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Re: [ox] Friede den Huetten




 Hallo Benni!

Du schreibst: 
Vielleicht kann man sich ja drauf einigen, dass jeder in der
Behausung leben koennen soll, die er mag, nur wird das fuer manche
eben auch ein Palast sein. Ich brauch auch keinen, dafuer hab ich
vielleicht in anderen Bereichen Beduerfnisse, die andere nicht
nachvollziehen koennen.

Ich wuerd mich schon gerne mit allen darauf einigen, dass jeder nach
seinen Vorstellungen und Beduerfnissen leben kann. Das rechtfertigt
aber noch kein Tabu, ueber sie zu diskutieren.

Ja, aber es rechtfertigt auch nicht jemandem was vorzuschreiben. Ich
geh mal davon aus, Du bist kein Verfechter der Oekodiktatur.

Wie kommst du eigentlich darauf, dass ich irgendjemandem etwas
vorschreiben will? Und warum denkst du gleich an Oekodiktatur,
wenn oekologische Probleme erwaehnt werden? Ich hatte den Spruch
"Krieg den Huetten, Palaeste fuer alle!" kritisiert, weil er allen
Palaeste vorschreiben will. Ich hab weder "Krieg den Palaesten" 
noch "Huetten fuer alle" gefordert.


Nur was ich schon stark machen wuerde, waere, dass man sich an den
Beduerfnissen der Leute orientiert und nicht an denen rumkrittelt und
ihnen von oben herab sagt, was gut fuer Sie ist.

Warum sollte ich mich an den Beduerfnissen "der Leute" orientieren?

Woran sonst? Das ist eine ernstgemeinte Frage.

Die Beduerfnisse der Leute muss ich beruecksichtigen, wenn ich etwas
von ihnen will. Unter Orientierung versteh ich aber etwas ganz
anderes, naemlich die sehr zentralen Fragen "Wo will ich hin?", "Wie
will ich leben ?", "Was ist mir etwas wert ?" und so fort. Dabei
sind nicht Beduerfnisse primaer, weder die von anderen noch meine
eigenen, sondern Erfahrungen und Erkenntnisse. Schlechte
Erfahrungen von Situationen, in denen ich mich unwohl fuehle, machen
mir klar, wovon ich weg moechte. Gute Erfahrungen lassen mich nach
mehr davon suchen. Dazu kommt dann eine intellektuelle Bearbeitung,
wobei auch von anderen Gehoertes oder Gelesenes mit eingebaut wird.
Die Beduerfnisse wie die Ziele aendern sich auf dem zurueckgelegten
Weg, mit neuen Erfahrungen und Erkenntnissen. Von daher erscheint
es mir sehr fremd, wenn Beduerfnisse hier als unantastbare
Konstanten behandelt werden.


Ich sehe gerade ein
grosses Problem darin, dass sich "die Leute" an "den Leuten"
orientieren.
Es fuehrt zu Traegheit gegenueber dem Notwendigen und
macht sie anfaellig fuer Manipulation. Es gibt keine Emanzipation
ohne den Mut zur Abweichung von "den Leuten" und ohne Bemuehung um
Unabhaengigkeit der eigenen Wahrnehmung und die Entwicklung von
eigenen Wertvorstellungen.

Um in Spehrscher Terminologie zu reden (kannst Du mir da folgen,
sonst erklaer ich das nochmal): Es wird immer Zivilisten geben und
ohne die Zivilisten auf Deiner Seite zu haben, erreichst Du nichts.

Ich will garnichts erreichen, wozu ich die Zivilisten auf meiner Seite
haben muesste, will weder Bundeskanzler noch Revolutionsfuehrer, weder
Popstar noch Hersteller von Massenprodukten werden. Es reicht mir,
ein paar Maquisaner als gute Freunde an meiner Seite zu haben. 
Zivilisten sind fuer mich nur soweit von Interesse, als die Moeglichkeit
besteht, dass sie nicht Zivilisten bleiben. 


Es waere ja nicht mal gut fuer "die Leute", wenn ich mich an ihnen
orientiere und sie sinnlos bestaetige, anstatt manchmal an ihnen
rumzukritteln. Kritik ist nicht nur Angriff, sondern auch Geschenk.
"Die Leute" haben viel mehr von mir, wenn ich anders bin als sie,
wenn ich sehe was sie nicht sehen, wenn ich auf Gedanken komme, die
ihnen fernliegen. Und natuerlich brauche ich auch sie, weil sie
anders sind als ich, weil ich oft nicht sehe was sie sehen, weil ich
manchmal nicht auf Gedanken komme, die fuer sie vielleicht
alltaeglich sind.

