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Re: [ox] Russische Avantgarde - Parallelen und Unterschiede zu heute



Hi KW!

Auch von mir noch ein Tütchen Senf. Mich würde interessieren, ob du da
wirklich einen Punkt hast.

2 weeks (15 days) ago KXX4493553 wrote:
Ich will nur so viel sagen:

Und jenseits des Name-Dropping :-) .

ohne die Vorarbeiten dieser modernen
KünstlerInnen gäbe es so etwas wie Oekonux überhaupt nicht,

Nun, Vorarbeiten im engeren Sinne kann mensch das ja wohl nicht
nennen: Niemensch hat m.W. auf das hin gearbeitet, was hier entstanden
ist - leider würde ich heute sagen, denn mir wäre es auch manchmal
lieber wenn wir auf mehr Material zurückgreifen könnten.

Vorarbeiten im weiteren Sinne haben natürlich jede Menge Menschen
geleistet. Die genannten KünstlerInnen, Jesus Christus, Gutenberg,
Karl Marx, Robert Kurz, die Nicht-Reagierenden vor drei Jahren in der
Krisis-Liste, meine Eltern - die Liste ist beliebig verlängerbar. Das
Problem mit dieser Liste ist nur, daß sie völlig beliebig ist. Mir
wäre daran gelegen rauszubekommen, was ausgerechnet an den russischen
Avantgarde-KünstlerInnen - die ich BTW auch für ein spannendes
Phänomen halte - jetzt *die* Parallele sein soll, die ein "Alles schon
mal da gewesen" begründet.

und es waren in
erster Linie KünstlerInnen - bildende Künstler, Architekten, Literaten -, die
sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Gedanken über das Verhältnis
von technologischer Entwicklung und der jeweiligen Gesellschaftsformation
machten - wie verzerrt und defomiert auch immer, aber immerhin.

Nun, Gedanken über diese Dinge haben sich unglaublich viele Menschen
gemacht. Insbesondere nachdem der gute Karl Marx da einige Thesen in
die Welt gesetzt hat, war das in weiten Kreisen politisch engagierter
Menschen ein Thema. Sicher auch besonders im Umfeld der großen
russischen Oktoberrevolution. Bestimmt läßt sich solcherlei aber schon
bei den alten Griechen finden - ist ja auch nicht so schrecklich
kompliziert auf so etwas zu kommen.

Dummerweise haben die zur Oktoberrevolution und lange danach
vorhandenden Produktivkräfte bekanntlich nicht dazu ausgereicht, eine
emanzipierte Gesellschaft zu schaffen - jedenfalls nicht, wenn du am
Kapitalismus die Entfremdung in der Arbeit kritisierst.

Um's mal zusammenzufassen: Ja, wir diskutieren hier auch über
(mögliche) Zusammenhänge zwischen technologischer und
gesellschaftlicher Entwicklung. Dabei wird oft betont, daß
emanzipative Schritte auf Grundlage solcher Zusammenhänge immer auch
politische sein müssen - zumindest ab einem bestimmten Punkt.
Ähnliches haben andere auch schon zu anderen Zeiten diskutiert - ok.
Die KünstlerInnen der russischen Revolution sind mit ihrem Projekt
grandios gescheitert (Gulag). Hoffen wir, daß die von dir gesehene
Parallele nicht auch auf uns zutrifft.

Was ich noch nicht sehe: Wo ist diese Parallelität jetzt so besonders?
Was bringt sie für unseren Diskurs? Und bitte überschütte uns nicht
mit neuen Beispielen, sondern antworte auf die Frage.

Und auch
damals wurde sich an den jeweils avanciertesten Techniken und an den
avanciertesten ästhetischen Prinzipien ausgerichtet.

Diese Analogie verstehe ich nicht. Wer sollen hier jeweils die
analogen HandlungsträgerInnen sein?

Ohne die Stilmittel der
modernen Kunst und nicht zuletzt des Films (Collage, Montage, Überblendung,
"Schock"-Ästhetik etc.) wären die heutigen Video-Clips und die Computerspiele
gar nicht denkbar.

Das mag sein. Aber auch hier kann ich nur hoffen, daß wir dieses
grandiose Scheitern nicht nachvollziehen - oder würdest du Doom für
einen revolutionären Akt halten?

Und was die Parallelen betrifft: das Verhältnis von
Politik, Macht und Intelligentsia wurde damals unter dem Stichwort "Macht und
Geist" abgehandelt, zumindest in Deutschland; die russische
Produktionsästhetik wollte mittels neuer Alltagsprodukte auch die sozialen
Beziehungen verändern und den "neuen Menschen" schaffen; Vertreter des
Bauhauses entwarfen utopische Städte, wo eine neuartige funktionale
Architektur für eine neue (damals noch sozialistische) Gesellschaft entstehen
sollte, usw.

