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[ox] Thesen beim spw-Theoriekreis



Hi alle,

ich war beim spw-Theoriekreis Köln zur Diskussion eingeladen (spw
ist eine SPD-Zeitschrift für "sozialistische Politik und
Wirtschaft", Ralf, korrigier mich, wenn das nicht stimmt). Dort habe
ich folgende (theorielastige) Thesen vorgestellt. Es gab eine
ziemlich muntere Diskussion mit so ziemlich allen Argumenten, die
auch hier in der Oekonuxliste eine Rolle spielen.

Ciao,
Stefan

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Diskussion beim spw-Theoriekreis Köln

Thesen von Stefan Meretz, 9.2.2001

Linux und Co. Freie Software - Ideen für eine andere Gesellschaft

1. Historie-1. Freie Software hat ihre Wurzeln im wissenschaftlichen
Bereich. Mit Hilfe eines keynesianistischen Programms zur
Forschungsförderung Ende der Fünfziger Jahre sollte ein
(vermeintlichen militär-) technologischer Rückstand gegenüber der
Sowjetunion aufgeholt werden. Für die Entstehung Freier Software
sind vor allem die beiden Linien interessant, die zur Entwicklung
des Betriebssystems Unix und des Internet führten.

2. Wissenschaft. Der wissenschaftliche Prozess lebt vom freien
Austausch der Informationen, vom gesellschaftlichen Akkumulieren des
Wissens. Wissenschaft ist damit nicht marktgängig. Marktgängig sind
nur Produkte, die knapp sind. Die verknappte Form gesellschaftlichen
Wissens in Softwareform ist die proprietäre Software - Software, die
einem Eigentümer gehört und anderen nicht. Jede Restriktion der
gesellschaftlichen Wissensakkumulation ist betriebslogisch
funktional und systemlogisch (i.S. des Kapitalismus) dysfunktional.

3. Freie Software. Der Freiheitsbegriff macht stets nur da Sinn, wo
Unfreiheit herrscht. So auch bei Software: Der Begriff der Freien
Software entstand erst mit der Exklusivierung gesellschaftlichen
Softwarewissens. In heutiger Perspektive kann man natürlich auch
sagen: Früher gab es nur freie Software. Damals machte das keinen
Sinn.

4. Historie-2. Nach der Zerschlagung von AT&T, war die
Unterdivision, die die "Rechte" am Unix-Betriebssystem besaß,
gezwungen, diese exklusive Verfügungsgewalt auch exklusiv zu nutzen.
WissenschaftlerInnen sollten fortan eine
Nicht-Weiterverbreitungs-Erklärung (NDA) unterzeichnen, wenn sie
Zugriff auf den Quellcode bekommen wollten. Diese
Freiheitseinschränkung erzürnte Richard Stallman und andere so sehr,
dass sie das GNU-Projekt gründeten. "GNU Is Not Unix" lautet die
rekursive Abkürzung: GNU ist nicht Unix, sondern frei und besser.
Der erste historische Geniestreich Freier Software bestand in der
Schaffung einer Freien Softwarelizenz, der GNU General Public
License (GPL). Die GPL basiert auf dem Copyright, dreht deren Logik
aber um: Software soll nicht exklusiv sein, sondern nie wieder
exklusiviert werden. Die GPL wird deswegen auch als Copyleft
bezeichnet.

5. Softwarekrise. Software zu entwickeln, bedeutet, die informale
und vielfältigen Bedeutungen der Welt zu beschränken, zu
formalisieren und in algorithmischer Form in Software abzubilden.
Kommen dabei EntwicklerInnen unterschiedlicher Perspektiven zusammen
- gar noch mit AnwenderInnen, AuftraggeberInnen und anderen
PerspektiveninhaberInnen -, dann wird dieser
Komplexitätsreduktionsprozess zur schier unschaffbaren
Herkulesarbeit. Ende der Sechziger Jahre war Hard- und
Software-Technologie schliesslich soweit: Die "Softwarekrise" wurde
konstatiert. Die Krise hält bis heute an, und die Antworten sind bis
heute prinzipiell die gleichen geblieben: Das Chaos der Vielfalt muß
in den Griff gebracht werden, Software muss nach klaren Methoden
"ingenieurmäßig" entwickelt werden.

6. Entwicklungsmodelle. Ingenieurmäßiges Vorgehen bedeutet(e), einen
zu definierenden Problembereich nach formalen Kriterien
aufzubereiten, um schrittweise eine Lösung zu erarbeiten. Dabei war
es "einfacher" und "logisch", Entscheidungsstrukturen zu
Problemdefinition, Formalisierung und Lösungskonzeption zu
hierarchisieren. Sie entsprach der tayloristisch-fordistischen
Produktionslogik, in der Mensch als Objekt und Rädchen im Getriebe
verplant wurde, aber nicht - oder nur in engen Bahnen - Subjekt sein
durfte. Die Menschen wurden dem physikalischen
Ursache-Wirkungs-Prinzip der industriellen Maschinerie
untergeordnet.

