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[ox] Paper Linux-ist-wertlos



Hi all,

hm, typisch, auf den letzten Drücker, aber ich habe es nicht früher
geschafft. Nun aber ist es soweit: Der erste Entwurf meines
Linuxtag-Vortrages. Spart nicht mit Kritik, Anmerkungen etc., ich würde
mich freuen. Donnerstag muss ich leider den Artikel schon abschliessen
[THORSTEN: Oder ist es ok, wenn ich Montag, 10.4. abgebe? Es steht ja im
Prinzip schon alles...].

Bye,
Stefan

+-----------------+
"GNU/Linux ist nichts wert - und das ist gut so!"

Stefan Meretz, Version 1.00, Letzte Änderung: 04.04.2000
Vortrag auf dem Linuxtag 2000, 29.6.-2.7.2000 in Stuttgart, erschienen
auf der Linuxtag-CD
Originalquelle: http://www.kritische-informatik.de/lxwertl.htm
Lizenz: GNU Free Documentation License Version 1.1,
http://www.gnu.org/copyleft/fdl.html

Inhalt:
1. Eine kurze Geschichte Freier Software
1.1. Der erste Geniestreich
1.2. Der zweite Geniestreich
1.3. Zusammenfassung zwischendurch
2. Kapitalismus und Freie Software
2.1. Der Produktionskreislauf
2.2. Der Konsumkreislauf
2.3. Knappheit und Wert
2.4. Freie Software befreit
2.5. Aber was ist mit den Geldmachern?
3. OSI und GNU - zwei verkrachte Geschwister
3.1. Der Wirtschafts-Liberalismus von ESR
3.2. Der Bürgerrechts-Liberalismus von RMS
4. Freie Software für freie Menschen
5. Meta-Text
5.1. Versionen-Geschichte
5.2. Literatur
5.3. Anmerkungen
__________________________________________________________________________

"GNU/Linux ist nichts wert - und das ist gut so!"

Man versteht wie etwas ist, wenn man versteht wie es geworden ist. Daher
beginne ich mit einem kurzen Rückblick in die (Vor-) Geschichte Freier
Software. Im zweiten Kapitel befasse ich mich mit der Frage, wie Freie
Software ökonomisch in unser Wirtschaftssystem, den Kapitalismus,
einzuordnen ist. Hieraus gewinne ich Kriterien für die Beleuchtung der
scheinbar konträren Positionen von E. S. Raymond und R. M. Stallman, die
stellvertretend für prominente Strömungen Freier Software stehen. Ich
schließe ab mit einer Betrachtung der individuellen
Handlungsmöglichkeiten und der Rolle, die Freie Software dabei spielen
kann.

1. Eine kurze Geschichte Freier Software

Es gibt freie Software, weil es unfreie Software gibt. Unfreie Software
ist "proprietäre Software", also Software, die einem Eigentümer gehört.
Das wäre nicht weiter schlimm, würde die Tatsache des Privateigentums an
Software nicht zum Ausschluss anderer führen. Der Eigentümer schließt
andere von der Nutzung der Software aus, um ein knappes Gut zu erzeugen.
Das geht bei Software relativ einfach durch Zurückhalten des Quellcodes
des Programms. Nur knappe Güter besitzen Tauschwert und lassen sich zu
Geld machen. Das ist das Funktionsprinzip des Kapitalismus [1]. Ich
komme darauf zurück.

Unfreie wie freie Software gibt es noch nicht lange, gerade einmal ca.
20 Jahre. Die Entstehung unfreier wie freier Software versteht man, wenn
man in Vorgeschichte schaut. Im Kalten Krieg, wir befinden uns in den
50er Jahren, wurde zwischen den USA und der Sowjetunion verbissen um die
ökonomische Vorherrschaft gerungen. Vorherrschaft hatte damals eine
militärische und eine symbolische Komponente, beide waren oft
miteinander verwoben. So war es ein ungeheuerlicher Vorgang, als es der
Sowjetunion 1957 gelang, den Sputnik in die Erdumlaufbahn zu schießen.
Davon erholten sich die USA mental erst 1969, als sie es waren, die den
ersten Menschen zum Mond brachten.

Der Sputnik wurde als technologische Niederlage erlebt. Sofort begannen
hektische Aktivitäten, um den vermeintlichen Rückstand aufzuholen. 1958
wurde die ARPA (Advanced Research Projects Agency) gegründet, die die
Aufgabe hatte, die Forschungsaktivitäten zu koordinieren und zu
finanzieren. In einem Klima der Offenheit und Innovationsfreude wurden
in der Folgezeit zahlreiche seinerzeit revolutionäre Produkte
geschaffen, von denen ich zwei herausheben möchte, weil sie für die
Freie Software eine besondere Bedeutung bekommen sollten: das Internet
und das Betriebssystem UNIX (beide 1969). In diese Phase der staatlich
finanzierten und koordinierten Forschung fällt auch die Festschreibung
zahlreicher Standards, die heute noch Bestand haben [2].

Zum staatlichen Interesse an starken Standards kam das geringe Interesse
der Computerindustrie an der Software. Computerindustrie war
Hardwareindustrie, Software war Beiwerk zum Hardwareabsatz. Das änderte
sich erst Ende der Siebziger Jahre als Computer immer leistungsfähiger
wurden und Software auch eigenständig vermarktbar zu werden begann. In
dem Maße, in dem Software zur profitablen Ware wurde, zog sich der Staat
aus den Innovationen zurück. Um die je eigene Software verwerten zu
können, mußte der Quelltext dem Konkurrenten und damit auch dem User
verborgen bleiben. Software war nur als proprietäre Software profitabel.
Mit offenen Quellen hätte sich zum Beispiel Microsoft nie als
monopolartiger Moloch etablieren können. Staatsrückzug und
Privatisierung von Software bedeuteten jedoch auch eine Aufweichung von
Standards. So entstanden in der Folge sehr viele zu einander wenig oder
gar inkompatible Unix-Versionen (AT&T, BSD, Sun, HP, DEC, IBM, Siemens
etc.).

