[ox] Kurz - Letzte Gefechte 3. Teil
- From: UlrichLeicht t-online.de (Ulrich Leicht)
- Date: Wed, 18 Oct 2000 18:18:53 +0200
http://www.giga.or.at/others/krisis/r-kurz_die-letzten-gefechte_krisis18_
1996.html
***************************** Kurz letzter Teil *****************************
Kann es eine Praxis radikaler Sozial- und Gesellschaftskritik jenseits des
alten Klassenkampfs geben?
Die Gefährlichkeit der Entwicklung wird vielleicht von Teilen der
Gewerkschaften ebenso gesehen wie von den Resten der demoralisierten Linken.
Aber diese Gefahr wird weiterhin nur in den Kategorien der alten, obsolet
gewordenen Systemkritik abgebildet, deren "starke" Version der
Staatssozialismus nachholender Modernisierung und deren "schwache" Version
der westliche Linkskeynesianismus mit einigen marxistischen Schwanzfedern war.
Es gibt eine erschreckende Unfähigkeit der alten Systemkritik, sich selber zu
transzendieren und den eigenen Anteil an der untergehenden bürgerlichen Welt
der Moderne aufzuarbeiten. Die Erkenntnis, dass der "Bourgeois" in der
gesellschaftlichen, totalisierten Warenform selber steckt und nicht auf eine
soziale Klasse beschränkt werden kann, wird nach wie vor grundsätzlich
verweigert. Sowohl in den Gewerkschaften als auch im Spektrum der politischen
Restlinken wird die immer matter ausfallende Kritik am Neoliberalismus und an
der zunehmend darauf einschwenkenden Anpassungspolitik von Gewerkschaften,
Sozialdemokratie und Grünen mit hoffnungsloser Begriffsstutzigkeit von der
alten "klassenkämpferischen" Position aus formuliert, deren historische
Implikationen grundsätzlich ausgeblendet bleiben.
Die bei den Grünen bekannte Ausdifferenzierung in "Realos" (kapitalistische
Modernisierer) und "Fundis" (altklassenkämpferische Steinzeitmarxisten)
wiederholt sich in verschiedenen Konstellationen auch bei den Gewerkschaften
und in den sozialdemokratischen und (ex)kommunistischen Parteien; nicht nur in
Deutschland, sondern auch in Frankreich, Italien und anderswo. In der IG Metall
gibt es immer noch einen sogenannten traditionalistischen Flügel mit
Reminiszenzen an die alte Arbeiterbewegung (und gegen allzu starke
"Klassenversöhnung" gerichtet), der aber schon seit den Zeiten des wegen
Korruption zum Rücktritt gezwungenen Vorsitzenden Steinkühler aufgerieben und
zur Bedeutungslosigkeit verdammt worden ist. Ähnlich verhält es sich mit der
sogenannten Stamokap-Fraktion in der SPD (vor allem bei den Jungsozialisten).
In der PDS ist es die kleine "kommunistische Plattform", die den
kapitalistischen Anpassungskurs der Parteispitze mit verschimmelten DDR-Phrasen
zu konterkarieren sucht (dazwischen gibt es noch, wenn dieser Begriff aus der
Geschichte der Arbeiterparteien erlaubt ist, eine Art "zentristische" Gruppe,
die sich "Marxistisches Forum" nennt). In Frankreich, Italien, Portugal,
Spanien etc. sind die altklassenkämpferischen, altmarxistischen Spaltprodukte
- der westeuropäischen Entwicklung in der Nachkriegsgeschichte entsprechend -
zwar größer als in Deutschland, aber ebenso in der Rolle eines
traditionalistischen Nachtrabs. Auch die brasilianische Linkspartei PT hat in
den letzten Jahren eine einschlägige Fraktionierung durchgemacht, und
auch hier ist der Altmarxismus auf der Verliererstraße.
