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Zeit (was: Re: [ox] WOS2 -- Wohlstand)



Hi,

warum nehmen sich die Leute nicht die Zeit?

Benni Bärmann wrote:
>>Es gibt aber keinen Grund Zeit so sehen zu müssen - vor allem nicht
>>ausschließlich unter diesem Blickwinkel. Vielleicht liegt hier ein
>>wichtiger Knackpunkt, daß wir uns noch viel stärker auch mental von
>>den Zumutungen der vorherrschenden Produktionsweise befreien müssen
>>und schauen müssen, wo tiefere Bedürfnisse liegen, die uns vielleicht
>>weniger krank machen, in jedem Fall aber mehr befriedigen. Bei Zeit
>>fällt es mir allerdings auch besonders schwer ;-) .
>
> "Zeit hat man nicht, Zeit nimmt man sich." Damit ist schon viel
> gewonnen, finde ich, wenn man sich das wirklich mal zu Ende denkt.
> Seit dem kommt mir die am häufigsten verwendete Ausrede "Keine Zeit"
> nur noch deutlich schleppend von den Lippen, was tatsächlich schon
> zu einer anderen Wahrnehmung von Zeit führt, finde ich.

Na ja, es ist ja nicht so, dass die Leute sich nicht Zeit für dies uns
das nehmen würden. Selbst die megagestressten, bedauernswerten
Manager/innen racken ja nicht rund um die Uhr. Sie nehmen sich auch Zeit
für das Fitnessstudio, das Luxusrestaurant und den Kurzurlaub auf Barbados.

Aber das alles ist "zugerichtete Zeit". Sie ist zugerichtet auf einen
Zweck: In der Wertmühle zu funktionieren. Und dazu gehört Erholung aka
Reproduktion der Arbeitskraft.

Die Frage ist also: Warum nehmen sich die Leute nicht die Zeit für
andere als die wertfunktionalen Tätigkeiten?

Da gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Sie laufen entweder darauf
hinaus, das mit den personalen Eigenschaften zu erklären oder bemühen
externe Determinanten. Personale Erklärungen sind sowas wie
"xy ist ein Workaholic" oder vornehmer: "xy hat eine warenförmige
Subjektkonstitution" und sowas. Externe Determinanten sind dann zum
Beispiel platte Sachen wie "so sind die Verhätnisse nun mal" oder
vornehmer "der Wertfetisch hat die Leute im Griff" etc. So bloss
beschreibend ist das ja auch nicht völlig falsch.

Eine wichtige Dimension, die ich schon öfter gebracht habe;-), fehlt da
aber: die der Gründe. Die Leute, jeder Mensch, entscheidet sich, etwas
zu tun oder zu lassen, und dafür hat er/sie individuelle Gründe. Die
Menschen sind also weder bloß innen- noch aussengetrieben, sondern sie
verhalten sich zu ihrem "Innern" und dem "Außen" und entscheiden sich dann.

Die Frage lautet also nun: Warum entscheiden sich die Leute immer
wieder, ihre Lebenszeit als "zugerichtete Zeit" zu verausgaben?

Eine naheliegende Antwort wäre: In dieser Gesellschaft kann der Einzelne
sein/ihr Leben nicht anders erhalten als über Verausgabung von
zugerichteter Zeit (Hirn, Nerv etc. lasse ich mal weg, hängt da aber
unmittelbar dran). Aber warum dann aber bei vielen in einem derartig
extensiven Maße? Nach meinem Eindruck: Weil die Anforderungen auch so
sind. Die Anforderungen haben in den letzten 20 Jahren unglaublich
angezogen. Es gibt immer weniger Nischen, in denen die Zeit nicht
zugerichtet ist. Wenn ich mein Niveau halten will, muss ich mitziehen.
Sonst droht Absturz. Und Absturz ist sehr relativ, für einen Manager
kann das schon eine Versetzung sein.

Ein weiterer wichtiger Grund ist: Nur arbeitend, also nur in den
Strukturen zugerichteter Zeit, kann ich meine Gesellschaftlichkeit
leben. Das hatte StefanMn irgendwann mal so nett dargestellt: Nicht erst
wenn die Individuen zu einem Haufen zusammenkommen, entsteht
Gesellschaft, sondern die Gesellschaftlichkeit ist Teil jedes
Individuums. Die Frage ist nur wie es diese Gesellschaftlichkeit
entfalten kann, wie es sich vergesellschaften kann. Und da ist derzeit
nichts anderes möglich als eben in den Formen der zugerichteten Zeit. Je
mehr ich meine Gesellschaftlichkeit entfalten will, desto stärker die
Zurichtung.

Was nämlich fehlt, ist die Vorstellung, das und wie es anders gehen
kann. Der Verweis auf die Freie Software ist wirklich das einzige reale
Beispiel. Aber es ist auch durchsetzt von Zurichtungen, das wissen wir alle.

Na, soweit mal meine Überlegungen.

Ciao,
Stefan

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