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Re: [ox] Re: Wissenschaft et al



Hi Annette und alle!

Eins wollte ich noch zu den uralten Freien Prinzipien der Wissenschaft
loswerden: Bei Kochrezepten ist dieses Prinzip auch schon sehr lange
verwirklicht - und es scheint mir dort weniger korrumpierbar zu sein.

2 weeks (16 days) ago Annette Schlemm wrote:
1. Begriffe:

Ich bin mir immer noch nicht sicher, wie Ihr mit Begriffen und Worten
umgehen wollt. Einerseits bleibt Ihr beim Allgemeinsprachlichen,
andererseits habt Ihr doch wohl auch einen wissenschaftlichen Anspruch?

Nun, ich für meinen Teil sehe dieses Projekt hier eher als Teil einer
lebendigen (politischen?) Bewegung an. Als Teil des Lebens wird es
kaum möglich und auch zuweilen hinderlich sein, alles gleich
wissenschaftlich zu haben. Ideen entwickeln sich nicht streng
wissenschaftlich - was gute WissenschaftlerInnen auch wissen ;-) .
Wissenschaftlicher Anspruch wäre für mich daher eher etwas am Rande.
Andere mögen und sollten das natürlich anders sehen.

Aber wenn ich das sage, schwingt natürlich auch schon wieder ein ganz
bestimmter, zu hinterfragender Begriff von Wissenschaft mit.

Worin seht Ihr den Unterschied einer Begriffsbildung von einer einfachen
Definition?

Ich würd's mal so sagen: Die Definition ist der Versuch einer
sprachlichen Fixierung eines Begriffs zum Zweck der
Intersubjektivierung.

2. Wissenschaft und Alltagsdenken

Damit verbunden kommen wir - wieder einmal - zu der Frage, wie es gehen
kann, daß Wissenschaft entelitarisiert werden kann.
Ist jede Meinungsäußerung schon "Wissenschaft" - bzw. was unterscheidet
Wissenschaft davon?

Ich habe neulich bei Werner Imhof folgende Stelle gut gefunden:

  Jede Wissenschaft hat ihren Grund in der Differenz von Erscheinung
  und Wesen ihres Gegenstands. Jede Wissenschaft geht aus von
  sinnlich-praktischen Erfahrungen, aus denen sie per Abstraktion
  allgemeine Aussagen über ihren inneren Zusammenhang, ihre
  Bewegungsgesetze usw. gewinnt, um mit deren Hilfe zu einem tieferen
  Verständnis der Erfahrungen zu gelangen. Die konkrete Erfahrung oder
  Praxis ist Ausgangspunkt und Ziel des Denkens.

Vor allem das Plädoyer für die Praxis fand ich wichtig.

Aus dem Text, aus dem ich das habe, werde ich demnächst sowieso noch
ein paar Stellen zitieren.

4. Fortschritt

Ich habe den Eindruck, Stefan Mn. spricht der Entwicklung, speziell der
wissenschaftlichen den Fortschritt ab? Sehe ich das in dieser
Absolutheit richtig?

Nun meine Kritik richtet sich vor allem gegen den Wissenschaftsbetrieb
- und dem damit verbundenen Duktus. Wissenschaft z.B. in der o.g.
Definition kann schon zu Fortschritt führen.

Vielleicht hilft es weiter, sich über eventuelle Kriterien des
Fortschritts, der Höherentwicklung klar zu werden.

Wie in der Mail neulich würde ich mich gegen "Höherentwicklung"
wenden. Höher an welcher Meßlatte? Gibt es eine überhistorische? Ich
denke nicht.

Fortschritt finde ich ok, weil ein fortschreiten ja schon sinnvoll
sein kann: Wenn der alte Standpunkt nicht mehr paßt - warum auch
immer.

Ich hab mich grad damit beschäftigt, wie die Quantentheorie entstanden
war. Die traditionelle Physik konnte die Strahlung eines schwarzen
Körpers nicht richtig berechnen. Nach ihren Formeln kam für kleine
Wellenlängen eine unendlich werdende Intensität heraus - die
"Ultraviolettkatastrophe". Es war wohl doch ein Fortschritt, und nicht
nur ein "anderes" Denken, daß Planck die Energiequantelung einführte und
damit die experimentell richtige Kurve auch berechnen konnte. Bezüglich
konkreter Kriterien - hier Berechnung der Strahlungskurve eines
schwarzen Körpers - ist doch Fortschritt/Höher-Entwicklung
konstatierbar. Oder nicht?

