkeit abschieben zu lassen.
Zwischen 66 und 80 Prozent der jeweils Befragten gaben an, sie wollten
über das 65. Lebensjahr hinaus ihren Beruf ausüben. Diese Aussagen
zeugen von einer dramatischen Veränderung in der Einstellung zur
Arbeit, die sich binnen nur eines einzigen Jahrzehnts vollzogen hat -
Ende der achtziger Jahre ersehnte praktisch noch jeder Befragte, mit
55 »aufzuhören«.

Eine Flut von verwunderten Artikeln, wissenschaftlichen Untersuchungen
und programmatischen Büchern analysiert inzwischen diesen Willen, bis
ins hohe Alter aktiv am Erwerbsleben teilzunehmen. Unübersehbar ist
dabei der zeitliche Zusammenhang des Wandels mit der dritten
industriellen Revolution, die in den USA so weit fortgeschritten ist
wie nirgendwo sonst. Er legt es nahe, in der Digitalisierung einen,
wenn nicht den Auslöser der plötzlichen Abkehr von den sozialen
Verhaltensweisen zu sehen, die sich -- im Gegensatz zu früheren
Phasen der Menschheitsgeschichte -- während der vergangenen rund 200
Jahre herausbildeten. Es dürfte die erneute Veränderung der Arbeit
selbst sein, das heraufziehende Ende ihrer industriellen
Organisationsform und fremdbestimmten Gewalt, die auch die Einstellung
zu ihr verändert.

Vom Industrie- zum Wissensarbeiter

In einem Essay für das Magazin Atlantic beschreibt der
Sozialwissenschaftler und Management-Guru Peter F. Drucker -- selbst
ein Beispiel für aktives Altern, er veröffentlichte mit 90 Jahren
gerade sein 31. Buch -, die auffälligen strukturellen Parallelen
zwischen der ersten industriellen Revolution und den Veränderungen,
deren Zeitgenossen wir heute sind. In beiden Fällen automatisierten
technische Basiserfindungen -- die Dampfmaschine, der Computer --
zunächst existierende Produktionsabläufe. Jeweils vier bis fünf
Jahrzehnte später, nachdem zwei Generationen gelernt hatten, mit der
jeweiligen Innovation umzugehen, entwickelten sich dann in einer
zweiten Phase gänzlich neue Anwendungen: im historischen Fall
Eisenbahn und Fernverkehr; in der Gegenwart Internet und E-Commerce.
Sie veränderten jeweils radikal die Art und Weise, wie Geschäfte
getätigt wurden, und lösten so einen außergewöhnlichen Wirtschaftsboom
aus.

Nicht weniger nachhaltig sind jedoch die sozialen Konsequenzen
technischer Umbruchsperioden. Die Industrialisierung gebar zugleich
mit den neuen Arbeitsverhältnissen neue Sozialcharaktere mit je
eigenen Mentalitäten, Denk- und Arbeitsweisen: Unternehmer, Arbeiter,
Techniker, Bürokraten. Diese »neuen Menschen« prägten Kultur und
Konflikte der kommenden Epoche. Bei aller Verschiedenheit waren den
Zeitgenossen der Industrialisierung aber auch zentrale Erfahrungen
gemeinsam -- der Alltag in den boomenden Großstädten mit ihren nie
gekannten Menschenmassen, Massentransportmitteln, Massenbürokratien
und Massenvergnügungen, ebenso ein von Eisenbahn und Telegraf
bestimmtes neues Verständnis geografischer Räume, dazu die Trennung
zwischen Wohn- und Arbeitsplatz, die immer arbeitsteiligere Anlage der
meisten Berufe usw. Das alles führte zur Ausbildung einer
industriellen Lebensform, die sich nachhaltig vom 18. Jahrhundert und
seinen Verhaltens- und Denkformen unterschied.

Ähnlich radikale zivilisatorische Umwälzungen erleben wir nun im
Gefolge des Computers und des Internet, darauf deuten nicht nur die
Parallelen im phasenartigen Verlauf von Industrialisierung und
Digitalisierung. Niemand natürlich kann die digitale Zukunft im Detail
vorhersagen. Der historische Vergleich weist allerdings im Verein mit
aktuellen statistischen Werten auf einige Entwicklungstendenzen.