Die Konsequenzen für den universitären Forschungsrahmen waren
verheerend. Wo früher freier Austausch von Ideen herrschte, wurden jetzt
Forschende und Lehrende gezwungen, Kooperationen zu beschränken oder
ganz zu unterlassen. Software als Ergebnis von Forschungsaktivitäten
durfte nicht mehr dokumentiert werden, sobald es über proprietäre
Software an Firmen oder Patente gekoppelt bzw. selbst für die
Patentierung vorgesehen war. Richard Stallman beschreibt diese Situation
so:
"1983 gab es auf einmal keine Möglichkeit mehr, ohne proprietäre
Software einen sich auf dem aktuellen Stand der Technik befindenden
Computer zu bekommen, ihn zum Laufen zu bringen und zu nutzen. Es gab
zwar unterschiedliche Betriebssysteme, aber sie waren alle proprietär,
was bedeutet, daß man eine Lizenz unterschreiben muß, keine Kopien mit
anderen Nutzern austauschen darf und nicht erfahren kann, wie das System
arbeitet. Das ist eine Gräben öffnende, schreckliche Situation, in der
Individuen hilflos von einem 'Meister' abhängen, der alles kontrolliert,
was mit der Software gemacht wird."[3]

1.1. Der erste Geniestreich

Als Reaktion darauf gründete Stallman das GNU-Projekt [4]. Ziel des
GNU-Projekts und der 1985 gegründeten Free Software Foundation (FSF) war
die Entwicklung eines freien Betriebssystems. Hunderte Komponenten für
ein freies Betriebssystem wurden entwickelt. Doch die wirklich geniale
Leistung des GNU-Projekts bestand in der Schaffung einer besonderen
Lizenz, der GNU General Public License (GPL) - auch "Copyleft" genannt.
Die Lizenz beinhaltet auf folgende vier Prinzipien:
- das Recht zur freien Benutzung des Programms,
- das Recht, Kopien des Programms zu erstellen und zu verbreiten,
- das Recht, das Programm zu modifizieren,
- das Recht, modifizierte Versionen zu verteilen.
Diese Rechte werden gewährleistet, in dem die GNU GPL vorschreibt, daß
- der Quelltext frei jederzeit verfügbar sein und bleiben muß,
- die Lizenz eines GPL-Programms nicht geändert werden darf,
- ein GPL-Programm nicht Teil nicht-freier Software werden darf [5].

Die besondere Stärke der GNU GPL besteht in dem Verbot GPL-Programme in
proprietäre Software zu überführen. Auf diese Weise kann sich niemand
offene Quelltexte aneignen und modifiziert in binärer Form in eigenen
Produkte verwenden. Damit kann Freie Software nicht reprivatisiert
werden, die Freiheit bleibt gewährleistet. Die besondere Stärke der GPL
die Reprivatisierung zu unterdrücken ist in der Augen der Privatisierer
ihr größter Nachteil. In der Folge entstanden daher zahlreiche Lizenzen
(vgl. Tab. 1), die die strikten Regelungen der GPL aufweichten, um auch
Freie Software kommerzialisierbar zu machen. Ich komme darauf zurück.

[Tab. 1: Vergleich der Lizenzarten]

1.2. Der zweite Geniestreich

Das GNU-Projekt entwickelte ein nahezu komplettes Betriebssystem - bis
auf einen kleinen, aber nicht unwichtigen Rest: den Kernel. Obwohl seit
Beginn des GNU-Projekts geplant, gelang es nicht, einen GNU-Kernel zu
entwickeln. Die missliche Situation änderte sich 1991 schlagartig als
Linus Torvalds die Version 0.01 eines freien Unix-Kernels vorstellte -
fortan "Linux" genannt. Die Entwicklungsdynamik war rasant, der Erfolg
war überwältigend - so überwältigend, dass heute oft vergessen und
sprachlich verdrängt wird, welchen Anteil das GNU-Projekt am
Zustandekommen des freien Betriebssystems hatte und hat.

Warum gelang aber einem finnischen Student, was einem ausgewachsenen
Projekt wie GNU nicht glückte? Die Antwort ist nicht so naheliegend und
einfach: Es lag am unterschiedlichen Entwicklungsmodell. Stallman und
die GNU-Leute hatten die klassische Vorstellung, dass ein komplexes
Programm wie ein Kernel nur von einem kleinen eingeschworenen Team
entwickelt werden könne, da sonst der Überblick und die Kontrolle
verloren gehen würde. Das hat Torvalds intuitiv auf den Kopf gestellt.
Ein Ausschnitt aus der inzwischen in die Geschichte eingegangenen
Tanenbaum-Torvalds-Debatte [6] verdeutlicht das. Tanenbaum schreibt:
"Ich denke, daß die Koordination von 1000 Primadonnas, die überall auf
der ganzen Erde leben, genauso einfach ist wie Katzen zu hüten ...
Wenn Linus die Kontrolle über die offizielle Version behalten will und
eine Gruppe fleißiger Biber in verschiedene Richtungen strebt, tritt das
gleiche Problem auf.
Wer sagt, daß eine Menge weit verstreuter Leute an einem komplizierten
Stück Programmcode hacken können und dabei die totale Anarchie
vermeiden, hat noch nie ein Softwareprojekt gemanagt."
Torvalds antwortet:
"Nur damit niemand seine Vermutung für die volle Wahrheit nimmt, hier
meine Stellungnahme zu 'Kontrolle behalten' in 2 Worten (drei?):
Ich will nicht. [I won't]"

Torvalds veröffentlichte frühzeitig und in kurzen Zeitabständen neue
Versionen. Es bildeten sich mehr und mehr freie Softwareprojekte, die
ähnlich strukturiert waren und sind. Ältere Projekte strukturierten sich
nach dem Vorbild von Linux um. Maintainer, einzelne Personen oder
Gruppen, übernehmen die Verantwortung für die Koordination eines
Projektes. Projektmitglieder steigen ein und wieder aus, entwickeln und
debuggen Code und diskutieren die Entwicklungsrichtung. Es gibt keine
Vorgaben wie etwas zu laufen hat, und folglich gibt es auch verschiedene
Regeln und Vorgehensweisen in den freien Softwareprojekten. Dennoch
finden alle selbstorganisiert ihre Form, die Form, die ihren selbst
gesetzten Zielen angemessen ist. Das einfache Prinzip, das reguliert
ist: Was funktioniert, das funktioniert! Ausgangspunkt sind die eigenen
Bedürfnisse, Wünsche und Vorstellungen - das ist bedeutsam, wenn man
freie und kommerzielle Softwareprojekte vergleicht.