So durfte es nicht verwundern, dass der Pariser Dezember von der absaufenden
altklassenkämpferischen Linken nicht kritisch analysiert, sondern die
Nachricht bloß als Strohhalm ergriffen wurde. Man hoffte auf Fortsetzung des
Altvertrauten und Immergleichen durch die französischen Ereignisse. Dieser
Johannistrieb des Klassenkampfs musste als Vorschein vermeintlicher neuer
Potenz herhalten oder wenigstens als alterstrotzige Erinnerung an vergangene
Tatenkraft imaginiert werden, damit man sich weiterhin um die Ratifizierung
des Epochenbruchs und den unausweichlichen Paradigmenwechsel radikaler
Gesellschaftskritik herumdrücken kann. Den Altmandarinen des
klassenkämpferischen Linksradikalismus fiel daher zum Pariser Dezember nichts
als blanke Selbstbestätigung ein: "In diesen Dezembertagen in Paris wird
offenbar, dass es den Ideologen des Kapitals, die den Klassenkampf feierlich
für erledigt erklärt haben, ergeht wie der katholischen Kirche mit ihrem
Versuch, den Geschlechtstrieb abzuschaffen. Trotz religiöser Soziallehre,
trotz einer einst im Mai in Paris aufgebrochenen Bürgerjugend, die so gerne
egalitär-gerecht und trotzdem oben wäre, trotz allen Revisionisten: Der
Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, zwischen gesellschaftlicher
Produktion und privater Aneignung bricht immer wieder auf" (Hermann L.
Gremliza, Konkret 1/96).
Ist ja gut, ist ja rührend. Dennoch wird hier etwas verwechselt, was zu
verwechseln in den Zeiten der Arbeiterbewegung unvermeidlich und sogar
vorwärtstreibend war, jetzt aber sträflich geworden ist. Ich meine damit das
Verhältnis des unbezweifelbar "immer wieder aufbrechenden" Klassenkampfs
(dessen freilich ebenso unbezweifelbar stetig zunehmendes Schwächeln bei
gleichzeitig zunehmenden sozialen Krisen erklärungsbedürftig ist) zur Frage der
Systemalternative. Für den alten Marxismus, seine Mandarine und Mitläufer, war
und ist der "Klassenkampf" der Zentralbegriff von Gesellschaftskritik und
Systemtranszendenz. Deshalb sehen die Unverdrossenen in jeder Kritik des
Klassenkampfs die Option der katholischen Soziallehre durchschimmern, die
kleinbürgerliche Klassenversöhnung, die Abkehr von der radikalen
Gesellschaftskritik usw. Daß und warum dieser ganze Begriffsapparat heute so
verdammt altertümlich klingt, auf dieses Problem will man sich nicht einlassen,
obwohl es ganz offensichtlich keineswegs bloß zeitgeistkonjunktureller Natur
ist.
Es ist für den verstockten alten Linksradikalismus einfach nicht
nachvollziehbar, dass der Klassenkampf seinem Begriff nach in der bürgerlichen
Formhülle verbleiben muss, und dass es gerade deswegen eine emanzipatorische
Kritik des Klassenkampf-Paradigmas geben kann, die keineswegs bürgerlich und
"versöhnlerisch" ist. Dabei handelt es sich um ein Problem, das sich auf der
heutigen Höhe der kapitalistischen Entwicklung im Unterschied zu früher nicht
mehr ignorieren lässt und ebenso "immer wieder aufbricht" wie der Klassenkampf
selbst, diesen aber gleichzeitig immer blasser macht. Kapitalismus ist
bekanntlich vermittels der kybernetischen Rückkoppelung des "Werts" bzw.
seiner Erscheinungsform, des Geldes, als "Verwertung des Werts" eine
Gesellschaft der totalisierten Warenform. Der alte Marxismus und
Linksradikalismus hat sich ganz auf den Gegensatz der Funktionssubjekte
innerhalb dieser Fetischform konzentriert. Der "Widerspruch zwischen
gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung" wurde also, wie oben bei
Gremliza, auf der Folie des Gegensatzes von "Kapital und Arbeit" im Sinne
sozialer Klassen abgebildet. Die "gesellschaftliche Produktion" erschien analog
zur "Arbeiterklasse" und die "private Aneignung" analog zur
Kapitalistenklasse".
