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[ox] Dschungel, Version 2



Hi alle,

die zweite Version des "Dschungel" liegt vor, hier komplett. Neben kleineren 
Änderungen in den vorhandenen Absätzen ist v.a. der Absatz "Die Grenzen der 
Freien Kooperation" neu hinzugekommen. Damit ist die kritische Aspekt verstärkt 
worden, während ich die grundsätzliche Aussage beibehalten habe: Ich halte die 
"Freie Kooperation" für grundsätzlich "anschlussfähig", was die notwendige 
Kritik voraussetzt.

Ciao,
Stefan

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Der wilde Dschungel der Kooperation

Maintainer: Stefan Meretz, Version 2, 14.11.2001

Quelle: http://www.opentheory.org/dschungel/v0002.phtml

(1) Christoph Spehr hat eine postmoderne große Erzählung vorgelegt, eine Theorie 
der Freien Kooperation. Noch vor einigen Jahre hätte ich seinen Text schnell 
beiseite gelegt: zu unscharfe Begriffe, zu unanalytisch, zu unökonomisch. Heute 
erkenne ich, dass diese Schwäche auch seine Stärke ist, denn der Text vermag 
Menschen anzusprechen, die eher scharfe, analytische und ökonomisch begründete 
Texte beiseite legen. Er spricht auch mich an, denn ich <i>bin</i> das nicht, 
was ich als <i>Form der Erkenntnis</i> bevorzuge.

(2) Wir reden über die gleiche Welt in unterschiedlichen Sprachen. Diese 
Sprachen vermögen je unterschiedliche Dinge besonders und andere weniger gut 
sichtbar zu machen. Sie sind potenziell transformierbar, sicherlich in Grenzen. 
Hätte ich früher die Unterschiede und Defizite hervorgehoben, um die Schärfe und 
Stärke meiner eigenen Sprachwelt hervorzuheben, so kann ich heute die 
Gemeinsamkeiten herausholen und dadurch ein gemeinsames Lernen einleiten. 
Wenigstens bei mir. Mir wird dabei klar, dass der alte, abgrenzende Modus 
strukturell dem Modus der warenproduzierenden Gesellschaft entspricht, in der 
sich der Einzelne stets auf Kosten anderer behauptet. Ein integrierender Modus 
hingegen guckt erst einmal auf die gemeinsame Schnittmenge, Er erfordert viel 
mehr Anstrengung, die Übersetzung zu leisten, weil beim Übersetzen das eigene 
Gedachte in einer anderen Weise herausgefordert wird, als in der bloße 
Abgrenzung. Von dort aus werden auch die Unterschiede und Defizite wesentlich 
deutlicher. Das ist der Modus einer Freien Gesellschaft, in der die Entfaltung 
des Anderen die Voraussetzung für je meine Entfaltung ist. Dazu später mehr. 
Zunächst ein wenig »Übersetzung«.

Kooperation

(3) Der Begriff »Kooperation« darf nicht normativ verstanden werden. Kooperation 
ist weder gut noch schlecht, Kooperation ist Kooperation. Was ist aber 
Kooperation? Kooperation ist eine bestimmte Form interpersonaler Aktivität. 
Nicht jede interpersonale Aktivität ist Kooperation (z.B. Sexualität). 
Kooperation nutzt und bezieht sich auf gesellschaftlich geschaffene Mittel und 
Strukturen. Beispiele: zusammen Abwaschen, zur Schule gehen, lohnarbeiten gehen, 
alle uns knechtenden Verhältnisse umstürzen. Die Reichweite solcher 
Kooperationen ist unterschiedlich. Wo in (der Theorie der) Freien Kooperation 
Aufzählungen stehen - von der Beziehung zwischen Zweien bis zur gesamten 
Gesellschaft -, dort bringe ich eine qualitative Differenzierung an. Nicht alle 
Kooperationen sind selbstähnlich. Ich will deutlich machen, dass ich im 
Nichterkennen der qualitativen Unterschiede von <i>personalen</i> Kooperationen 
und der <i>gesamtgesellschaftlichen</i> Kooperation in der Theorie der Freien 
Kooperation den wesentlichen blinden Fleck erblicke.