Dann bist Du so eine Art Avantgarde?

Wenn ichs richtig verstanden hab, sind Avantgarde diejenigen, die anderen 
voran gehen. Insofern ist jede Person, die eigene Wege geht, potentiell 
Avantgarde, weil sie als erste einen Weg geht, dem andere folgen koennten? 
Allerdings leg ich keinen grossen Wert darauf, dass mir viele folgen.
Der Weg, der fuer mich der beste ist, muss es nicht fuer andere sein. Wenn
meine Art zu leben Einfluss auf andere hat, dann hoechst selten als 
Nachzuahmendes, sondern eher als Beispiel, dass es weit mehr
Moeglichkeiten als geahnt gibt und als kleine Ermutigung, auch eigene
Wege zu gehen.
 

Verzicht ist naemlich
auch nicht emanzipatorisch, genauso wenig wie Konsumrausch.

Die Fragestellung "Ist Verzicht emanzipatorisch? " ist schon
sinnlos. Denn es ist unmoeglich nicht zu verzichten.

Fuer jedeN EinzelneN macht es aber sehr wohl einen Unterschied, ob er
oder sie auf etwas verzichten muss, was ihm oder ihr wichtig ist.
Will sagen: Was (unzumutbarer) Verzicht ist, bestimmst eben nicht Du
oder sonst irgendeine hoehere Instanz, sondern "die Leute". Du kannst
das zwar nicht moegen. Sie werden Dich aber schlicht ignorieren wenn
Du sie (und ihre Beduerfnisse) ignorierst und weiter den Aliens
nachlaufen.

Nochmals. Ich bin weder eine hoehere Instanz noch will ich bestimmen,
worauf andere verzichten sollen. Ich versuche nur klarzumachen, dass
egal wie sich Leute entscheiden, sie immer auf etwas verzichten
(muessen). Das ist aber wohl nicht so einfach, da die Verleugnung 
der Ambivalenz tief in den patriarchalen Denkgewohnheiten verwurzelt
ist. Bei einigen Sachen wird nur das positive gesehen, bei anderen 
nur die negativen Seiten. Eine solche einseitige Sichtweise macht
die Leute zu idealen Konsumenten und Produzenten, manipulierbar und
ausbeutbar. Sie sehen die "Gueter", aber nicht deren Kosten und Aufwand,
den verlockenden Koeder, aber nicht den Haken an der Sache.

Gerade weil diese Sichtweise so weit verbreitet ist (und auch
gezielt gefoerdert wird), floriert die kapitalistische Wirtschaft.
Dennoch ist sie voellig unoekonomisch. Das mag auf den ersten Blick
widerspruechlich scheinen, ist es jedoch nicht, weil mit
unoekonomischen Menschen lassen sich die besten Geschaefte machen.

Wenn ich mich hier positiv auf Oekonomie beziehe, dann nicht in dem 
eingeschraenktem Sinne der Geldoekonomie, sondern in einem weiteren
Sinn, zB wie Spehr sie im Alienbuch (Picknick auf Tatooine) beschreibt?  

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"Was die MaquisianerInnen von ihren Vorgaengern unterscheidet, ist
das ziemlich maessige Interesse, das sie fuer Oekonomie aufbringen.
Beziehungsweise das, was die herrschende alienistische Sicht unter
Oekonomie versteht. Der beispiellose Aufstieg der Oekonomie zur
Leitwissenschaft, den wir im demokratischen Zeitalter beobachten
koennen, geht einher mit der voelligen Entleerung dieser Wissenschaft
von allem, womit man etwas anfangen kann. Nicht wenige der
MaquisianerInnen halten deshalb die Beschaeftigung mit
Bruttosozialprodukten, Handelsbilanzen, Steuerpolitik und zyklischen
Krisen fuer ungefaehr so attraktiv wie eine Unterhaltung mit den 
Weltraumwuermern aus dem Asteroidenguertel um Hoth: Man bekommt
einfach keine Antwort.