Im Falle der industriellen Revolution prägte der Sozialtypus des
Lohnarbeiters die Epoche - ein als Einzelperson unbedeutendes,
fremdbestimmtes Glied im mechanischen Produktionsprozeß, dem das
Ergebnis seiner Arbeit und damit diese selbst fremd bleiben mußte.
Lange bevor Arbeiter zahlenmäßig die Mehrheit gewannen, schreibt
Drucker, wurden sie zur ideologisch zentralen Klasse. Denn ihr
Schicksal verkörperte gewissermaßen, was die Industrialisierung der
gesamten Menschheit antat. An den Verhältnissen und Bedürfnissen der
Industriearbeiterschaft orientierte sich daher die Arbeits- und
Sozialgesetzgebung und in der Konsequenz auch das durch staatliche
Vorgaben gesteuerte Verhalten von Angehörigen vieler anderer Berufe
und sozialer Schichten.

Mit der Digitalisierung verliert die Industriearbeiterschaft nun diese
domininierende Rolle; im statistischen wie ideologischen Sinne. Ins
imaginäre Zentrum unserer Zeit rückt eine neue Schicht von Arbeitern.
Drucker nennt sie knowledge worker, Wissensarbeiter. Ihre Tätigkeiten
haben mit industrieller Handlangerei nichts mehr zu tun. Die
Wissensarbeiter als zentrale Schicht der Digitalisierung
--Programmierer, IT-Techniker, Webdesigner, High-Tech-Dienstleister
et al. - sind nicht Befehlsempfänger, sondern hochqualifizierte,
weitgehend autonom entscheidende Mitarbeiter. Ihre Ausbildung und ihr
Einsatz ähneln dem von traditionell akademischen und selbständigen
Berufen wie Ärzten oder Anwälten und in vielerlei Hinsicht auch dem
von Musikern, Malern und anderen Künstlern. Wie Anfang des 19.
Jahrhunderts der Industriearbeiter beginnen diese Wissensarbeiter als
historisch aufstrebende Schicht unsere Epoche weit über das Maß ihrer
reinen Zahl hinaus zu prägen. Ihr Weltbild färbt gewissermaßen auf den
Rest der arbeitenden Menschheit ab.

Gegenwärtig läßt sich so das Entstehen eines neuen Sozialcharakters
beobachten. Ihn prägt die Erfahrung, daß sich eine vollständige
Trennung zwischen (Privat-)Leben und Arbeit, zwischen der Weise, wie
einer sein Geld verdient, und dem, was er als Privatperson sein will,
schlicht nicht durchhalten läßt. Die Vorstellung, man könne seinen
Beruf in 30, 35 oder 40 Wochenstunden einsperren, wie es
Industriearbeitern und anderen entfremdet Tätigen möglich war und ist,
wird unter digitalen, von angeeigneten Informationen bestimmten
Bedingungen zunehmend absurd. Wissen muß nicht nur stets neu erworben
und aufgefrischt werden; es muß, um effektiv einsetzbar zu sein,
integraler Teil der Persönlichkeit werden. Was dem einzelnen aber
nicht mehr äußerlich und fremd gegenübersteht, kann er kaum auf
Knopfdruck an- und abschalten -- weder zu bestimmten Uhrzeiten noch
mit Beginn irgendeines beliebigen Lebensjahres.

Die Digitalisierung hebt damit nicht nur tendenziell die Trennung
zwischen Wohn- und Arbeitsplatz auf, sie bringt auch massenhaft den
mit der industriellen Produktion verlorengegangenen Zusammenhang
zwischen Leben und Beruf zurück. Von einer fremdbestimmten Last
wandelt sich Arbeit zu einem wesentlichen und befriedigenden Element
der eigenen Existenz. Wie ein Bauer stets rund um die Uhr und sein
Leben lang Bauer blieb oder wie Schachgroßmeister und Forscher das
Denken nicht um 17 Uhr einstellen, so wird der Alltag digitaler
Wissensarbeiter von ihrer Arbeit und der steten Notwendigkeit zu
geistiger Beweglichkeit erfüllt.