(4) Die Freie Kooperation wendet sich zurecht gegen die verbreitete Vorstellung, 
Gesellschaft sei komplex, während eine Kooperation in kleinem Rahmen einfach 
sei. Jede Kooperation hat die ihr eigene Komplexität, danach kann man die 
unmittelbare Kooperation in der Küche und gesamtgesellschaftliche Kooperation in 
der Tat nicht unterscheiden. Daraus aber abzuleiten, alle Kooperationen seien im 
Sinne der Selbstähnlichkeit prinzipiell nicht unterschiedlich, ist 
kurzschlüssig. Den Unterschied zwischen personaler und gesamtgesellschaftlicher 
Kooperation versteht man, wenn man versteht, was Gesellschaft ist.

Gesellschaft als Kooperation

(5) Menschen reproduzieren sich, in dem sie Stoffwechsel mit der äußeren Natur 
betreiben. Das tun Tiere auch. Doch im Unterschied zu Tieren geschieht der 
Stoffwechsel nicht unmittelbar, sondern vermittelt. <i>Unmittelbar</i> meint 
hier die Abwesenheit einer überdauernden, außerhalb der jeweiligen Individuen 
bestehenden Instanz, die für den Stoffwechsel genutzt wird: Tier - Umwelt. 
<i>Vermittelt</i> meint demgegenüber die Anwesenheit einer solchen Instanz: 
Mensch - <i>Gesellschaft</i> - Welt. Zwischen den individuellen Menschen und die 
Welt schiebt sich die Gesellschaft als Ebene, die allgegenwärtig ist. Sie ist 
zwar konkret präsent - etwa als gesellschaftliches Produkt »Buch« - und doch 
abstrakt: Niemand kann sie anfassen. Deswegen entgleitet sie dem Denken leicht. 
Sie muss aktiv in der Erkenntnis reproduziert, <i>erkannt</i> werden.

(6) Folgende Aspekte von Gesellschaft, die <i>gleichzeitig</i> gelten, sind 
wichtig:
- Gesellschaft wird zwar von Menschen »gemacht«, ist in ihrer Existenz und
  Entwicklung aber nicht von konkreten Einzelnen festlegbar: Sie entwickelt
  sich nach eigenen Gesetzen.
- Die Gesetze beschreiben die Eigenlogik der gesellschaftlicher Entwicklung,
  nicht aber ein »Ziel«: Die Entwicklungsrichtung ist genuin offen.
- Die Gesellschaft ist das Medium, in dem sich alle Menschen bewegen: Die
  je individuelle Existenz ist gesamtgesellschaftlich vermittelt.
- Die Fähigkeit, sich individuell in die Gesellschaft hineinzuentwickeln,
  sich zu vergesellschaften, ist Teil der menschlichen Natur: Nicht der
  ungesellschaftliche Mensch wird »sozialisiert«, sondern der
  gesellschaftliche Mensch schafft das Soziale.
- Gesellschaft gibt es, solange es Menschen gibt, sie hängt nicht von
  Einzelnen ab: Die Gesellschaft besteht überhistorisch und überindividuell.

(7) Die Gesellschaft ist demnach ein besonderer kooperativer Zusammenhang, der 
sich von anderen Kooperationen unterscheidet. Es ist der abstrakte Zusammenhang, 
in dem sich die konkreten kooperativen Zusammenschlüsse der Menschen bewegen. 
Oder wie Klaus Holzkamp es formuliert: »Wir müssen unterscheiden zwischen 
gesamtgesellschaftlicher Kooperation als Wesensbestimmung der menschlichen 
Lebensgewinnungsform überhaupt und Kooperationen auf Handlungsebene als 
interpersonalem Prozess zwischen Individuen.« (1983, 325)