Damit aber wird das gesellschaftliche Fetischverhältnis soziologistisch
verkürzt (miss)verstanden. Denn auch die "Ware Arbeitskraft" ist eine Ware,
in deren Begriff die "Privatheit" enthalten ist. Das bedeutet nichts anderes,
als dass auch die "Arbeiterklasse" in der Form des Geldlohns "privat aneignet".
Der bornierte alte Marxismus empört sich bei einer solchen Aussage sofort
reflexartig, dass doch die einen nur die Reproduktionskosten ihres Lebens, die
anderen dagegen die "Fülle des Reichtums" aneignen. Schon rein immanent ist
diese Betrachtungsweise schief. Denn erstens eignet "das Kapital" (in der
verkürzten Begrifflichkeit: die eine Seite der Funktionssubjekte) nicht
subjektiv oder persönlich die Masse des abstrakten Reichtums an, sondern
exekutiert und organisiert hauptsächlich dessen stetige Rückverwandlung in den
absurden Selbstzweck der "Verwertung des Werts". Und zweitens trägt auch die
stoffliche Seite des privaten Reichtums der "Besserverdienenden" ebenso wie
der "Superreichen" das Signum des subjektlosen kapitalistischen Selbstzwecks,
d.h. dieser Reichtum der Reichen nimmt (zunehmend mit fortschreitender
Entwicklung des Kapitals) die Züge des Schwachsinns und der Selbstdestruktion
an, so dass er schon längst nicht mehr als das verallgemeinerungswürdige Ziel
in seinem Sosein emanzipatorisch akzeptiert werden könnte.
Vor allem aber beweist der alte Marxismus mit seiner Betrachtungsweise der
"privaten Aneignung" unfreiwillig, dass er nur den quantitativen Unterschied
innerhalb der Warenform kennt, hinsichtlich des eigentlichen Charakters der
Privatheit aber völlig im Dunkeln tappt und schlicht formblind ist. Wenn es
nicht mehr allein um den quantitativen Unterschied der Aneignungsmasse geht,
sondern um die Formqualität der Aneignung, dann wird sofort klar, dass der
kapitalistische Grundwiderspruch von gesellschaftlicher Produktion und privater
Aneignung nicht identisch ist mit dem Klassengegensatz der Funktionssubjekte
innerhalb der Warenform. Vielmehr ist es der Widerspruch von gesellschaftlichem
Inhalt der stofflichen Produktion und privater Form der gesellschaftlichen
Subjekte bzw. ihrer Aneignungsweise insgesamt (unter Einschluß der
"Arbeiterklasse"), der das Kapitalverhältnis kennzeichnet. Somit kann der
Klassenkampf nur die immanente Formbewegung des Kapitalverhältnisses sein,
nicht aber die Bewegung zur Aufhebung des Kapitalverhältnisses.
Marx konnte diese beiden Ebenen sozialer Emanzipationsbewegung noch
kurzschlüssig in eins setzen (obwohl dies von Anfang an begrifflich
verschwommen blieb), weil die relative Emanzipation innerhalb von Warenform
und Lohnarbeit noch einen geschichtlichen Horizont vor sich hatte. Jetzt ist
das Kapitalverhältnis völlig ausentwickelt bis an seine äußerste Grenze und
wir haben es deswegen mit der Krise des gemeinsamen Bezugssystems von "Kapital
und Arbeit" zu tun. Erst wenn man das begriffen hat, wird verständlich, warum
die neue sozialökonomische Krise zusammenfällt mit der Paralyse des alten
Klassenkampfs. Es geht also nicht um die "kleinbürgerliche Klassenversöhnung"
innerhalb und auf dem Boden der (gemeinsamen) totalen Warenform, sondern um die
Kritik und Aufhebung dieser gemeinsamen historisch-gesellschaftlichen
Fetischform selber. Denn jetzt wird unausweichlich deutlich, dass alle
Erscheinungen der sozialen Degradation, der Armut und Unterdrückung primär
dieser Form der totalen Ware-Geld-Beziehung als solcher und nicht der bloßen
Subjektivität ihrer selber bornierten Funktionsträger entstammen.
