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Re: [ox] Wesen et al.



Hi Sabine und Listige,

mit Deinem Rekurs auf Kuhns Paradigmabegriff hast Du die richtige
Metadiskussion aufgegriffen. Ich stimme Dir voll zu, eine
Mini-Ergänzung zu Kuhn:

sabine.nuss freenet.de schrieb:
Ein Paradigma ist danach eine Art Weltbild, gespickt mit einer
Reihe von Prämissen und Voraussetzungen, die aber nicht mehr
hinterfragt sind, sondern stillschweigend den "Filter" bilden, mit der
die Welt begriffen und analysiert wird. Dabei spielt auch die
Sprache ihre Rolle. Es werden in den verschiedenen Paradigmen
nämlich durchaus die gleichen Vokabeln benutzt, aber mit sehr
unterschiedlichen Konnotationen und Inhalten. Wenn zwei
unterschiedliche Paradigmen aufeinander treffen, wird jeder von
sich aus in gutem Glauben denken, er habe recht, ein
Zusammenkommen gibt es aber nicht. Es gibt nur die Möglichkeit,
irgendwann zu wechseln, von der einen auf die andere Seite
("Paradigmenwechsel"). Dies geschieht aber nicht durch Einsicht,
sondern durch "Überredung".

Er ging praktisch gar vom "Aussterben" der Altvorderen aus, was die
Voraussetzung für das Durchsetzen eines neuen Paradigmas ist.

Nun zu deinen Bemerkungen zu meinen Aussagen.

Jetzt will ich noch eine Stufe "tiefer", was das Menschenbild
angeht, dies nun auch für Stefan Meretz. Du sagst,

"Wenn Du so willst, liegt dem auch eine "Sein-Annahme" über den
Menschen zugrunde, nämlich: Jeder Mensch möchte einfach ein
gutes Leben"

Das hatte ich eben vermutet. Nicht, dass Du von einer "Natur des
Menschen" ausgehst, die du via Ansicht der real existierenden
Welt entnimmst, das nicht, aber das auch du vom konkreten
Menschen abstrahierst. Du sagst, dass es den "allgemeinen
Menschen" oder "Menschen-an-sich" als Realphänomen nicht gibt,
"Aber es gibt den "allgemeinen Menschen" als Begriff, als
Kategorie, als analytisches Denkmittel".

Im ersten Punkt sind wir uns einig, im zweiten nicht. Methodisch
erst mal: Was hilft mir ein Analyseinstrument, dass in der Empirie
keine Entsprechung findet? Das verstehe ich nicht ganz.

Es hilft Dir, die Welt und konkreten Menschen und Dich zu _sehen_.
Nicht im Sinne eines Röntgenblicks, sondern im Sinne der Fähigkeit,
die richtigen Fragen zu stellen: an die Welt, an andere Menschen, an
dich.

Der Witz ist: Jede/r hat _sowieso_ solch einen Blick, hat eine
solche "Brille" auf der Nase. Mein Plädoyer ist nun "nur", das zu
explizieren. Das ist ganz im Sinne der Offenlegung der
paradigmatischen Grundlagen. Und nach meiner Vorstellung, ist es
notwendig, ein wissenschaftliches Verfahren zu haben, um zu diesen
analytischen Grundbegriffen zu kommen. Das habe ich von der
Kritischen Psychologie gelernt.

Zweitens und noch viel wichtiger: Im Grunde ist die Annahme eines
allgemeinen Menschen als Analysekategorie doch genau das
gleiche wie die in der herrschenden Wissenschaft rauf und runter
verinnerlichten Annahmen über "das Individuum" als solches.

Nein, genau nicht. Die herrschende Wissenschaft expliziert das
nicht. In der traditionellen Psychologie z.B. sind die Begriffe
immer schon "da", in der Regel werden sie "definiert" ("Ich verstehe
unter xy: ...."). Sie liegen sozusagen ausserhalb der Wissenschaft
selbst. Faktisch werden sie durch "Anschauung" gewonnen. Damit haben
sie den Charakter von wissenschaftsförmig (sprachlich aufgemotzt)
verdoppelten Alltagsbegriffen. Das gilt für den Mainstream, nicht
für alle.

Es wäre IMO ganz falsch, den "verinnerlichten Annahmen über 'das
Individuum' als solches" durch einfache Negation zu begegnen, wie du
vorschlägst. Das schüttet das Kind mit dem Bade aus. Das ist nicht
nur defensiv, sondern IMO auch unwissenschaftlich. Aber es ist in
gewisserweise Trend, postmodern.

Die sagen halt, das Indidviduum ("der Mensch") ist
nutzenmaximierend. Auf dieser Basis wird dann alles erklärt und
der Kapitalismus beklatscht, als die beste aller Welten, weil nur
dort das Individuum seinen Nutzen total maximieren kann. Dass
Individuum ist nutzenmaximierend ist das durchgesetzte
Menschenbild - sowohl in der Wissenschaft, als auch im
Alltagsdenken der Leute - und der Denkfehler hat seine Wurzel in
der Kategorisierung.