(8) Es ist u.U. verwirrend, dass beides, der personale Zusammenschluss und der 
übergreifende und überdauernde Zusammenhang, als »Kooperation« bezeichnet 
werden. Wenn ich den Begriff der <i>gesamtgesellschaftlichen Kooperation</i> 
verwende, dann meine ich diesen abstrakten und sich eigengesetzlich 
reproduzierenden Zusammenhang der Gesellschaft. Demgegenüber bezeichne ich die 
konkreten personalen Zusammenschlüsse als <i>personale Kooperationen</i> oder 
schlicht auch nur als <i>Kooperationen</i>. Erkenntnistheoretisch handelt es 
sich hier folglich um zwei unterschiedliche analytische Bezugsebenen: um die 
<i>gesellschaftstheoretische</i> und die <i>individualtheoretische</i> Ebene.

Gesamtgesellschaftliche Kooperation

(9) Die gesamtgesellschaftliche Kooperation ist überindividuell andauernd. Sie 
ist nicht verhandelbar. Sie kann nicht verlassen werden, die je individuelle 
Beteiligung unterscheidet sich nur in ihrem Vermittlungsgrad. Der individuelle 
Ausstieg ist identisch mit dem Ende der eigenen Existenz - ein einseitiger, 
hoher »Preis«. Dies gilt genauso, wenn ich an die Stelle der Individuen 
personale Kooperationen setze. Das Ende gesamtgesellschaftlicher Kooperation ist 
identisch mit dem Ende der Menschheit.

(10) Die Unverhandelbarkeit gesamtgesellschaftlicher Kooperation hat für den 
Einzelnen einen eminenten Vorteil. Da sie überindividuell und überdauernd 
besteht, wird meine Existenz auch dann miterhalten, wenn ich mich an der 
gesamtgesellschaftlichen Kooperation nicht beteilige. Diese allgemeine Aussage 
ist nicht zu verwechseln mit dem konkreten, tausendfach realen Existenzentzug. 
Der Existenzentzug ist keine Eigenschaft gesamtgesellschaftlicher Kooperation 
überhaupt, sondern Ausfluss historisch konkreter gesellschaftlicher 
Kooperations<i>formen</i>. Aus der prinzipiellen Eigenschaft, die je eigene 
Existenz bedingungsunabhängig erhalten zu können, leitet sich die grundsätzliche 
Möglichkeit ab, eine gesellschaftliche Form zu finden, in der die grundsätzliche 
Potenz gesellschaftlicher Kooperation auch konkret und für jeden Einzelnen 
wirksam entfaltet wird. Die Entfaltung aller Menschen ist also keine bloß 
utopische Idee, sondern genuine Potenz gesamtgesellschaftlicher Kooperation.

(11) Mir ist hier folgendes wichtig: Durch die Entkopplung eigener Existenz von 
der Beteiligung an gesamtgesellschaftlicher Kooperation verfügt der Mensch über 
eine unhintergehbare <i>Möglichkeitsbeziehung</i> zur Realität. Sein Handeln ist 
nicht festgelegt, er bewegt sich stets in Möglichkeitsräumen. Der Mensch kann 
Wollen. Das gilt auch für personale Kooperationen. Der Möglichkeitsraum wird 
ganz entscheidend durch die jeweilige gesellschaftliche Form bestimmt. Sie 
bildet das Medium, in dem wir uns bewegen: handelnd, denkend, fühlend. Dieses 
Medium nicht zu thematisieren in einer Theorie vom Handeln der Menschen, ist in 
etwa so blindfleckig wie über das Schwimmen zu theoretisieren, ohne über das 
Wasser zu sprechen. Die gesamtgesellschaftliche Kooperation ist das Wasser, in 
dem die personalen Kooperationen schwimmen - so sie das Schwimmen gelernt haben. 
Die Theorie der Freien Kooperation kann eine Theorie vom Schwimmen-lernen 
werden.