Umgekehrt gilt dasselbe. In einer nichtalienistischen Sicht ist die
Frage nach der Oekonomie die Frage danach, was mit uns geschieht -
mit unserer Kraft, mit unserer Zeit, mit unserem Leben. Wo geht
unser Einsatz hin? Was wird daraus? Welche Oekonomie geben wir
unserem Leben, unserer Gesellschaft? Welche Gestalt? Wer bestimmt
darueber ? Fuer all diese Fragen interessiert sich die alienistische
Oekonomie als Wissenschaft vom optimierten Zugriff von Natur und
Arbeit, ueberhaupt nicht. Man wird sie in den alienistischen
Lehrbuechern zur Oekonomie vergeblich suchen. Die Beschaeftigung mit
solchen Fragen steht fuer die Aliens auf einer Stufe mit einem
Picknick auf Tatooine: nett wenn man Zeit hat, aber im Prinzip
sinnlos, weil dort nichts zu holen ist.

Dennoch sind die beiden Begriffe von Oekonomie nicht ganz
unverbunden. Im Grunde handelt Oekonomie immer von der Tatsache, dass
man nicht alles haben kann. Jedenfalls nicht alles gleichzeitig und
zu hundert Prozent. Man muss Entscheidungen treffen. Die Oekonomie
eines Bauwerks, eines Kunstwerks, einer Schachaufgabe ist immer eine
Variation ueber das Thema, mit begrenzten Mitteln eine Gestalt
hervorzubringen. Eine sinnvolle Verteilung der Kraefte, eine
bestimmte Proportion der Ziele und der Mittel, das erreichen
erstaunlicher Ergebnisse trotz begrenzten Ausgangsmaterials.
Oekonomie handelt von Grenzen in Zeit und Raum; von aeusseren Grenzen
und von der inneren Grenze, dass eine Gestalt nicht gleichzeitig
auf beliebig viele Ziele hin optimiert sein kann. Selbst bei bestem 
Budget hat ein Film 120 Minuten, vielleicht 150. Das will
wohlueberlegt sein.

Leben ist Oekonomie. Man kann nicht alles haben, nicht alles machen,
jednfalls nicht gleichzeitig und mit hundert Prozent: sich darum
kuemmern, dass die Kleine genug Fruchtbrei isst, die Abrechnung fuers
Buero machen, das naechste Kapitel schreiben, zu zweit ins Kino gehen,
sich nach den Problemen seiner Freunde erkundigen und Ruhe und
Ausgeglichenheit aus dem Alleinsein zu schoepfen. Man faellt
Entscheidungen, versucht seine Kraefte sinnvoll einzusetzen, sucht 
nach einer bestimmten Verteilung; einer Proportion der Ziele und der
Mittel, wie auch der Ziele untereinander. Man unterscheidet auch
ueber den Grad der Radikalitaet, mit dem man sich zwischen Zielen
entscheidet; das Mass an Effektivitaet, mit dem man seine Zeit und
Kraft auf diese Ziele trimmt, das Verhaeltnis zwischen diesem Bereich
und jenem anderen, offeneren, ungenaueren Bereich, wo die Dinge im
Fluss und nicht so klar auf Ziele hin ausdifferenziert sind und den
wir manchmal als Leben bezeichnen, wie wenn das andere sich
ausserhalb unseres Lebens abspielen wuerde. Wir geben uns eine Gestalt.

In genau derselben Weise ist Gesellschaft Oekonomie. Jede
Gesellschaft, jede soziale Kooperation, jede Gesellschaft entfaltet
eine Struktur, die bestimmt, wo Zeit, Kraft, Arbeit und Ressourcen
hingehen. Wofuer sie eingesetzt werden, auf welche Ziele sie
konzentriert werden und auch bis zu welchem Grad sie dem Diktat
dieser Ziele unterworfen werden. Es geht um die Frage, welche
Gestalt das Leben annimmt. Und wer das kontrolliert."
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Natuerlich sind viele dieser Beduerfnisse "falsch" in einem rationalen
Sinn und vom falschen System gepraegt. Nur kann es ja auch nicht Sinn
der Sache sein, erst auf eine bessere Menschheit mit mehr Einsicht
zu warten, bevor man daran geht etwas an den Verhaeltnissen zu aendern.

Beduerfnisse sind weder falsch noch richtig, sondern subjektiv, von
Erfahrungen abhaengig. Ohne Einsicht der Beteiligten (es muss nicht die
ganze Menschheit sein) kannst du auch keine Verhaeltnisse aendern. Warten
musst du auf Einsicht genauso wenig wie auf geaenderte Verhaeltnisse, fuer 
beides gibts was zu tun. Es gibt keine Entweder-oder-Loesung, aber
vielleicht eine Sowohl-als-auch.

Gruss, Jobst

## CrossPoint v3.11 R ##

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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