Wenn wir im Lichte dieser Einsicht die Entwicklung der sozialen Bewegungen
(einschließlich der Gewerkschaften) seit dem Pariser Mai 68 noch einmal Revue
passieren lassen, dann erweisen sich die zunehmende Schwäche der letzten und
hinterletzten Gefechte des Klassenkampfs und der Verfall des (alten) kritischen
Bewusstseins als Indizien für die Annäherung an die historische Systemgrenze.
Das ignorierte, missverstandene oder kulturalistisch verkürzte Programm der
Situationisten gegen den Warenfetischismus, das selber noch in den Terms des
Klassenkampfs formuliert wurde, aber inhaltlich bereits darüber hinausging,
kann als eine historische Scharnierstelle verstanden werden. Es ist heute
nicht mehr möglich, unmittelbar daran anzuknüpfen; aber es gilt, unter
Einbeziehung einer Kritik und historischen Bewertung dieser damals radikalsten
Theorie zu einer neuen, transformatorischen Formkritik der warenproduzierenden
Moderne zu gelangen. Solange der Klassenkampfbegriff nur in irgendwelchen
weich gewordenen Versionen weitergeschleppt wird, köchelt die etatistische
Orientierung als Grundmissverständnis des gesamten alten "Sozialismus" in den
lernunfähigen Verliererfraktionen der Gewerkschaften, der Sozialdemokratie,
der Kommunisten und der Grünen weiter; und auch in den Köpfen der Gremliza,
Trampert/Ebermann usw. dürfte man selbst bei Tiefenbohrungen nichts anderes
finden. Bei den historischen Vorbildern, also den ehemaligen oder noch
amtierenden Regimes nachholender bürgerlicher Modernisierung, wird diese
Perspektive immer finsterer. Nach Jurij Masljukow, seines Zeichens Vorsitzender
der russischen Duma für Wirtschaftsfragen und KP-Funktionär, kann "der Staat
Wirtschaftsbetriebe durchaus effektiv führen": "Rußlands Kommunistische Partei
fordert Änderungen in der Privatisierungspolitik, den stärkeren Schutz des
Binnenmarktes und staatliche Kontrolle über die Ressourcen des Landes"
(Handelsblatt, 15.3.96).
Die merkantilistischen Uraltrezepte der marktwirtschaftlichen Vorzeit werden
immer wieder aufgewärmt, jetzt aber im Kontext einer offen kapitalistischen
Orientierung und deren von jeder marktkritischen Phraseologie gereinigten
nationalistischen Flankierung. In der VR China ist der Staatssozialismus
nachholender Modernisierung bereits zu einem barbarischen Regime mutiert, das
eine allgemeine blutige Zuchthausverwaltung mit einer radikal neoliberalen
Entfesselung des Marktes verbindet und sich bösartigerweise immer noch
"sozialistisch" nennt. Kuba, das Land der karibischen Lieblingsrevolution des
alten Linksradikalismus, will nach den Worten seines Wirtschaftsministers José
Rodríguez ebenfalls in diese Fußstapfen treten: "Es geht uns um Effizienz und
um noch mehr Effizienz... Wir haben uns natürlich das Ende der sozialistischen
Systeme in Osteuropa, aber auch die Krisen in Lateinamerika angesehen. Wir
meinen, dass wir einen Mittelweg einschlagen müssen: mehr oder weniger wie
China" (Wirtschaftswoche 11/96).
Einige Reste der westlichen Altlinksradikalen setzen ihren kubanischen
Revolutionstourismus und ihre unreflektierte Kuba-Solidarität immer noch fort,
als wäre nichts gewesen; sie können sich damit nur noch blamieren. Es ist
sicher immer noch richtig, gegen die Embargo-Politik der USA einzutreten,
aber das hat nichts mehr mit der Verteidigung einer historischen Alternative
zu tun. Die Verweigerungshaltung der Altlinksradikalen gegenüber dem Ansinnen,
den Charakter all dieser Regimes ebenso wie die eigene Orientierung daran
theoretisch aufzuarbeiten und historisch neu zu bewerten, diskreditiert alles,
was sie noch an verschwommener Kapitalismuskritik absondern. Nicht besser
steht es mit den linksreformerischen Strömungen mehr oder weniger akademischer
Provenienz (die in der BRD etwa durch Zeitschriften wie Prokla, Argument,
links etc. repräsentiert werden). Diese versuchen sich zwar stärker von der
alten "Klassenmetaphysik" und vom alten Linksetatismus zu entfernen, aber nur,
um dieselbe Befangenheit in der modernen bürgerlichen Form und ihren
Funktionskategorien mit einer lediglich etwas anderen Akzentsetzung zu
reproduzieren.