1.3. Zusammenfassung zwischendurch

Überraschender weise besteht die historische Leistung von Richard
Stallman und Linus Torvalds nicht in Softwarebausteinen, die sie
entwickelt haben. Das haben sie auch getan, doch die eigentliche
historisch-geniale Tat haben beide sozusagen "nebenbei" vollbracht.
Stallman schuf die GNU GPL, die Lizenz, ohne die freie Software
undenkbar wäre. Es ist die Lizenz von Torvalds' Linux [7] und es ist die
Lizenz, die dem Kapitalismus schwer im Magen liegt wie wir gleich sehen
werden.

Torvalds hat intuitiv mit der alten hierarchischen Entwicklungsweise
kommerzieller Software gebrochen. Ihm war die alte, geldgetriebene
Haltung des "ich muß die Kontrolle behalten" einfach zu blöd. Als
pragmatischer Chaot hat er die Energien freigesetzt, von denen Freie
Software lebt: die Selbstentfaltung des Einzelnen und die
Selbstorganisation der Projekte.

2. Kapitalismus und Freie Software

Es gibt eine bekannte Comic-Vorstellung vom Kapitalismus. Oben gibt es
die mit den schwarzen Zylindern, die über das Kapital und die Mittel zur
Produktion verfügen. Unten gibt es die mit den blauen Overalls, die
unter der Knute der Schwarzzylindrigen schwitzen, weil sie keine
Produktionsmittel haben und deswegen ihre Arbeitskraft verkaufen müssen.
Je nach persönlicher Vorliebe beklagt man, dass es ungerecht sei, dass
die oben die unten ausbeuten, oder dass die Ausbeutung eben in der Natur
des Unternehmertums liege.

Dieses Comic taugt nichts, schon gar nicht, wenn man "Freie Software"
verstehen will. Ein anderes Bild muss her. Aus meiner Sicht kann man den
Kapitalismus als kybernetische Maschine verstehen, also einer Maschine,
die "sich selbst" steuert. Das schließt ein, dass es keine Subjekte
gibt, die "draußen" an den berühmten Hebeln der Macht sitzen, sondern
dass die Maschine sich subjektlos selbst reguliert. Zentraler Regulator
ist der Wert, auch Tauschwert genannt, und zwar in zweifacher Weise: für
die Seite der Produktion und die des Konsums.

2.1. Der Produktionskreislauf

In der Produktion wird abstrakte Arbeit verrichtet. Sie heißt abstrakt,
weil es unerheblich ist, was produziert wird, Hauptsache es wird Wert
geschaffen. Der Wert ist die Menge an Arbeitszeit, die in ein Produkt
gesteckt wird. Werden auf dem Markt Produkte getauscht, dann werden
diese Werte, also Arbeitszeiten miteinander verglichen. Zwischen den
direkten Produktentausch tritt in aller Regel das Geld, das keinen
anderen Sinn besitzt, außer Wert darzustellen.

Was ist, wenn beim Tausch im einen Produkt weniger Arbeitszeit als im
anderen steckt? Dann geht der Hersteller des "höherwertigen" Produkts
auf Dauer Pleite, denn er erhält für sein Produkt nicht den "vollen
Wert", sondern weniger. Wer fünf Stunden gegen drei Stunden tauscht,
verschenkt zwei. Das geht auf Dauer nicht gut, denn die Konstrukteure
der Produkte, die Arbeiter und Angestellten, wollen für die volle
Arbeitszeit bezahlt werden. Also muss der Tauschorganisator, der
Kapitalist, zusehen, dass die für die Herstellung des Produkts
notwendige Arbeitszeit sinkt. Das wird in aller Regel auf dem Wege der
Rationalisierung vollzogen, dem Ersatz von lebendiger durch tote Arbeit
(=Maschinen).

Was der eine kann, kann der Konkurrent auch. Wichtig und entscheidend
ist dabei: Es hängt nicht vom Wollen der Konkurrenten ab, ob sie
Produktwerte permanent senken, sondern es ist das Wert-Gesetz der
Maschine, das sie exekutieren. Das Wert-Gesetz der Produktion besteht im
Kern darin, aus Geld mehr Geld zu machen. Die Personen sind so unwichtig
wie die Produkte, das Wert-Gesetz gibt den Takt an. Oder wie es der
oberste Exekutor des Wert-Gesetzes, Hans-Olaf Henkel (BDI-Präsident),
formuliert:
"Herrscher über die neue Welt ist nicht ein Mensch, sondern der Markt.
(...) Wer seine Gesetze nicht befolgt, wird vernichtet." (Süddeutsche
Zeitung, 30.05.1996)

2.2. Der Konsumkreislauf

Das Markt- oder Wert-Gesetz bestimmt auch die, nur ihre Arbeitskraft
verkaufen können, um an das notwendige Geld zu kommen. Ohne Moos nix
los. Auch die Arbeitskraft besitzt Wert, nämlich soviel wie für ihre
Wiederherstellung erforderlich ist. Diese Wiederherstellung erfolgt zu
großen Teilen über den Konsum, wofür Geld erforderlich ist, was wiederum
den Verkauf der Arbeitskraft voraussetzt. Auch dieser Regelkreis hat
sich verselbständigt, denn in unserer Gesellschaft gibt es kaum die
Möglichkeit, außerhalb des Lohnarbeit-Konsum-Regelkreises zu existieren.

Beide Regelkreise, der Produktionskreis und Konsumkreis, greifen
ineinander, sie bedingen einander. Es ist auch nicht mehr so selten,
dass sie in einer Person vereint auftreten. Das universelle
Schmiermittel und Ziel jeglichen Tuns ist das Geld. Noch einmal sei
betont: Die Notwendigkeit, Geld zu erwerben zum Zwecke des Konsums oder
aus Geld mehr Geld zu machen in der Konkurrenz, ist kein persönlicher
Defekt oder eine Großtat, sondern nichts weiter als das individuelle
Befolgen eines sachlichen Gesetzes, des Wert-Gesetzes. Eine wichtige
Konsequenz dieser Entdeckung ist die Tatsache, dass unser
gesellschaftliches Leben nicht von den Individuen nach sozialen
Kriterien organisiert wird, sondern durch einen sachlichen,
kybernetischen Regelkreis strukturiert ist. Das bedeutet nicht, dass die
Menschen nicht nach individuellem Wollen handeln, aber sie tun dies
objektiv nach den Vorgaben des kybernetischen Zusammenhangs. Wie Rädchen
im Getriebe.