Das ist genau mein Punkt gewesen: Bezüglich konkreter Kriterien! Und
die sind nicht überhistorisch sondern immer historisch und kulturell
gebunden. Was interessiert schon nur den zeitgenössischen Aborigine
die Quantenphysik?

Deswegen plädiere ich (auch) hier für eine radikale
Individualisierung, die zunächst mal sicheren Boden liefert: Ich kann
mich für Quantenphysik interessieren und dann ist für mich diese
Entdeckung ein Fortschritt. Der Aborigine oder auch nur mein Nachbar
mag das anders sehen.

Von diesem individuellen Interesse ausgehend kann ich dann versuchen,
das ganze zu intersubjektivieren - z.B. innerhalb der Kultur, in der
ich aufgewachsen bin.

Auch von daher finde ich übrigens die Frage nach der III. Welt nicht
so vorrangig. Von meinem Standpunkt aus müßten wir vor allem aufhören,
sie zu unterdrücken und auszubeuten. Ob sie dann auch eine
GPL-Gesellschaft wünschen oder lieber im Busch leben ist meine Sorge
schließlich nicht - und fände ich auch bestenfalls paternalistisch.

Ein anderes Kriterium wäre: erfolgreicher Umgang/Beherrschung der Natur
... wobei wir hier schon wieder deutlich sehen müssen: langfristig kann
mancher Erfolg in Mißerfolg umschlagen, oder aus anderen Gesichtspunkten
heraus gar keiner sein...

Wenn erfolgreicher Umgang/Beherrschung der Natur für dich ein
Kriterium ist, klar. Wenn das nicht alles Ideologie ist, dann hatten
die amerikanischen Ureinwohner wohl ein Verhältnis zur Natur, das
weniger stark durch "Macht euch die Erde untertan" geprägt war. Die
würden sicher völlig andere Kriterien angelegt haben für das, was für
sie spannend ist.

Auch die Handlungsfähigkeit wird wohl jeweils unterschiedlich
eingeschätzt werden. Mancher Scholastiker war wohl ausreichend
handlungsfähig mit dem aristotelischen Naturforschungsverständnis -
andere Menschen eben nicht. Manch "Fortschrittsfeindlichkeit" läßt sich
sicher auch verstehen, wenn man versteht, wie der "Fortschritt" deren
Handlungsfähigkeit einzuschränken droht (Machtansprüche...).

Noch ein Faktor den ich aber gar nicht meinte.

Der Begriff der Handlungsfähigkeit kann ja nur Sinn machen in einer
historischen und kulturellen Einbettung. Die Handlungsfähigkeiten -
und Wirksamkeiten! - eines Schamanen hat in unseren Gesellschaften
kaum jemensch - aber warum auch. Nach unseren Kriterien braucht es
diese Handlungsfähigkeit, die grundsätzlich im Menschen angelegt ist,
nicht mehr und logischerweise verkümmert sie. Oder nehmen wir das
Entzünden von Feuer mit Hilfe von in der Natur vorgefundenem Material
vs. Lichtschalter und Heizungsthermostat.

Fortschritte auf einem bestimmten Gebiet haben eben oft als Folge, daß
bestehende Handlungsfähigkeiten auf anderen oder ähnlichen Gebieten
verkümmern - schon deswegen würde ich nicht von "Höher" sprechen.

Um es mal zurück an unsere Debatte zu binden: Wenn wir von einem
emanzipatorischen Fortschritt sprechen wollen, dann können wir das
genau genommen nur für uns und heute tun. Aber das finde ich letztlich
auch gut. Es ist besser die eigenen, konkreten Interessen zu
vertreten, als irgendwelchen höheren Werten zu huldigen.

Wahrscheinlich wird hier klar, daß wir alle irgendwie parteilich in
dieser Frage sind - wir können sie auch nicht vermeiden und in
postmoderne Beliebigkeit ausweichen, sondern unsere jeweilige
Parteilichkeit transparent machen...

Ich bin nicht für Beliebigkeit - weil ich nicht beliebig bin. Ich
hoffe, ich konnte einigermaßen klar machen, wie herum ich denke.
Jedenfalls hilft mir diese Diskussion auch klarer zu werden.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan


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Organisation: projekt oekonux.de



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