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[ox] notizen zur keimform




Hallo allerseits!

Zur Keimformdebatte, die in ihrem Kern ja eine philosophische ist, kam
mir just ein Text vom Nestor des philosophischen Arbeitskreises der
Leipziger RLS, Prof. Helmut Seidel, über Ernst Bloch unter, aus dem
ich Euch die folgende Passage nicht vorenthalten will.

   aus H. Seidel: Ernst Blochs "Prinzip Hoffnung. Seine
   psychologischen und philosophischen Grundlagen.

   In: Linkes Denken im 20. Jahrhundert III.
   Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen 2001. Heft 7 der Reihe
   "Diskurs".

Blochs Ontologie des Noch-Nicht korrespondiert mit seinem
gnoseologischen Credo. Hegel hatte in seiner Vorrede zu seiner
Rechtsphilosophie gegen Platons Utopismus gesagt, dass es Aufgabe der
Philosophie sei, zu erkennen, was ist. Zugespitzt ließe sich sagen,
dass Bloch die Aufgabe des philosophischen Bewusstseins im Erkennen
dessen sieht, was noch nicht ist. "Marxistisches Wissen bedeutet, die
schweren Vorgänge des Heraufkommens treten in Begriff und Praxis".
Dass die Wissenschaften Seiendes als Gewordenseiendes zu erkennen
haben, ist für Bloch nicht das Problem.  Philosophische Erkenntnis
aber, die bei der Erkenntnis des Seienden als Gewordensein, des Wesens
als Gewesenheit stehenbleibt, ist der Ananemsis verpflichtet, bleibt
positivistisch, kritik- und perpspektivlos, kontemplativ-antiquarisch,
weil sie Gegebenes nicht überschreitet.  Die Erkenntnis einer Welt
dagegen als einer, die voll Anlage zu Etwas, Tendenz auf Etwas, Latenz
von Etwas ist, muss Gegebenes überschreiten, wenn es Perspektive,
Aktivität, Hoffnung und Parteilichkeit für das Novum begründen will.
Im Novum aber hat das Wohin des Wirklichen seine genaueste
Gegenstandsbestimmtheit.

Wesentlichste Funktion des Bewusstseins im historisch-
gesellschaftlichen Lebensprozess ist daher nicht die Erinnerung,
sondern die Antizipation. Antizipierendes Bewusstsein überschreitet
nicht nur die Grenzen der Gewordenheit, sie sucht auch in der
Erinnerung selber nach Spuren, nach Nicht-Abgegoltenem, nach Zeichen
in der Geschichte, die auf ein Noch-Nicht-Gewordenes hindeuten. Blochs
umfangreiches Werk, vor allem seine Leipziger Vorlesungen zur
Philosophiegeschichte und sein Abriss einer Geschichte der
Sozialutopien sind dieser "Spurensuche" gewidmet.

Blochs Kernsatz lautet: Denken heißt Überschreiten. Überschreiten
heißt: Das real Gegebene und das im Bewusstsein Festgemachte zum
Fließen zu bringen, starre Grenzen zu durchbrechen, nach vorn
aufzubrechen. Im innersten Kern seiner Philosophie steckt die Losung
eines antidogmatischen Programms. Kein Wunder, dass Dogmatker darauf
wütend reagierten. Dieses Überschreiten ist nun für Bloch, dessen
Verhältnis von Intensivem und Rationalem oben kurz zu charakterisieren
versucht wurde, ohne Träume von einer besseren Welt, ohne Fantasie und
Utopie nicht denkbar. Bloch wendet sich selbstverständlich gegen eine
ins Blaue hineinschießende Phantasie, aber ins vermittelt Blaue - als
Fernfarbe der Hoffnung - muss auch konkrete Utopie gehen.
Philosophisches Bewusstsein hat gerade Grund und Bedingungen dieses
Überschreitens aufzuhellen. Wirkliches Überschreiten steht im Einklang
mit der Tendenz, in der die natürlichen und historischen Prozesse
stehen. "Wirkliches Überschreiten kennt und aktiviert die in der
Geschichte angelegte dialektisch verlaufende Tendenz".

(alle Zitate aus Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung, Bd. I, Berlin
1955, S. 14 und 27)

NB von mir: Eine weitere interessante Antwort auf die Frage "Was ist
Nicht-Blau?"

-- 
Mit freundlichen Gruessen, Hans-Gert Graebe
________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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