[ox] Amerikanische Kommerzialisierungskritiker hoffen auf Europa
- From: PILCH Hartmut <phm a2e.de>
- Date: Fri, 29 Sep 2000 01:02:28 +0200 (CEST)
Zum Zusammenhang zwischen Kulturverfall, Kommerzialisierung oeffentlicher
Raeume und Patentinflation:
http://www.zeit.de/2000/40/Kultur/200040_st-rifkinkurz.html
K A P I T A L I S M U S K R I T I K
Die neuen Barbaren
Die letzten Räume der Freiheit werden kolonisiert. Wer hält unsere
Welt noch für lebenswert? Ein Essay über die jüngsten Bücher von
Jeremy Rifkin und Robert Castel
...
Die "schöpferische Zerstörung" des kleinen Eigentums ist aber nur die
erste Dimension in Rifkins schwarzem Zukunftsbild. Die frei
flottierenden Billionen haben Heißhunger auf kapitalfreie, marktferne
Räume. Mit Macht dringen sie in das öffentliche Eigentum ein, den
Bürgerreichtum, der in den Ländern der westlichen Welt das
demokratische Minimum sicherte. Vergnügungszentren und Fitnessstudios
verdrängen Vereine und Spielplätze; Shopping-Malls ersetzen
öffentliche Plätze und digitale Netze das öffentliche Fernsehen;
kommerzielle Events vermarkten, was in Museen, Zoos und Parks
unentgeltlicher Gemeinbesitz war; die Pharmaindustrie formt Netzwerke
von Ärzten nach ihrer Definition von Gesundheit und Therapie:
franchised medicine.
Aber das ist nur der Anfang: Entertainment-Multis fressen den
kulturellen Rohstoff, den Reichtum an Klängen, Formen, Bildern, den
ganze Kulturen in ihrer Geschichte erarbeitet haben, und prägen
Geschmack und Bewegungen der Menschen nach ihren Bilanzkurven. Die
Musikindustrie überschwemmt den Globus mit immer kürzeren exotischen
Reizwellen. Die Textil- und Turnschuh-Multis verkaufen in jeder Saison
ein neues Lebensgefühl: Nike-Welt und H & M-Buddhismus. Trendscouts
scannen die Subkulturen, um noch die Verweigerung in die letzten
Lifestyle-Accessoires zu verwandeln.
Und, erschreckendes Detail: Die amerikanische Administration gerät
gerade unter Druck, den elektronischen Luftraum nicht mehr in Lizenz
zu vergeben, sondern als Eigentum. Die Öffentlichkeit, das Gefäß der
Demokratie würde so zur elektronischen Immobilie einiger
Kapitalmagnaten. Im Fluchtpunkt droht eine neue Kastenordnung: eine
Welt, in der vier Fünftel der Menschheit unselbstständig und elend
sind, mit einer komfortabel bestochenen oberen Schicht, die für die
Aufrechterhaltung der Megamaschine unabdingbar ist, und ganz oben
einer winzigen Zahl von Korporationen, Rentenfonds und einer Hand voll
Superreicher, denen die "wirkliche Welt" gehört - die Gates und
Turners und Berlusconis -, die noch Macht haben und "altes" Eigentum:
quadratkilometerweise Natur, den Menschheitsbesitz an Bildern und die
digitalen Rechte auf das Produktionswissen unserer ganzen Geschichte,
inklusive Gene. Die anderen müssen, so Rifkins knappes Resümee nach
seiner Reise durch die kapitalistische Zukunft, "Eintritt für ihr
Leben" bezahlen und das Weltkulturerbe von den Entertainment-Netzen
zurückmieten, nicely packaged, natürlich.
Rifkins Buch sammelt Tendenzen und spitzt sie zu, aber sie sind
unbestreitbar. Sie sind bekannt seit Marx, seit der Frankfurter
Theorie von der Kultur- und Bewusstseinsindustrie, seit Edmond Burkes
konservativer Kulturkritik, die gegen die Verwandlung aller
menschlichen Beziehungen in Waren protestierte. Es geht nur alles noch
schneller, weiter. Noch tiefer. Rifkin zieht die Linien aus bis zum
postmodernen Handy-Charakter: dem mobilen, flexiblen Individuum, das
eigentums- und ortlos ist und damit, wie der Blick ins Wörterbuch
zeigt, auch zunehmend frei von Eigenschaften, Eigenarten,
Besonderheiten und Fähigkeiten.
...