Neue Erwartungen an die eigene Biografie formen sich dabei. Die
letzten Jahre wie die Kleinkinder primär unter Gleichaltrigen, vor dem
Fernsehen, mit Spielchen, Bastelarbeiten oder dem Jammern über
körperliche Beschwerden zu verplempern, scheint weniger verlockend.
Die wachsende Minderheit arbeitender Alter von heute, wesentlich
Angehörige von Wissensberufen, stellt insofern eine historische Vorhut
dar. Ohne Arbeit, meint etwa Dr. James R. Dumpson, ein
vielbeschäftigter Gutachter, »säße ich nur zu Hause rum und
überlegte, was mir heute gerade wehtut und welche Medizin ich dagegen
nehmen könnte.« Die Konsequenz des 90jährigen: »Ruhestand steht
nicht in meinem Terminkalender.«

Computer, neue Arbeit, neues Alter

Eine solch weitgehende Integration der beruflichen in die private
Existenz ist natürlich nur möglich und erträglich, weil sich in der
digitalen Epoche der Charakter der Arbeit selbst verändert.
Fremdbestimmung und Zermürbung durch unflexible Maschinensysteme,
symbolisiert im Fließband; das Eingesperrtsein in
autoritär-bürokratische Befehlshierarchien, verkörpert in der
lebenslänglichen Festanstellung; dazu die Trennung von Lebens- und
Arbeitsraum: Das alles nähert sich seinem historischen Ende. Die
Vernichtung industrieller Arbeitsplätze, von vielen mit dem
Verschwinden von Arbeit selbst verwechselt, verändert das
Arbeitsleben. In den USA etwa gingen in den 500 größten Konzernen seit
1980 fünf Millionen Arbeitsplätze verloren -- während in Kleinfirmen
34 Millionen neue Jobs entstanden.

Die Mehrzahl dieser neuen Tätigkeiten unterscheidet sich freilich so
dramatisch von industrieller Arbeit, daß nicht einmal mehr die
Bezeichnung »Arbeitsplatz« auf sie zutrifft. Der 1999er
California Work and Health Survey dokumentierte im amerikanischen
Westen eine radikale Reorganisation des Arbeitslebens. Nur ein Drittel
aller Erwerbstätigen in Silicon Valley und Umgebung ist noch
festangestellt. 40 Prozent wechselten während der vergangenen drei
Jahre wenigstens einmal den Arbeitgeber, ein Viertel arbeitet
lediglich saisonal, 12 Prozent halten mehrere Jobs, acht Prozent
verdienen ihr Geld komplett aus dem eigenen Heim. »Wir haben alle
geglaubt, daß wir auf dem Weg zu dieser Sorte von Wandel waren«,
kommentiert Ed Yelin von der University of California die Überraschung
der Experten. »Aber aus den Daten wird nun klar, daß wir bereits
bei den neuen Verhältnissen angekommen sind.«

Bürokratische Befehls- und Gehorsamsstrukturen, wie sie in den großen
industriellen Apparaten dominierten, werden in der Wissensökonomie
durch Mobilität und eigenständiges, kreatives Handeln abgelöst. Jeder
wandelt sich, wie Ulrich Beck es als Leitbild formulierte, zum
»Unternehmer seiner Arbeitskraft und Daseinsvorsorge«. Der
Geldberuf kann unter diesen Bedingungen werden, was er in der
industriellen Epoche außerhalb von privilegierten Nischen kaum war:
Quelle von Befriedigung und Lebenssinn. Je weiter die Digitalisierung
fortschreitet, desto weniger vermag den Menschen daher das heute
typische Rentnerdasein als segensreiche Erlösung erscheinen. Am
Ruhestand tritt vielmehr der Stillstand hervor - als Schreckensbild.
Die (Früh-)Rentner von heute dürften insofern eine Spezies sein, die
zusammen mit anderen industriellen Erscheinungen ausstirbt; zum Guten
jedes Einzelnen und zum Besseren der Volkswirtschaften.

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