An die Stelle einer formkritischen Transformation des Klassenbegriffs soll
eine "Klassentheorie auf der Höhe der Zeit" (links Nr. 310/11, März/April 96)
treten, die von jeder ökonomiekritischen Fundierung abgelöst und rein
demokratisch-politizistisch legitimiert ist, um sich auf die
"politisch-kulturelle Produktion von Sozialstruktur" (Heinz Steinert) weitab
vom Schuss der radikalen Markt- und Wertformkritik zu kaprizieren. Je mehr
diese Art der Restlinken scheinbar die Kritik der politischen Ökonomie
einklagt, desto weniger löst sie selber diese Forderung ein und desto
politizistischer und soziologistischer wird sie; und zwar deswegen, weil sie
sich vor der radikalen Formkritik ebenso fürchtet wie der vorsintflutliche
etatistische Linksradikalismus. Bezeichnend dafür ist das Untersuchungsprogramm
"Klassen 96", das die ganze theoretische und praktische Misere auf den Punkt
bringt: "Antagonistische Interessenlagen und Strukturzwänge kapitalistischer
Reproduktion beherrschen das politische Alltagsgeschäft. Damit wird auch die
Botschaft vom Ende der Klassengesellschaft als das erkennbar, was sie immer
schon war: eine voreilige Verallgemeinerung, die an der Oberfläche des
Geschehens bleibt... Dass Strukturprinzipien des Kapitalismus so deutlich zu
Tage treten, ist keiner wie immer gearteten (!) Logik des Kapitals geschuldet.
Vielmehr ist es vor allem auch (!) Resultat einer politischen Strategie,
nämlich der neoliberalen Zerschlagung institutioneller Regulierungsformen,
durch die der Klassenkompromiss bislang abgesichert wurde" (links, a.a.O.).
Pejorativ wird hier einerseits die Theorie und Kritik der basalen Logik des
Kapitals ausgeblendet bzw. in die Nebensätze verbannt. Gleichzeitig soll
andererseits die gegenwärtige Krise und soziale Degradation nicht einer
historischen Entwicklung und dem Erreichen einer historischen Grenze dieser
basalen Logik selber entspringen, sondern unhistorisch sollen es nur die "immer
schon" außerhalb jeder strukturellen Entwicklung gesetzten "Strukturprinzipien
des Kapitalismus" sein, die aufgrund einer rein "politischen Strategie" des
Neoliberalismus nun wieder einmal deutlicher hervortreten. Kapitalistische
Geschichte findet also nicht wesentlich strukturell und sozialökonomisch,
sondern lediglich in politischen, soziokulturellen und ideologischen
Wechsellagen vor dem Hintergrund von geschichtslosen "Strukturprinzipien"
statt, die fast schon ontologisch gesehen und daher auch nicht einer konkreten
Radikalkritik unterzogen werden. Glaubt der Oberlehrer- und
ozialarbeiter-Sozialismus allen Ernstes, es könnte unter den Bedingungen der
mikroelektronischen Revolution und des Kapitals als Weltverhältnis nach der
fordistischen Krise eine neue "institutionelle Regulierungsform des
Klassenkompromisses" geben, die überhaupt nur nationalstaatlich und
nationalökonomisch zu denken ist?