Gegen den alternativlosen Kapitalismus, gegen die Politiker des
"Dritten Weges", die den Kapitalismus mit Mitgefühl predigen, setzt
Rifkin: die Kultur. Menschen wollen an Orten leben, haben eine
Geschichte, bewegen sich in ihrer Lebenswelt. Sie müssen, in lokaler
Politik, NGOs und regionalem Patriotismus diese ganze Welt gegen die
Bedrohung durch den totalen Kommerz verteidigen, aus kulturellem
Eigensinn und weil ihre tradierte Lebenswelt, ebenso wie Natur, der
Rohstoff ist, von dem die kapitalistische Wirtschaft wie jede
Wirtschaft lebt. Werden beide bis zur Neige ausgebeutet, zerbricht
mehr als der Kapitalismus aus kultureller Entropie, aus Erschöpfung
des Globus. Aber gegen die alles durchdringende Kraft der gierigen
Geldmaschinen können Rifkins viele "Es muss", "Es sollte", "Es müsste"
nur wenig Zuversicht verbreiten. Was spräche dagegen, dass, bei
allfälligem Austausch der Energiequellen, die kulturellen Bestände bis
in kurzfristige Ewigkeiten recycelt werden in immer neuen Gestalten,
dass die kulturellen und biologischen Reflexe, die wir mit uns
rumschleppen, mit Kino, Digitalspielzeug und gelegentlichen Ausflügen
in die Marlboro-Welten, domestizierbar sind?
So richtet denn der amerikanische Analytiker am Ende all seine
Hoffnungen auf Europa. Hier gebe es noch eine gewisse Balance zwischen
Kultur und Kommerz, Politik und Kapital und eine nicht ganz zerstörte
Zivilisation des Gemeinbesitzes. So hofft er - und teilt die Hoffnung
mit politischen Denkern in allen Erdteilen - und sieht doch voraus,
dass schon bald 200 000 italienische Familiencafés zu
Franchise-Nehmern von Starbuck's Coffee degradiert werden. Ach,
Europa: Jeder Versuch, den Alten Kontinent und seine blutig erkämpften
Balancen zu preisen, gerät zum Requiem, seit die Propagandisten der
Neuen Märkte im Johannistrieb der Modernisierung Gene, Chips und
Dollars zu dynamisch berauschenden Zukunftscocktails verquirlen.
Bei diesen Propagandisten handelt es sich wohl um Moglens
http://old.law.columbia.edu/my_pubs/anarchism-deutsch.html
"Wirtschaftszwerge". Zwerge des Geistes, Riesen der Macht.
Nicht wenige von ihnen ahnen aber wohl, dass mit dem Zukunftscocktail etwas
nicht stimmt. Der Zeit-Artikel endet mit den Worten:
Ein disparates Gemengsel aus stoischen Konservativen, zahnlosen
bürgerlichen Kulturkritikern, trotzigen Altmarxisten, Protestaktionen
von Schafzüchtern gegen McDonald's-Filialen - alle miteinander fern
der Macht und des Willens zur Macht. Ansonsten diffuses Unbehagen:
nicht nur unten, wo die Rohheit wächst, und in der Mitte, wo der
Anpassungsdruck atemlos macht, sondern auch oben. Rifkin hat 150
Topmanager gefragt, ob sie die Welt, die sie ihren Enkeln bereiten,
für lebenswert halten. Die Antwort war 150-mal: Nein.
Auch Oekonux scheint fern von Macht und Willen zur Macht. Sicherlich passt
schon das Konzept "Macht" selber nicht zum Bild von der "GPL-Gesellschaft"
oder "selbstentfaltenden Gesellschaft".
Mir will es jedoch nicht so recht einleuchten, wie ein Ozean aus 6 Millionen
Wassertropfen ohne Wellenberge- und Taeler und ohne Ebbe und Flut auskommen
soll. Menschen sind ziemlich schwach und fuehlen sich in Machtgebilden
relativ sicher. Ich sehe auch keinen Faktor, der die Organisation in
Machtgebilde irgendwie aendern koennte. Die Frage ist nicht ob sondern wie.
Ausser ein paar naheliegenden und dennoch sehr schwierigen Schritten wie der
Verhinderung von Softwarepatenten sehe ich nicht viele Moeglichkeiten.
Die naechstliegende zweite Moeglichkeit waere die Schaffung von Pflichtabgaben
zur Foerderung der Informationsallmende mit gleichzeitigem Recht auf Wahl
zwischen Organisationen, die diese fuer konkurrierende Foerderungskonzepte
verwenden. Wiederum wird hier vom Prinzip der Konkurrenz Gebrauch gemacht,
und innerhalb der freien Entwickler wuerden ein paar mehr verwertungsbedingte
Hierarchien entstehen. Allerdings relativ klein und flach.
Dafuer gaebe es dann aber auch mehr freie Entwickler und ein solches System
koennte immerhin funktionieren und fuer die Entstehung von mehr
informationellen Gemeinguetern sorgen und somit auch den Bedarf nach
proprietaerem Eigentumsschutz, langen Vermarktungsketten und monopolistischen
Organisationsformen verringern.
Utopien, die auf Veraenderung der Menschheit und Abschaffung von Prinzipien
wie Machtanballung, Herrschaft, Kleingruppen, Konkurrenz etc zielen, finde ich
zwar spannend. Aber unter den gegebenen Bedingungen begibt man sich damit
moeglicherweise lediglich auf Abwege, die von der Bewaeltigung der
kapitalistischen Fehlentwicklungen noch weiter weg fuehren.
-phm
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