2.3. Knappheit und Wert

Damit die Wert-Maschine läuft, müssen die Güter knapp sein. Was alle
haben oder bekommen können, kann man nicht zu Geld machen. Noch ist die
Luft kein knappes Gut, aber schon wird über den Handel mit Emissionen
nachgedacht, denn saubere Luft wird knapp. Viele selbstverständliche
Dinge werden künstlich verknappt, um sie verwertbar zu machen. Das
prominente Beispiel, das uns hier interessiert, ist die Software.
Software als Produkt enthält Arbeit wie andere Produkte auch [7a]. Wie
wir im historischen Exkurs gesehen haben, war Software solange frei
verfügbar wie sie nicht verwertbar erschien. Software wurde als Zugabe
zur wesentlich wertvolleren Hardware verschenkt. Im Zuge gestiegener
Leistungsfähigkeit und gesunkener Werthaltigkeit der Hardware (ablesbar
an gesunkenen Preisen) stieg auch die Bedeutung von Software - sie wurde
auch für die Verwertung interessant.

Um Software verwertbar zu machen, muss Knappheit hergestellt werden.
Dies geschieht im wesentlichen durch:
- Zurückhalten des Quellcodes
- Einschränkende Lizensierung und Patentierung
Wie bei jedem Produkt interessiert bei kommerzieller Software der
Gebrauchswert den Hersteller überhaupt nicht. Ist ein aufgemotztes
"Quick-And-Dirty-Operating-System" (QDOS) [8] verkaufbar, wird es
verkauft. Ist das Produkt des Konkurrenten erfolgreicher, dann wird das
eigene Produkt verbessert. Die Nützlichkeit und Brauchbarkeit ist damit
nur  ein Abfallprodukt - wie wir es zur Genüge von den kommerziellen
Softwareprodukten kennen.

Entsprechend sieht es auf der Seite der Entwickler/innen aus. Auch
Software-Entwickler/innen liefern nur ihre abstrakte Arbeit ab. In kaum
einem anderen Branche gibt es so viele gescheiterte kommerzielle
Projekte wie im Softwarebereich [9]. Mit 40 gehören Entwickler/innen
schon zum alten Eisen. Der fröhliche Optimismus der Newbies im Business
verfliegt schnell. Wessen gute Vorschläge ein paarmal mit dem Hinweis
auf die Deadline des Projektes abgeschmettert wurden, weiss, was ich
meine. Ein Berufstraum wird zum traumatischen Erlebnis.

2.4. Freie Software befreit

Das ist mit Freier Software anders. Der erste Antrieb Freier Software
ist die Nützlichkeit. Der erste Konsument ist der Produzent. Es tritt
kein Tausch und kein Geld dazwischen, es zählt nur eine Frage: Macht die
Software das, was ich will. Da die Bedürfnisse der Menschen keine
zufälligen sind, entstehen freie Softwareprojekte. Auch hier geht es
nicht um Geld, sondern um das Produkt. Es gibt keine größere
Antriebskraft als die individuelle Interessiertheit an meinem guten
nützlichen Produkt. Diese Arbeit nenne ich konkrete Arbeit.

Konkrete Arbeit ist der abstrakten Arbeit überlegen. Das weiß auch der
Exekutor des Wert-Gesetzes in der Produktion. Deswegen spielt der Spaß,
das Interesse am Produkt, auch in der geldgetriebenen Produktion eine
wichtige Rolle. Es ist nur so, dass die abstrakte Arbeit immer gewinnt.
Letztlich zählt eben nur, was hinten rauskommt - und zwar an Geld.

Abstrakte Arbeit ist nervtötend. Wer sagt, ihm mache seine abstrakte
Arbeit Spaß, der lügt - oder macht sich was vor, um die abstrakte Arbeit
aushalten zu können. Abstrakte Arbeit ist unproduktiver als konkrete
Arbeit - wozu soll ich mich für etwas engagieren, was mich eigentlich
nicht interessiert? Also muss man mich ködern mit Geld. Da sieht es für
Informatiker/innen zur Zeit gut aus. Aber die Green Card bringt das auch
wieder ins Lot. Dann ist da noch die latente Drohung: "Wenn du nicht gut
arbeitest, setze ich dich woanders hin oder gleich ganz raus". Wer sich
bedroht fühlt, arbeitet nicht gern und schlecht - im Sinne abstrakter
Arbeit. Zuckerbrot und Peitsche, die Methoden des alten Rom. Und Rom ist
untergegangen.

Konkrete Arbeit kann man nicht kaufen, jedenfalls nicht auf Dauer.
Konkrete Arbeit funktioniert nur außerhalb der rückgekoppelten
Wert-Maschine. GNU/Linux konnte nur außerhalb der
Verwertungszusammenhänge entstehen. Nur außerhalb des
aus-Geld-mehr-Geld-machen-egal-wie konnte sich die Kraft der
individuellen Selbstentfaltung zeigen.

2.5. Aber was ist mit den Geldmachern?

Machen wir uns keine Illusionen. Dort, wo man Geld machen kann, wird das
Geld auch gemacht, und wenn es nicht anders geht, dann eben mit dem
Drumherum von Freier Software. Das sind Absahner, nicht ohne Grund
kommen sie alle zum Linuxtag. Das verurteile ich nicht, ich stelle es
nüchtern fest. Maschinen haben den Vorteil, dass man ihre Wirkungsweise
ziemlich nüchtern untersuchen kann. So sehe ich mir den Kapitalismus an.

Wenn ich die kapitalistische Wert-Maschine verstehe, habe ich nützliche
Kriterien an der Hand - für das eigene Handeln und für die Einschätzung
so mancher Erscheinungen freier Software. Auf beides will ich im
folgenden eingehen.