Zwar formuliert Joachim Hirsch, einer der Protagonisten dieses Milieus
restlinker Theorie, durchaus eine Art kulturrevolutionäres und lebensweltlich
bestimmtes Kritikprogramm, das mit Walter Benjamin darauf hinauslaufen soll,
"dieser Maschinerie in die Räder zu greifen, sie anzuhalten, Schluss zu machen,
aufzuhören mit dem alltagspraktischen Mitmachen - und sei es noch so kritisch
reflektiert. Es gilt, sich von der alten sozialistischen Vorstellung eines
besseren Industriekapitalismus zu verabschieden und zu realisieren, dass
Befreiung weder eine bestimmte andere Gesellschaft noch die wie immer geartete
Modernisierung der bestehenden Verhältnisse, sondern nur die Schaffung der
Bedingungen heißen kann, die es möglich machen, das eigene gesellschaftliche
Leben frei zu gestalten" (links, a.a.O.). Das klingt gut und vielversprechend,
und es könnte der Ansatz für eine weitreichende solidarische Diskussion zur
Erneuerung der radikalen Gesellschaftskritik sein. Leider bleibt diese
Programmformulierung jedoch bei näherem Zusehen formationskritisch völlig leer
bzw. die Formationskritik bezieht sich (der sogenannten Regulationstheorie
folgend) lediglich auf die jeweilige Form der "politischen Regulation", die
womöglich durch eine andere abgelöst werden soll, ohne dass auch nur ein
Ankratzen der totalisierten Warenform als Thema erkennbar wäre.
Damit verfällt auch Hirsch der ausweglosen Alternative zwischen Skylla und
Charybdis, zwischen Markt und Staat. Im modernen warenproduzierenden System
kann die repressive Form des Staates immer nur durch die Freiheit des Marktes
konterkariert werden, die aber nur die Freiheit des Geldes und niemals die
"freie Gestaltung des eigenen gesellschaftlichen Lebens" ist. Der zynische
Freiheitsbegriff des Liberalismus verweist also die Menschen darauf, sich als
Konkurrenzmonaden selbständig zu machen, betriebswirtschaftlich bzw.
individualberuflich zu reüssieren usw. und dabei immer unter dem Joch des
Geldes durchzukriechen. Eine solidarische Gesellschaft frei vereinbarter
Produktions- und Lebensverhältnisse ist als Gesellschaft von Warenproduzenten
per definitionem unmöglich. Soziale Emanzipation kann nur noch Freiheit von
der Marktwirtschaft sein. Indem Hirsch diesen formkritischen Kern sozialer
Emanzipation heute nicht denken will, bleibt seine Kritik des
"alltagspraktischen Mitmachens" hohl. Jeder, der "sein Geld verdient", muss
immer schon alltagspraktisch mitmachen, und dieses Mitmachen endet genau dort,
wo das Geldverdienen aufhört. Da er diese Grenze nicht markiert, landet
Hirsch bei den alten Formeln der "Politik", unter Verdrängung der Tatsache,
dass dies per se eine etatistische Orientierung ist. Denn jede Politik ist
ihrem Begriff nach immer schon staatsbezogen.
Selbst wenn man zugesteht, dass es so etwas wie eine Transformationsperiode
geben muss, in der sich ein neuer Ansatz von nicht-warenförmiger
Selbstorganisation mit den weiterexistierenden Momenten warenförmiger
Reproduktion, Konflikten um Geld und damit auch der sogenannten Politik
(kritisch) vermitteln muss, so gilt es doch erst einmal, überhaupt einen
solchen neuen Ansatz sozialer Emanzipation zu formulieren, auf die Beine zu
stellen und explizit in seiner anti-ökonomischen und anti-politischen
Eigenqualität deutlich zu machen, statt die Frage der radikalen Kritik und
der Emanzipation im unverbindlichen metaphorischen Bereich zu belassen und
ansonsten in den alten Real- und Begriffskategorien von Markt und Politik
weiterzudenken und weiterzuagieren.