(12) Die Stärke der Theorie der Freien Kooperation ist, dass sie sich mit einem 
blinden Fleck anderer emanzipatorischer Theorien sehr ausführlich befasst: Sie 
spricht über die Sphäre des gesellschaftlich vermittelten Handelns, über den so 
schwierig thematisierbaren Vermittlungsraum zwischen dem Einzelnen, dem 
Individuum, und dem großen Ganzen, der Gesellschaft. Sie diskutiert den je 
konkreten Möglichkeitsraum, also all die Handlungsmöglichkeiten, über die ich 
verfüge auch ohne eine befreite Gesellschaft vorauszusetzen. Sie spielt heute 
und verweist nicht auf ein imaginiertes Morgen. Sie ist dabei weder normativ 
(»du sollst...«) noch moralisierend (»sei ein guter Mensch...«), sondern sie 
spricht über den Alltag, den ganz persönlichen und den emanzipatorischer 
Bewegung. Sie würde jedoch ein Mehr an Kraft gewinnen, redete sie auch über das 
Wasser, in dem sie schwimmt.

Der kybernetische Dschungel der Warenproduktion

(13) Die heutige gesamtgesellschaftliche Kooperation hat die Form einer 
Warenproduktion - auch bekannt unter dem Namen »Kapitalismus«. Das ist ein 
ziemlich hinterhältiges Konstrukt. Obwohl »eigentlich« die gesellschaftliche 
Kooperation jedem die Möglichkeit der freien Entfaltung bieten könnte, geschieht 
Entfaltung in der Warenproduktion auf Kosten Anderer. Ursache und Antrieb ist 
kein böser Wille, obwohl selbiger nicht selten auftritt, sondern ist die 
spezifische Eigengesetzlichkeit der Warenproduktion. Das Win-Loose-Prinzip ist 
dieser gesellschaftlichen Kooperationsform eingeschrieben. Das fiese ist: weil 
ich mein Leben nur vermittels <i>dieser</i> Kooperationsform erhalten kann, 
<i>muss</i> ich sie gleichzeitig reproduzieren: »Wir nehmen unser Gefängnis 
überall hin mit, wohin wir auch gehen, in jedes konkrete Verhältnis. Und das 
Ausmaß, in dem wir in Wirklichkeit versklavt sind, ist weit totaler als das 
jeder antiken oder bürgerlichen Sklavenhaltergesellschaft vor uns« (S. 16).

(14) Produkte werden im Kapitalismus als Wertdinge hergestellt, denn im Tausch 
interessiert nicht ihre konkrete Sinnlichkeit, sondern nur ihr Wertsein. Das 
produktive Tun nimmt folglich die Gestalt abstrakter Arbeit an. Ware, Wert, 
Geld, Arbeit sind unsinnliche Abstrakta, die sich selbst organisierend bewegen, 
wobei jede Bewegungsrunde auf erweitertem Niveau stattfinden muss. Die 
Arbeitenden, gleich, ob als Funktionäre der Wert-Selbstbewegung oder als 
Verkäufer ihrer Arbeitskraft, exekutieren die unerbittliche Eigenlogik dieser 
Form gesellschaftlicher Kooperation in der Konkurrenz. Die Eigengesetzlichkeit 
ist nicht verhandelbar, und ob ich rausgehe, ist zwar meine Wahl, einen Einfluss 
auf die Gesetze der Kooperationsform habe ich damit jedoch nicht. Die Logik ist: 
Ich behaupte mich nur dann, wenn sich andere nicht behaupten. Meine Durchsetzung 
erfolgt notwendig auf Kosten Anderer. Das gilt für Einzelne wie für personale 
Kooperationen. Was uns heute als Win-Win-Kooperationen präsentiert werden, sind 
in Wahrheit Win-Win-<i>Loose</i> Verhältnisse: Es gibt <i>kann nicht</i> nur 
Gewinner geben, es <i>gibt immer</i> auch Verlierer.