3.  OSI und GNU - zwei verkrachte Geschwister

Anfang 1998 gründen Eric. S. Raymond und Bruce Perens die Open Source
Initiative (OSI). Erklärtes Ziel ist die Vermarktung von Freier
Software, die Einbindung Freier Software in die normalen
Verwertungszyklen von Software. Zu diesem Zweck wurde der
Marketing-Begriff "Open Source" ausgewählt. Nur mit einem neuen Begriff
sei die Wirtschaft für die Freie Software gewinnbar. Der Begriff der
"Freiheit" sei für die Wirtschaft problematisch, er klinge so nach
"umsonst" und "kein Profit" [10]. Im übrigen wolle man das Gleiche wie
die Anhänger der Freien Software, nur gehe man pragmatischer vor und
lasse den ideologischen Ballast weg.

Richard Stallman, Gründer des GNU-Projekts, wirft den
Open-Source-Promotern vor, in ihrem Pragmatismus würde die Grenzen zur
proprietären Software verschwimmen. Der Begriff "Open Source" sei ein
Türöffner zum Missbrauch der Idee Freier Software durch Softwarefirmen,
die eigentlich proprietäre Software herstellen und vertreiben. Im
übrigen sei man überhaupt nicht gegen Kommerz und Profit, nur die
"Freiheit" müsse gewahrt bleiben.

3.1. Der Wirtschafts-Liberalismus von ESR

Nachdem sich der Mitgründer Bruce Perens wegen der zu großen Anbiederung
an den Kommerz wieder von der OSI abgewendet hat, ist es kein Fehler,
sich alleine mit den Auffassungen von Eric. S. Raymond (ESR) zu
beschäftigen. In den drei Aufsätzen "The Cathedral and the Bazaar",
"Homesteading the Noosphere" und "The Magic Cauldron" entwickelt er ein
Kompatibilitätskonzept für die Verbindung von Freier Software und
Kapitalismus [11].

Mit Freier Software ist der kommerzielle Software-Verwerter in eine
Klemme gekommen. Freie Software ist öffentlich und nicht knapp. Die in
der Freien Software steckende Arbeit wird einfach verschenkt. Damit ist
sie nicht mehr verwertbar, sie ist wertlos. ESRs Bemühen dreht sich nun
emsig darum, die aus den Verwertungskreisläufen herausgeschnittene Freie
Software durch Kombination mit "unfreien Produkten" wieder in die Mühlen
der kybernetischen Wert-Maschine zurückzuholen. Seine Vorschläge, die er
in "The Magic Cauldron" entwirft - er nennt sie "Modelle für indirekten
Warenwert -, seien im folgenden kurz untersucht.

"Lockangebot": Freie Software wird verschenkt, um mit ihr unfreie
Software am Markt zu positionieren. Als Beispiel nennt ESR Netscape mit
dem Mozilla-Projekt - ein Beispiel, das ziemlich offensichtlich kurz vor
dem Scheitern steht [Jamie Zawinski]. Was passiert hier? Eine Firma
schmeißt ihren gescheiterten Browser den freien Entwickler/innen vor die
Füße und ruft: "Rettet unsere Profite im Servermarkt!". Dabei behält sie
sich auch noch das Recht vor, die Ergebnisse wieder zu unfreier Software
zu machen.

"Glasurmethode": Unfreie Hardware (Peripherie, Erweiterungskarten,
Komplettsysteme) wird mit einem Guß Freier Software überzogen, um die
Hardware besser verkaufen zu können. Mussten vorher Hardwaretreiber,
Konfigurationssoftware oder Betriebssysteme von der Hardwarefirma
entwickelt werden, überläßt man das einfach der freien Softwaregemeinde.
Wie praktisch, die kostet ja nichts! Unvergütete Aneignung von
Arbeitsresultaten anderer - nennt man das nicht Diebstahl? Nein, werden
die Diebe antworten, das Resultat ist doch frei!

"Restaurantmethode": In Analogie zum Restaurant, das nur freie Rezepte
verwendet, aber Speisen und Service verkauft, wird hier Freie Software
von Distributoren zusammengestellt und zusammen mit Service verkauft.
Die eigene Leistung besteht in der Zusammenstellung der Programme, der
Schaffung von Installationsprogrammen und der Bereitstellung von
Service. Unbezahlte Downloads oder gar Cloning der Eigenleistungen durch
fremde Distrubutoren wird als Vergrößerung des gemeinsamen Marktes
hingenommen. Oft werden gute Hacker von Distributoren angestellt, die
Grenzen zwischen bezahlter und unbezahlter Arbeit sind fließend. Das
Geschäftsgebahren der verschiedenen Distribution ist durchaus
unterschiedlich. Während sich das nichtkommerzielle Debian-Projekt mit
ihrem Gesellschaftsvertrag [12] zur Einhaltung bestimmter Standards und
zur Unterstützung Freier Software verpflichtet hat, steht für andere der
reine Selbstzweck der Markteroberung im Vordergrund (etwa SuSE oder
diverse Cloner).

"Zubehörmodell": Hierzu gehören Herausgeber von Dokumentationen oder
anderen Werken über Freier Software sowie andere Zubehörproduzenten, die
nur auf der Welle mitschwimmen (etwa die Hersteller der
Plüsch-Pinguine). Problematisch sind die exklusiven Lizenzen
(Copyright), die eine Verbreitung schriftlicher Werke verhindern. Der
Linuxtag ist selbst Opfer dieser Exklusion der Öffentlichkeit geworden.
Verlage, die Texte vom letzten Linuxtag herausgebracht haben, sorgten
dafür, das genau diese Texte von der Linuxtag-Website genommen werden
mussten. Nur knappe Produkte eignen sich als Ware!