7. Krise der Freien Software. Die Freie Software wurde von dieser
Krise der fordistischen Prozeßlogik nicht verschont. Zwar konnten
die relativ kleinen und inzwischen sehr geschätzten GNU-Tools zügig
entwickelt werden, doch mit der zentralen Komponente des
Betriebssystems, dem Kernel, haperte es. Gemäß "Brooks Law", nach
dem mehr Personen aufgrund der polynomial gestiegenen
Kommunikationsaufwände ein Projekt eher behindern als fördern,
sollte das Kernel-Entwicklungsteam klein bleiben.

8. Freie Entwicklung. Linus Torvalds stellte die fordistischen
Dogmen intuitiv auf den Kopf. Anstatt die Kontrolle über jeden
Schritt zu behalten, gab er sie aus der Hand. Neben das gängige
Entwicklungsprinzip des "rough consensus - running code" stellte er
sein "release early  release often". Grundlage des
Maintainer-Prinzips ist die individuelle Selbstentfaltung und
kollektive Selbstorganisation. Individuelle Selbstentfaltung und
kollektive Selbstorganisation als Kern Freier Softwareentwicklung in
die Welt gesetzt zu haben, ist der historische Geniestreich Nummer 2
Freier Software.

9. Wertfreiheit. Das Maintainer-Prinzip funktioniert nur unter
Bedingungen der Wertfreiheit des Prozesses und der Produkte.
Verwertungslogik und Logik der individuellen Selbstentfaltung sind
unvereinbar. Die GPL ist entscheidende Bedingung dafür, dass Freie
Software unknapp und damit wertfrei sein kann.

10. Antagonismus. Wenn im Widerspruch zwischen Selbstentfaltung und
(Selbst-) Verwertung der systemische Antagonismus liegt - was ist
dann mit dem Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit? Kapital und
Arbeit sind zwei unterschiedliche Funktionsaspekte im gleichen
kybernetischen Selbstzweckzusammenhang der (Selbst-) Verwertung von
Wert - und der ist nach Marx "maßlos".

11. Produktivkraftentwicklung. Die Gesellschaftsgeschichte lässt
sich in drei große Zyklen der Produktivkraftentwicklung einteilen.
Produktivkraft ist dabei nicht verdinglichend als Technik, sondern
als Verhältnis von Natur, Mittel und Mensch zu begreifen. Jedes drei
dieser Aspekte ist in einem historischen Zylus dominant und bestimmt
die jeweilige Epoche. Alle agrarischen Gesellschaften gehören
demnach zur Natur-Epoche, die warenförmigen Industriegesellschaften
zur Mittel-Epoche und die "Epoche der Menschen" reift heran. Den
jeweiligen Epochen entsprechen charakteristische
Vergesellschaftungsformen. Die Natur-Epoche war von
personal-konkreten Herrschaftsstrukturen geprägt, die Mittel-Epoche
von abstrakt-entfremdeten Vergesellschaftungsformen, und die "Epoche
der Menschen" wird ähnlich wie die Natur-Epoche von
personal-konkreten Vergesellschaftsformen bestimmt sein - jedoch auf
der Grundlage von Herrschaftsfreiheit, Selbstorganisation und
Selbstentfaltung.

12. Keimform. Freie Software ist eine Keimform einer freien
Gesellschaft. Bestimmende Momente einer freien Gesellschaft sind
individuelle Selbstentfaltung, kollektive Selbstorganisation,
globale Vernetzung und wertfreie Vergesellschaftung. All dies
repräsentiert die Freie Software keimförmig. Das bedeutet: Freie
Software "ist" nicht die freie Gesellschaft sozusagen im
Kleinformat, sie ist auch nicht als "historisches Subjekt" auf dem
Weg zu einer freien Gesellschaft anzusehen. Sie repräsentiert in
widersprüchlicher und unterschiedlich entfalteter Weise die
genannten Kriterien und gibt damit die Idee einer qualitativ neuen
Vergesellschaftung jenseits von Markt, Ware und Geld. Nicht mehr -
aber auch nicht weniger.

Literatur und Links:

Stefan Meretz (2000), Linux und Co. Freie Software - Ideen für eine
andere Gesellschaft, AG-SPAK-Verlag
(http://www.leibi.de/spak-buecher), Internet:
http://www.kritische-informatik.de/fsrevol.htm

Gruppe Gegenbilder (2000), Freie Menschen in freien Vereinbarungen,
Projektwerkstatt Saasen (http://come.to/projektwerkstatt), Internet:
http://www.opentheory.org/proj/gegenbilder

Weitere Texte:
- Projekt Oekonux (Ökonomie & GNU/Linux), http://www.oekonux.de
- Projekt open theory, http://www.opentheory.org
- Kritische Informatik, http://www.kritische-informatik.de
- GNU-Projekt, http://www.gnu.org

Besonderer Hinweis: Vom 28.4. bis 30.4. findet an der FH-Dortmund
die erste Oekonux-Konferenz unter dem Titel "Die freie Gesellschaft
er~finden. Von der Freien Software zur Freien Welt?" statt, die
Fragen nach der Verallgemeinerbarkeit der Prinzipien Freier Software
stellt. Website: http://www.oekonux-konferenz.de


-- 
  Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen
  HA II, Abteilung Datenverarbeitung
  Kanzlerstr. 8, 40472 Duesseldorf
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  stefan.meretz hbv.org
  maintaining: http://www.hbv.org
  private stuff: http://www.meretz.de
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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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