Nun, da sind die eher das Gegenteil zu dem, was zumindest ich mir
vorstelle. Ich schätze an der Freien-Software-Bewegung *gerade*, daß
sie *kein* politisches oder sonstwie idealistisches Projekt ist. Nein,
die Freie Software entstand "naturwüchsig" (leider fehlt mir hier ein
passenderes Wort :-( ) aufgrund einer bestimmten
Produktivkraftkonstellation, vor allem aber aufgrund bestimmter
Bedürfnisse und von unten: Einerseits Bedürfnisse der
Computer-NutzerInnen, die gute Programme brauchen, andererseits aber
auch ein technisch-fachliches "Bedürfnis" des Produkts Software, daß
im Freien eben besser gedeiht als im Proprietären. Hier hat keine
Avantgarde dagesessen und den besseren "neuen Menschen"
herbeigewünscht oder -phantasiert. Nein, konkrete, real-existierende
Menschen haben für je sich getan, was für je sie gut war - und damit
der Welt eine Produktionsweise gegeben, die ähnlich revolutionär sein
könnte wie die Umstellung auf das Geldsystem.

Hier würde ich also eher sagen, daß deine Analogie in die falsche
Richtung zeigt. Aber damals waren - dank Lenin? dank Marx? -
Avantgarde-Theorien ja sehr beliebt. Ich bin jedenfalls froh, daß die
Zeiten vorbei sind.

Und ist nicht die "Zaum"-Sprache Chlebnikovs so etwas wie der
Versuch, eine Art Programmiersprache (in heutiger Terminologie) zu schaffen?

Wenn ich das richtig verstanden habe, dann hat diese Sprache versucht
das vorwegzunehmen, was heute Werbung mit gewissem Erfolg schafft. Die
Analogie zur Programmiersprache sehe ich aber nicht. Immerhin hat der
gute Mann ja schließlich mit Menschen geredet - oder wollte er damit
auch einen Hochofen beschwören?

Und noch etwas. mich beschleicht das Gefühl (es ist, wie gesagt, vorläufig
nur ein Gefühl), dass ihr hier die "Zwei Kulturen"-Theorie reproduziert, d.
h. die strikte Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften, oder noch
genauer: die zwischen Humanwissenschaften und i. w. S. "kybernetischen"
Theorien.

Woher schleicht denn dieses Gefühl? Das finde ich aber sehr abstrus...

Informatik, garniert mit ein paar "passenden" Marx-Zitaten (in über
30 Bänden MEW ist immer was Passendes zu finden), befriedigt mich allein noch
nicht.

Würde mich auch nicht befriedigen - ist hier aber m.E. auch nicht. Ich
zitiere z.B. nie - u.a. mangels für solche Sachen ausreichender
Marx-Rezeption.

Ich will auch den Zaun zwischen Natur- und Geisteswissenschaftlern
einreißen,

Wer stellt ihn denn da hin?

so dass man sich in euren "Diskurs" einbringen kann.

Wer ist "man"?

Aber angenommen es gäbe diesen Zaun - was ich z.B. bei den vielen
philosophischen und psychologischen Referenzen, die hier immer wieder
kommen, nicht sehe - angenommen es gäbe ihn: Wie kann er jemenschen
hindern sich in unseren Diskurs einzubringen? Nach meiner Wahrnehmung
kann sich hier jedeR einbringen - je mehr sie zu sagen hat, desto
besser.

Aber das kann
deswegen nicht gelingen, weil sich ein Großteil der Debatten auf "proprietär
oder nicht proprietär - das ist hier die Frage" reduziert, z. T. in
Endlos-Debatten über irgendwelche juristischen Klimmzüge.

Tut es das? Wir überschreiten gerade die 3000er-Marke an Posts an
diese Liste. Ich glaube, mir wäre es aufgefallen, wenn dieser Trend so
wirkungsmächtig wäre.

Ich will die
Wichtigkeit dieser Debatten nicht in Frage stellen, aber für jemand wie mich,
der eben "aus einer anderen Ecke" kommt, ist das etwas frustrierend, zu
sehen, wie wichtige Aspekte völlig ausgeklammert eben, z. B. das
"Zwei-Kulturen"-Dilemma.

Nun, dann bring es ein. Wenn es für noch jemenschen auf der Liste
wichtig ist, gibt es sogar gute Chancen, daß es diskutiert wird - und
wenn nicht, dann nicht.

Das Lamentieren darüber, was Oekonux noch alles fehlt und was andere
gefälligst machen sollen, ist hier nicht so hip. Wenn sich auf der
Krisis-Liste nichts geändert hat, ist es da ja ausgesprochen en vogue.
Selbermachen - und selber denken! - ist hier dagegen sehr willkommen.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan
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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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