"Marketingmodelle": Unter Ausnutzung der Popularität Freier Software
werden verschiedene Marketingtricks aufgelegt, um proprietärer Software
ein besseres Image zu verleihen und für Verkaufbarkeit zu sorgen. Damit
sind noch nicht einmal die Betrüger gemeint, die sich einfach selbst das
Label "Open Source" oder "Freie Software" auf ihre proprietären Produkte
kleben, sondern Formen wie
- das Versprechen, proprietäre Software in Zukunft freizugeben;
- der Verkauf von Gütesiegeln, die erworben werden müssen um "Freie
Software" verkaufen zu dürfen;
- der Verkauf von Inhalten, die eng mit dem sehr speziellen freien
Softwareprodukt verbunden sind (etwa Börsenticker-Software)

Es sollte deutlich geworden sein, dass alle diese "Modelle für
indirekten Warenwert" dazu dienen, die aus der Marktwirtschaft
herausgefallene Sphäre Freier Software wieder zurück in den Kreislauf
der selbstgenügsamen Wert-Maschine zu holen. Da kapitalistische
Verwertung auf Knappheit und Ausschluß von Öffentlichkeit beruht, Freie
Software aber genau das Gegenteil darstellt, müssen hier Feuer und
Wasser in eine "friedliche Koexistenz" gezwungen werden. Doch wie es mit
Feuer und Wasser verhält, so auch mit Freier Software und Verwertung:
Nur eines kann sich durchsetzen.

Im neoliberalen Modell Freier Software von ESR gibt es folgerichtig
keine wesentlichen Unterschiede zwischen "freier" Softwarelizenzen.
Vermutlich hat er nur mit Magengrimmen die GPL trotz des enthaltenen
Privatisierungsverbots auf die Liste von "OSI-zertifizierten" Lizenzen
gesetzt, da man an der GPL nicht gut vorbeikommt. Bis auf die
"Restaurantmethode", dem Vertrieb Freier Software durch Distributionen,
ist keines der oben genannten mit Buchstaben und Geist der GPL vereinbar
[13]. Die GPL schließt künstliche Verknappung und Privatisierung von
Code aus, und das behindert die Verwertung von Software weitgehend.

3.2. Der Bürgerrechts-Liberalismus von RMS

Dem ökonomischen Liberalismus von ESR steht der
Bürgerrechts-Liberalismus von RMS entgegen. RMS argumentiert (1994),
dass Software in privatem Besitz zu Entwicklungen führen würde, die dem
gesellschaftlichen Bedarf entgegen läuft. Die Gesellschaft brauche
- Information, z.B. im Quellcode einseh- und änderbare Programme statt
Blackbox-Software;
- Freiheit statt Abhängigkeit vom Softwarebesitzer;
- Kooperation zwischen den Bürgern, was die Denunziation von
Nachbarschaftshilfe als "Softwarepiraterie" durch die Softwarebesitzer
unterminieren würde.
Das seien die Gründe, warum Freie Software eine Frage der "Freiheit" und
nicht des "Preises" sei. Bekannt geworden ist der Satz "Think of 'free
speech', not of 'free beer'".

An diesen Kriterien orientiert sich auch die GNU GPL. Sie stellt sicher,
dass Software dauerhaft frei bleibt oder ökonomisch formuliert: Sie
entzieht Software dauerhaft der Verwertung. RMS ist dennoch keinesfalls
gegen den Verkauf Freier Software (1996). Auch die GPL selbst ermöglicht
ausdrücklich das Erheben einer Gebühr für den Vertrieb Freier Software.

RMS formuliert seine Vision gesellschaftlichen Zusammenlebens im
GNU-Manifest von 1984 so:
"Auf lange Sicht ist das Freigeben von Programmen ein Schritt in
Richtung einer Welt ohne Mangel, in der niemand hart arbeiten muß, um
sein Leben zu bestreiten. Die Menschen werden frei sein, sich
Aktivitäten zu widmen, die Freude machen, zum Beispiel Programmieren,
nachdem sie zehn Stunden pro Woche mit notwendigen Aufgaben wie
Verwaltung, Familienberatung, Reparatur von Robotern und der Beobachtung
von Asteroiden verbracht haben. Es wird keine Notwendigkeit geben, von
Programmierung zu leben." (Stallman 1984: Das GNU-Manifest).

Eine schöne Vision, die ich ohne zu zögern teilen kann. Nur: Wer glaubt,
diese Vision unter den Bedingungen des kybernetischen
Verwertungsmaschine mit Namen Kapitalismus erreichen zu können, rennt
einer Illusion hinterher. Der einzige Zweck der Wert-Maschine ist, aus
Geld mehr Geld zu machen - egal wie, egal womit. Freiheit von Mangel,
Muße, Freude, Hacking-for-Fun ist darin nicht vorgesehen.

Die von ESR mit angestoßene Open-Source-Welle führt das lehrbuchartig
vor. Es geht überhaupt nicht mehr um gesellschaftliche Freiheit, die nur
die Freiheit aller sein kann, sondern es geht um die Frage, wie ich aus
etwas "Wertlosem" trotzdem Geld machen kann, wie ich die Freude der
Hacker zu Geld machen kann, wie ich die lebendige konkrete Arbeit in
abstrakte, tote Arbeit verwandeln kann. Dieser mächtigen Welle vermag
RMS mit dem Ruf nach "Freiheit geht vor" kaum etwas entgegenzusetzen.
Vermutlich würde ESR antworten: Natürlich geht Freiheit vor, die
ökonomische Freiheit!

Hieran wird deutlich, dass der Liberalismus eben zwei Seiten hat:
Wirtschafts-Liberalismus und Bürgerrechts-Liberalismus. Robert Kurz
arbeit in seinem eindrucksvollen Werk "Schwarzbuch des Kapitalismus"
(1999) die gemeinsame Verwurzelung im historischen Liberalismus heraus
[14]. Er zeigt, das auch der Bürgerrechts-Liberalismus nur dazu da ist,
Menschenfutter für die kybernetische Verwertungsmaschine zu liefern. Wer
vom Kapitalismus nicht reden will, soll über die Freiheit schweigen.

4. Freie Software für freie Menschen

Wir sollten in die Offensive gehen! Wir sollten uns zum
antikapitalistischen Gehalt der GPL bekennen! Wir können sagen
"GNU/Linux ist nicht wert - und das ist gut so!". Freiheit gibt es nur
außerhalb der Verwertungs-Maschine. Die Freie Software da herausgeholt
zu haben, war eine historische Tat. Jetzt geht es darum, sie draußen zu
behalten, und nach und nach weitere Bereiche der kybernetischen Maschine
abzutrotzen. Dafür gibt es zahlreiche Ansätze, die Stefan Merten im
Beitrag "Gnu/Linux - Meilenstein auf dem Weg in die GPL-Gesellschaft"
skizziert.