Auch wenn also jede wirkliche soziale Bewegung, auch die radikalste, und damit
auch eine völlig neue Bewegung über die totalisierte Warenform hinaus in
irgendeiner Form etwas Ähnliches wie eine "Dialektik von Reform und Revolution"
entwickeln muss, freilich mit einer ganz anderen, jetzt erstmals das
bürgerliche Universum der Moderne verlassenden Zielsetzung, so bedarf es doch
zunächst des neuen radikalkritischen Ziels und eines entsprechenden
konfliktträchtigen Impetus, bevor man das reformerische Moment daran benennen
kann (wenn dieser Begriff überhaupt noch zutreffend ist). Das bedeutet als
unabdingbaren kategorischen Imperativ hier und heute die (auch emotionale)
Verweigerung des kapitalistischen Leistungs- und Erfolgswahns, die historische
"Arbeitsverweigerung" (und darin eingeschlossen die Kritik eines Leistungs-
und Arbeitsquanten-Sozialismus, dessen Idee heute hinter den Stand der
Produktivkräfte zurückfällt). Es gilt überhaupt (vielleicht ebenso wie die
Situationisten auch Herbert Marcuse kritisch historisierend), eine Kultur
der Verweigerung zu entwickeln; und soweit z.B. Joachim Hirsch ähnliches
formuliert, ist ihm zuzustimmen, freilich auch die von ihm (bisher) nicht
gezogene ökonomie- und politikkritische Konsequenz zu ziehen.
Es kann nicht ausbleiben, dass das neue historische Ziel einer Aufhebung
von "Arbeit", Warenform, Geld, Markt und Staat auf die dumpfe Ablehnung des
gesamten herrschenden Bewusstseins stoßen muss; bei den protestantischen
Arbeitsfetischisten jeglicher Couleur sowieso aus prinzipiellen Gründen, bei
den Scheinpragmatikern aus Gründen der angeblichen Unrealisierbarkeit. Gerade
weil aber der Kampf um einen "gerechten Lohn für ein gerechtes Tagewerk"
keinerlei historische Entwicklungsperspektive mehr hat, steht jetzt endlich
die historische Konkretisierung der Marxschen Gegenparole auf der Tagesordnung:
"Nieder mit der Lohnarbeit!". Das System der "Arbeitsplätze", d.h. der
Verwandlung von "Arbeit" in Geld ist grundsätzlich anzugreifen, statt zu der
steinerweichenden Elendsdebatte um die "Schaffung von Arbeitsplätzen" ein
jämmerliches Konzept-Scherflein beizutragen.
Diese Perspektive bedeutet keineswegs, das Terrain der "immer wieder
aufbrechenden" immanenten (warenförmigen) Interessengegensätze kampflos
preiszugeben. Aus diesem bürgerlichen, kapitalistisch formbestimmten Gegensatz
kann aber eben kein transformatorisches Ziel, kein Programm einer anderen
Produktions- und Lebensweise mehr entwickelt werden. Der Kampf um Geld, Lohn,
Sozialstaat etc. ist also ein historisches Auslaufmodell, das aber als solches
auch besetzt werden muss. Es steht nicht mehr für sich, sondern ist als
flankierendes, taktisches Moment für ein ganz anderes Ziel und Programm zu
verstehen, d.h. für eine nicht-warenförmige Reproduktion jenseits von Markt und
Staat. Der hoffnungslose Abstieg der Gewerkschaften in den vergangenen Jahren
zeigt uns, dass der bloß systemkonforme Konflikt nur noch in die Selbstaufgabe
münden kann, weil es Ziel und Strategie nicht mehr gibt, eine "Taktik" für sich
allein ohne strategisch-systemkritischen Bezug aber nicht möglich ist. Indem
zusammen mit einer neuen Zielbestimmung radikaler Gesellschaftskritik auch
wieder ein strategischer Bezug sozialer Bewegung möglich wird, kann überhaupt
erst der (flankierende) warenförmig-immanente soziale Interessenkampf erneute
Durchschlagskraft gewinnen.
Erst Menschen, die sich ein Ziel jenseits der Lohnarbeit gesetzt und darin
lebensweltliche Möglichkeiten gefunden haben, können auch mit härteren
Bandagen soziale Gratifikationen in der alten Form einfordern (etwa nach dem
Motto: "Euer Weltmarkt ist uns scheißegal"). Der entscheidende Unterschied zum
alten Klassenkampf wäre, dass die warenförmig immanente Auseinandersetzung
nicht mehr formspezifisch mit dem Ziel sozialer Emanzipation
zusammengeschlossen ist, sondern der Bruch mit der bürgerlichen Form der
Moderne in den Zielsetzungen selbst erscheint.