Das ist es, was ich mit "wissenschaftsförmiger
Oberflächenverdopplung" meine. Wissenschaft muss demgegenüber
_kritisch_, muss _kritische Wissenschaft_ sein. IMO. Der Denkfehler
ist nicht die Kategorisierung als solche, sondern die _Art_ und
inhaltliche Qualität der Kategorien.

Erst die Tatsache, dass ich vom konkreten
Menschen auf einen allgemeinen abstrahiere, bahnt mir den Weg
über Aussagen, die ich diesem Individuum dann zuschreibe.

Richtig. Die Knackfrage ist aber: Wie mache ich das? Das ist die
Frage nach dem wissenschaftlichen Verfahren. Die konservierenden
"Wissenschaften" vollziehen genau den Fehler, den du herausgehoben
hast: Sie schliessen vom vorfindlichen konkreten Menschen unter
bürgerlichen Verhältnissen auf den allgemeinen und naturalisieren
das dann. Diese Art der "Oberflächenverdopplung", diese blosse
"Affirmation" ist der Fehler - nicht das Anliegen überhaupt.

Egal,
ob ich ihm zuschreibe, dass das Individuum nutzenmaximierend
ist, oder ob ich ihm zuschreibe, dass er gutes will. Es liegt die
gleiche Vorgehensweise - mit unterschiedlichen Konsequenzen -
zugrunde.

Nein - g e r a d e  n i c h t  die gleiche Vorgehensweise. Genau auf
die Vorgehensweise ist zu gucken. Und natürlich auf die Resultate.

Es besteht die Gefahr, dass man dann auf diese
banalen oder sagen wir es freundlicher "nichts mehr erklärenden"
Aussagen kommt: Der Mensch ist nutzenmaximierend oder der
Mensch will ein gutes Leben, erklärt deshalb nix mehr, weil sowohl
"Nutzen maximieren" als auch ein "gutes Leben" in
unterschiedlichster Weise unterschiedlich mit Inhalten gefüllt
werden kann, je nach gesellschaftlichem oder historischem
Kontext. Es bleiben leere Sätze, weil sie auf solchen hohen
Abstraktionsebenen getroffen werden. (Ich bin nicht grundsätzlich
gegen Abstraktion, nur nebenbei)

Jetzt bist Du abgebogen. Du kritisierst die _Aussagekraft_ von
Seinsannahmen. Die "Nutzen-maximieren"-Sicht ist aber so nicht
kritisierbar, sondern ausschliesslich über ihren (IMO pervertierten)
Inhalt: Die Naturalisierung konkurrenzförmiger Beziehungen von
Menschen unter fetischistischen Verhältnissen (im Kapitalismus in
diesem Fall). Sonst geht das voll nach hinten los: Denn ganz
augenscheinlich sind die Menschen doch nun mal so, oder? Sieht man
doch... (so argumentiert Hartmut).

Mein Satz "Jeder Mensch möchte einfach ein gutes Leben" ist
demgegenüber so allgemein, dass er vorfindliche soziale Beziehungen
nicht naturalisiert. Ich könnte sogar "ein gutes" weglassen. Das
reicht mir als Ausgangspunkt. Es ist keine "positive Seinsannahme"
(Ich sage nicht: Der Mensch ist gut...) - und insofern ist es ein
wenig ungerecht, diese Annahme der  "Nutzen-maximieren"-Sicht
gegenüberzustellen.

Also: Die Annahme, dass der Mensch ein Individuum ist, die
Abstraktion also vom konkreten Menschen, die ist noch nicht so
alt, geschichtlich betrachet. Eigentlich ist dieses Denken ein
Produkt der Entstehung der bürgerlichen Welt. Der Mensch ist
gleich, frei und so weiter. Erst mit dem Auslösen der Leute aus
ihren gesellschaftlichen-sozial-ökonomischen Beziehungen
(Leibeigenschaft, Stände, usw.) hinein ins bürgerliche Leben der
gleich doppelt freien Arbeiter, die dann nichts weiter mehr als ihre
Arbeitskraft zu verkaufen hatten, begann der ganze Kladderadatsch
mit dem Individuum. Die Kategorie des Individuums, die ich mit der
Kategorie des Menschen als solches gleichsetzen möchte, gab es
vorzumals nicht in dieser Form. Da gab es Kategorien wie "die
Sklaven" oder der "obere Stand", die Leute wurden also in ihren
gesellschaftlichen Rollen/Ständen/Schichten begriffen und nicht als
Individuum. (Bitte das alles nun analytisch und nicht wertend
begreifen).