Wie kann das gehen, wird sich sicher so mancher fragen. Man kann doch
nicht einfach rausgehen aus den Verwertungszusammenhängen - wovon soll
ich leben? Das sind berechtigte, zwingende Fragen. Ich denke, dass es
nicht darum geht, sofort und zu 100% aus jeglicher Verwertung
auszusteigen. Es geht darum, einen klaren Blick für die
Zwangsmechanismen der kybernetischen Verwertungsmaschinerie zu bekommen,
und danach das individuelle Handeln zu bemessen. Ich will einige
Bespiele nennen.

Konkrete und abstrakte Arbeit: Wenn ich für meine Reproduktion meine
Arbeitskraft verkaufen muß, dann sollte ich nicht versuchen, darin
Erfüllung zu finden. Natürlich ist es schön, wenn die Arbeit mal Spaß
macht. Doch Lohnarbeit bedeutet abstrakte Arbeit, und dabei kommt es
eben nicht auf meine Bedürfnisse, sondern die externen Zielvorgaben an.
Selbstentfaltung gibt es nur außerhalb, z.B. in Freien
Software-Projekten. Wenn ich die Erwartungshaltung an die Lohnarbeit
nicht habe, kann ich sie auch leichter begrenzen. Und das ist aufgrund
des endlosen Drucks in Software-Projekten eine dringende Notwendigkeit.

Eine Firma gründen: Manche denken, sie könnten der abhängigen
entfremdeten Arbeit dadurch entkommen, indem sie eine eigene Firma
gründen. Das ist so ziemlich die größte Illusion, die man sich machen
kann. Als Firmeninhaber bin ich direkt mit den Wert-Gesetzen der
kybernetischen Maschine konfrontiert. Die eigene Entscheidung besteht
nur darin, in welcher Weise ich diese Gesetze exekutiere, welches
Marktsegment ich besetze, welchen Konkurrenten ich aus dem Feld steche
usw. Ich bin mit Haut und Haaren drin, muß permanent mein Handeln als
das Richtige gegenüber allen rechtfertigen. Eine Distanzierung ist hier
noch schwerer als bei der entfremdeten Lohnarbeit.

Verwertete Entfaltung: Die eigene Selbstentfaltung ist die letzte
unausgeschöpfte Ressource der Produktivkraftentwicklung. Das wissen auch
die Exekutoren des Wert-Gesetzes, die die Selbstentfaltung der
Verwertung unterordnen wollen. Sie bauen die Hierarchien ab, geben uns
mehr Entscheidungsbefugnisse und Flexibilität bei der Arbeitszeit. Die
Stechuhren werden abgeschafft, weil man sie nicht mehr braucht - alle
arbeiten freiwillig länger nach dem Motto: "Tut was ihr wollt,
Hauptsache ihr seid profitabel". Die Zusammenführung der beiden Rollen
des Arbeitskraftverkäufers und des Wert-Gesetz-Exekutors in einer Person
ist der (nicht mehr so) neue Trick. Fallt darauf nicht rein! Die "Neue
Selbständigkeit" kann zur Hölle werden [15], denn Verwertung und
Selbstentfaltung sind unvereinbar.

Selbstentfaltung: Die unbeschränkte Entfaltung der eigenen
Individualität, genau das zu tun, was ich wirklich tun will, ist nur
außerhalb der Verwertungs-Maschine möglich. Nicht zufällig war es der
informatische Bereich, in dem wertfreie Güter geschaffen wurden. Uns
fällt es noch relativ leicht, das eigene Leben abzusichern. Wir werden
gut bezahlt, finden schnell einen Job. Freie Software zu entwickeln, ist
kein Muss, es ist ein Bedürfnis. Wir sind an Kooperation interessiert,
und nicht an Verdrängung. Die Entwicklung Freier Software ist ein
Beispiel für einen selbstorganisierten Raum jenseits der
Verwertungsmaßstäbe. Nur dort ist Selbstentfaltung möglich.

Mit diesen Beispielen möchte ich für Nüchernheit, Klarheit und Offenheit
plädieren - im Umgang mit anderen und sich selbst. Dazu gehört für mich
auch, wieder über das gesellschaftliche Ganze zu sprechen, denn das
sollten wir nicht den wirtschafts- oder bürgerrechtsliberalen
Interpreten überlassen. Der Kapitalismus ist nichts dämonisches, man
kann ihn verstehen und sein Handeln daran ausrichten. Dann hat Freie
Software als wertfreie Software auch ein Chance.

5. Meta-Text

5.1. Versionen-Geschichte

- Version 1.00, 4.4.00: Erste Vorab-Version in der Oekonux-Mailingliste

5.2. Literatur:

DiBona, C., Ockman, S., Stone, M. (1999), Open Sources: Voices from the
Open Source Revolution, Sebastopol/CA: O'Reilly; online verfügbar unter
http://www.oreilly.com/catalog/opensources/book/toc.html.
Fischbach, R. (1999), Frei und/oder offen? From Pentagon Source to Open
Source and beyond, in: FIFF-Kommunikation 3/99, S. 21-26.
Glißmann, W. (1999), Die neue Selbständigkeit in der Arbeit und
Mechanismen sozialer Ausgrenzung, in: Herkommer, S. (Hrsg., 1999),
Soziale Ausgrenzungen. Gesichter des neuen Kapitalismus, Hamburg: VSA
Kurz, R. (1999), Schwarzbuch Kapitalismus: Ein Abgesang auf die
Marktwirtschaft, Frankfurt/Main: Eichborn.
Lohoff, E. (1998), Zur Dialektik von Mangel und Überfluss, in: Krisis,
Beiträge zur Kritik der Warengesellschaft 21/22, Bad Honnef: Horlemann.
Meretz, S. (1999a), Die doppelte algorithmische Revolution des
Kapitalismus - oder: Von der Anarchie des Marktes zur selbstgeplanten
Wirtschaft. Internet: http://www.kritische-informatik.de/algorev.htm.
Meretz, S. (1999b), Linux - Software-Guerilla oder mehr? Die Linux-Story
als Beispiel für eine gesellschaftliche Alternative. In:
FIFF-Kommunikation 3/99, S. 12-21. Internet:
http://www.kritische-informatik.de/linuxsw.htm.
O'Reilly & Associates Inc. (1999), Open Source, kurz und gut, Köln:
O'Reilly.
Raymond, E. S. (1997), The Cathedral and the Bazaar,
http://www.tuxedo.org/~esr/writings/cathedral-bazaar/, deutsche
Übersetzung: Die Kathedrale und der Basar,
http://www.linux-magazin.de/ausgabe/1997/08/Basar/basar.html. 
Raymond, E. S. (1998), Homesteading the Nooshpere, 
http://www.tuxedo.org/~esr/writings/homesteading/.
Raymond, E. S. (1999), The Magic Cauldron,
http://www.tuxedo.org/~esr/writings/magic-cauldron/, deutsche
Übersetzung: Der verzauberte Kessel,
http://www.oreilly.de/opensource/magic-cauldron/cauldron.g.01.html
Stallman, R.M. (1984), The GNU Manifesto,
http://www.gnu.org/manifesto.html, deutsche Übersetzung: Das
GNU-Manifest, http://www.gnu.de/mani-ger.html.
Stallman, R.M. (1994), Why Software Should Not Have Owners,
http://www.gnu.org/philosophy/why-free.html.
Stallman, R.M. (1996), Selling Free Software,
http://www.gnu.org/philosophy/selling.html.