Die sozialen Akteure in diesem Kontext können kein "Klassensubjekt" mehr sein,
überhaupt kein apriorisch konstituiertes und damit warenförmiges Subjekt,
sondern nur eine sich selbst konstituierende soziale Emanzipationsbewegung.
Eine solche Bewegung wird nicht mehr die Form einer politischen Partei
annehmen, sondern die eines Verbundsystems sozialer Initiativen auf
verschiedenen Ebenen, deren gemeinsamer Nenner nicht nur die
Gesellschaftskritik an Markt und Staat, sondern auch jeweils ein
praktisches, lebensweltliches Moment der Entkoppelung von Markt, Geld und
Staat ist: für das gegenwärtige Normalbewusstsein nur deswegen auf Anhieb so
schwer vorstellbar, weil alle Kompetenzen der sozialen Kooperation und der
Reproduktion des Lebens (mit Ausnahme der "abgespaltenen" weiblichen
Tätigkeitsbereiche) auf Kapital und Staat übergegangen sind. Es sind weniger
technische oder ökonomische Realisationsprobleme, die sich dem Gedanken einer
Entkoppelung von Lebens- und Reproduktionsbereichen heute entgegenstellen, als
vielmehr die verinnerlichte Warenform des Subjekts.
Gelingt es, die Perspektive einer Entkoppelungsbewegung von Markt und Staat
in erreichbaren Teilbereichen sozialer Reproduktion gesellschaftlich zu
entwickeln, dann gewinnt auch die Frage der Arbeitszeitverkürzung auf dem
Boden der Warenform eine neue Plausibilität. Auch ohne Lohnausgleich enthält
ja die Arbeitszeitverkürzung oder Teilzeitarbeit ein Moment der Gratifikation
(im krassen Unterschied zum Billiglohn oder untertariflichen Lohn eines
zweiten Arbeitsmarktes): nämlich einen Zugewinn an disponibler Zeit. Erscheint
aber diese Gratifikation in einem flächendeckenden System der Abhängigkeit
vom Geld als sinnlos, so kann sie bei einem gleichzeitigen Aufbau
nicht-warenförmiger Elemente der sozialen Reproduktion durchaus attraktiv
werden. Eine gewerkschaftliche Opposition hätte gerade in diesem Kontext
(vermittelt mit einer neuen lebensweltlichen Orientierung) ihre Aufgabe statt
in einer bloßen Anklammerung an die alte warenförmige Klassenkampf-Ideologie.
In der Geschichte seit 1968 (eigentlich schon seit dem Zweiten Weltkrieg) sind
kritische Theorie der Gesellschaft, soziale Bewegungen und Gegenkultur immer
weiter auseinandergefallen bis zur völligen Paralyse der Gesellschaftskritik,
bei gleichzeitigzunehmender Reproduktionskrise der bürgerlichen Gesellschaft.
Erst die Transformation und Reformulierung der Gesellschaftskritik jenseits des
Warenfetischismus wird eine Reintegration und neue Durchschlagskraft möglich
machen. Sicherlich kann diese Erneuerung der Kritik heute nicht unvermittelt an
das gewerkschaftliche, warenförmig fixierte Massenbewusstsein herangetragen
werden. Aber unter der Oberfläche der herrschenden Institutionen (Parteien,
Gewerkschaften, Universitäten, Kirchen) könnte die Entfaltung eines Diskurses
über das "Unmögliche" dennoch möglich sein. Zu viele müssen heute innerhalb der
Apparate selber über die Klinge springen, als dass sich nicht Träger und
Vermittler eines solchen Diskurses finden lassen sollten. Wir brauchen keine
wehmütige Erinnerung an die absteigende Linie der letzten Gefechte des alten
Klassenkampfs seit dem Pariser Mai mehr, wenn wir anfangen können, uns auf das
erste Gefecht eines ganz anderen Mai vorzubereiten.
----------------------
http://www.oekonux.de/