Das ist ja richtig beschrieben - aber doch kein Grund, heute
Wissenschaft nicht zu betreiben, nur weil diese vor 1000 Jahren oder
wieviel Jahrne nicht betrieben wurde? Wir _sind_ rückblickend
schlauer, und das ist gut so. Nur leider noch viel zu stark noch in
den nahegelegten Denkformen (Marx nannte das "objektive
Gedankenformen" - sehr gut getroffen!) befangen.

Ich würde dafür plädieren wollen, sich von einer wie
auch immer gearteten Abstraktion vom Menschen als solches zu
befreien, auch wenn es schwer fällt. Aber es gibt kein Individuum.
Auch und übrigens gerade nicht (!!!) als Denkkategorie.

Da wir sowieso solche Abstraktionen alltäglich im Kopf haben, auch
Du, Sabine, bin ich dafür, sie zu explizieren, sie transparent zu
machen, kritisierbar zu machen. Das setzt jede/n natürlich der
Prügelgefahr aus - aber alles andere wäre defensiv und
unwissenschaftlich.

Das führt
zwangsläufig zu Seins-Annahmen.

Was ist daran problematisch? Problematisch sind unhinterfragbare
Seinsannahmen, weil man vorgeblich darauf verzichtet. Das
funktioniert aber praktisch schon nicht.

Davon ist nicht viel zu halten,
find ich, egal ob sie gut oder schlecht aufgeladen sind.

Ich halte auch nicht viel von solchen aufgeladenen Seinsannahmen.
Genau das ist die Aussage "Der Mensch will (ein gutes) Leben" nicht.
Entscheidend ist jetzt nämlich, zu gucken, in welchen
gesellschaftlichen Formen Menschen dies historisch organisieren.

Ob das
nicht auch eine Ideologie sei, wurde an anderer Stelle gefragt. Das
weiß ich nicht. Wenn es eine ist, würde ich halt gerne darauf
hingewiesen werden, an welcher Stelle sie sich als solches
identifizieren läßt. Ich habe nicht den Eindruck, dass ich ein
Dogma wiederhole, eher begründe und argumentiere ich und
versuche, transparent zu machen, woher mein Denken kommt, um
Gegenargumenten ein besseres Handlungsfeld zu geben. Ich
denke, das ist das Gegenteil von Ideologie.

Ok, hier mein Hinweis: IMO spiegelt es teilweise (postmoderne)
bürgerliche Ideologie wider. Auch bürgerliche Ideologie ist ja
begründet - der ideologische Charakter kommt von ihrer
Funktionalität für die Aufrechterhaltung des Kapitalismus als einzig
denkbarer Welt. In dem Du zwar "Seinsannahmen" schlechthin ablehnst,
überlässt du das Feld den Rechtfertigern.

Stefan Meretz, noch kurz dein zitat möchte ich aufgreifen in
diesem Zusammenhang:

"Die Natur des Menschen ist seine Gesellschaftlichkeit."

Vor dem Hintergrund des bislang Gesagten ist das ein
Widerspruch.

Vor dem Hintergund meines Gesagten hebt sich dieser Widerspruch auf.

"Die Natur des Menschen" impliziert, dass es jeder
einzelne Mensch in sich trägt, also das von den konkreten
Menschen abstrahiert wird und ein einzelner ideeller
Gesamtmensch dann da steht, der da eine Natur hat, nämlich die
Gesellschaftlichkeit.

Genau so ist das. Jeder einzelne Mensch ist biologischerdings fähig,
sein Leben vermittels der Teilhabe an der Gesellschaft zu
reproduzieren. Die Gesellschaftlichkeit als Teil seiner Natur kommt
_nur_ dem Menschen zu (was begriffliche Abgrenzungen zu
"Geselligkeit", "Sozialität", "Sozialverband" etc. ebenso
einschliesst wie einen Begriff von "Gesellschaft").

Die Gesellschaftlichkeit aber, wenn man sie
ernst nimmt, schließt die Existenz dieses einzelnen Menschen,
auch als Analysekategorie, aus. Ich würde es wenn überhaupt so
formulieren wollen:

Die Natur *der Menschen* ist ihre Gesellschaftlichkeit.

Das aber ist eine Tautologie.

Du führst hier selbst vor, in welches Fahrwasser du gerätst, wenn du
gar nicht mehr von "dem Menschen" sprechen kannst. Welchen Rückzug
Du antreten musst. Nein, es geht nicht um "die Menschen", sondern um
den individuellen Menschen, um das Subjekt, um "je mich". Die
Radikalität dieses Blicks muss IMO unreduziert bleiben - sonst
berauben wir uns der Mittel, Freie Software zu verstehen, eine freie
Gesellschaft zu denken, radikal kritisch zu bleiben.

Ich hoffe, ich konnte mich Dir ein wenig mehr verständlich machen.

Beste Grüße,
Stefan

-- 
  Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen
  HA II, Abteilung Datenverarbeitung
  Kanzlerstr. 8, 40472 Duesseldorf
--
  stefan.meretz hbv.org
  maintaining: http://www.hbv.org
  private stuff: http://www.meretz.de
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