5.3. Anmerkungen

[1] So werden auch die "Perversionen" des Kapitalismus erklärlich:
Obwohl in vielen Bereichen genug Güter zur ausreichenden Versorgung der
Menschheit da wäre, gibt es Armut. Nur wo Knappheit herrscht, ist
Tauschwert realisierbar. Der Regulator ist das Geld - wo keines ist,
herrscht Armut.
[2] Solche Standards werden in informellen Dokumenten mit dem Titel
Request for Comments (RFC) aufgeschrieben. Ihre hohe Verbindlichkeit
resultiert aus ihrem offenen Charakter (etwa im Gegensatz zu einem
Patent) und der breiten Konsensbildung.
[3] Interview des Online-Magazins Telepolis mit Richard Stallman:
"Software muß frei sein!",
http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/te/2860/1.html
[4] GNU ist ein rekursives Akronym und heißt GNU Is Not UNIX. Es drückt
aus, dass das freie GNU-System funktional den proprietären
Unix-Betriebssystemen entspricht, jedoch nicht wie diese proprietär,
sondern frei ist.
[5] Um freie Software-Bibliotheken auch in nicht-freier Software
benutzen zu können, wurde die GNU Library GPL geschaffen, die diese
Vermischung erlaubt (z.B. die GNU C-Library). Mit Version 2.1 wurde sie
umbenannt in GNU Lesser GPL, vgl.
http://www.gnu.org/copyleft/lesser.html
[6] Tanenbaum, ein Professor aus Amsterdam, veröffentlichte bereits 1986
sein "Mini-UNIX", genannt Minix, für Lehrverstaltungszwecke. Es konnte
sich nie über den Hörsaal hinaus durchsetzen, da es einer restriktiven
Lizenz unterlag und die Entwicklung nur von Tanenbaum selbst betrieben
wurde. Dokumentiert z.B. in DiBona, C., Ockman, S., Stone, M. (1999) im
Anhang A oder im Internet unter
http://www.lh.umu.se/~bjorn/mhonarc-files/obsolete/
[7] Linus Torvalds in einem Interview mit der Tokyo Linux Users Group:
"Linux unter die GPL zu nehmen, war das beste, was ich je getan habe."
(O'Reilly & Associates Inc. 1999, 35).
[7a] Jegliche Produktherstellung umfasst einen
algorithmisch-konstruktiven und einen operativ-materialisierenden
Aspekt. Bei Software geht an der Anteil des zweiten Aspekts gegen Null.
Mehr zum Thema Algorithmus in Meretz (1999a).
[8] Bill Gates hat QDOS für 50.000 Dollar gekauft unter dem Namen MS-DOS
vermarktet, wodurch der Aufstieg von Microsoft begann.
[9] Nach dem 'Chaos Report' der Standish-Group
(http://www.standishgroup.com/chaos.html) werden nur ein Viertel aller
Projekte erfolgreich abgeschlossen. Der Rest scheitert komplett oder
wird mit Zeit- und Budgetüberziehungen von 200% zu Ende gebracht.
[10] Es ist schon lustig, wenn "Freiheit" als ehemaliger Kampfbegriff
des Kapitalismus gegen den "unfreien" Sozialismus nun zur Bedrohung im
eigenen Hause wird. Anscheinend handelte es hierbei auch um zwei
"verkrachte Geschwister" - mit letalem Ausgang für den einen.
[11] Eine Diskussion der von ESR verwendeten ökonomischen Kategorien
sowie seiner Spekulationen über die Motivation der Hacker
("Geschenkökonomie") kann ich hier nicht vornehmen. Insbesondere die von
ESR dargelegten ökonomischen Kategorien sind haarsträubend. So
vertauscht er Gebrauchswert und (Tausch-)Wert sowie Wert und Preis nach
Belieben. Das tut der Eloquenz seines Plädoyers für die Re-Integration
Freier Software in die kybernetische Wert-Verwertungsmaschine keinen
Abbruch. Zum Thema "Geschenkökonomie" vgl. Fischbach 1999.
[12] Debian Social Contract: http://www.debian.org/social_contract.
[13] Natürlich wären auch Lockangebote auf Basis der GPL denkbar, doch
die Öffentlichkeit würde solche Tricks schnell durchschauen, was dem
Image des "Lockers" schaden würde. Da ist die Netscape-Lizenz NPL
"ehrlicher", die besagt, dass man den öffentlichen Code jederzeit wieder
privatisieren könne.
[14] Vgl. die Besprechungen in der ZEIT 
http://www.archiv.zeit.de/daten/pages/199951.p-kurz_.html oder bei
Telepolis:
http://www.heise.de/bin/tp/issue/dl-artikel.cgi?artikelnr=5659&mode=html.
[15] Wer das schlicht "nicht glaubt", dem empfehle ich direkt den
Erfahrungsbericht der Betriebsräte von IBM-Düsseldorf als Lektüre
(Glißmann 1999).


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