(15) Es ist der klassische Fall einer erzwungenen personalen Kooperation: 
»Herrschaft ist erzwungene soziale Kooperation. Die Kooperation ist erzwungen, 
weil die eine Seite sich nicht aus ihr lösen kann, weil sie nicht darüber 
bestimmen kann, was sie einbringt und unter welchen Bedingungen, weil sie keinen 
oder nur geringen Einfluss auf die Regeln der Kooperation hat.« (S. 16) Nur 
leider kann ich der gesamtgesellschaftlichen Zwangskooperation nicht entkommen. 
Es fehlt gewissermaßen der Adressat meines Widerstands: Der Ober-Erzwinger, der 
Meta-Herrscher, ist keine Person, sondern eine sich selbst reproduzierende und 
totalisierende »kybernetische Maschine« - und mit »Maschinen« ist schlecht zu 
verhandeln.

(16) Im kybernetischen Dschungel der Warenproduktion ist der wilde Dschungel der 
Freien Kooperation am Ende angelangt, weil es um die Wurst geht. Wie in keiner 
anderen historischen gesellschaftlichen Kooperationsform, ist hier die je 
individuelle Reproduktion mit der Reproduktion der totalitären Warenproduktion 
verkoppelt. Wenn ich »drin« bin, muss ich die Logik denkend und handelnd 
reproduzieren - oder ich bleibe nicht länger »drin«. Die Logik rückt mir auf den 
Pelz, ich muss sie alltäglich nachvollziehen, mitdenken, erfühlen, ausführen. 
Sich auch nur denkend dort hinauszubegeben, ist schon ein heroischer 
Widerstandsakt. Viele verzweifeln vorher oder werden zynisch.

(17) Dennoch: Das Hinausbegeben ist möglich, teilweise, schrittweise, nicht nur 
denkend, sondern auch fühlend und handelnd. Es geht darum, die Möglichkeiten 
aufzumachen, um die je eigene und die gemeinsame Handlungsfähigkeit zu erweitern 
- auch unterhalb der kompletten Änderung des totalitären Zusammenhangs 
kybernetischer Warenproduktion. Die Freie Kooperation stärkt einem dabei den 
Rücken.

Allgemein- und Partialinteressen

(18) Die Freie Kooperation beginnt hier und heute. Eine Kooperation muss sich 
jetzt als besser erweisen, es muss sich in und mit ihr besser leben als ohne 
sie, es muss sich »lohnen«: »Unter Gleichen definieren wir 'es lohnt sich' als: 
'Diese Kooperation ist besser für mich als wenn ich sie nicht hätte'. Wir 
definieren 'es lohnt sich' <i>nicht</i> als: 'Diese Kooperation lohnt sich, weil 
ich dir weniger gebe als du mir'« (S. 14). Dennoch handelt es sich nicht einen 
»Tausch«, der etwa »gerecht« sein solle. Darum geht es nicht. Es geht nur darum, 
dass die Kooperation so beschaffen ist, dass sich niemand auf je meine Kosten 
durchsetzt. Ob das gelingt, ist Sache der Kooperation und der Vereinbarungen in 
ihr.

(19) Freie Kooperationen basieren auf gemeinsamen Eigeninteressen, während 
erzwungene Kooperationen in Partialinteressen gründen. Die Gemeinsamkeit in 
einer freien Kooperation entsteht nicht dadurch, dass alle die gleichen 
Interessen verfolgen, sondern dadurch, dass sich die <i>je eigenen</i> 
Interessen in der Kooperation bewegen und entfalten lassen. Nicht die 
Übereinstimmung ist wichtig, sondern die Bewegung in der Unterschiedlichkeit. 
Damit das geht, müssen die 3 Kriterien freier Kooperationen erfüllt sein: »In 
einer freien Kooperation kann über <i>alles</i> verhandelt werden; es dürfen 
<i>alle</i> verhandeln; und es <i>können</i> alle verhandeln, weil sie es sich 
in ähnlicher Weise <i>leisten</i> können, ihren Einsatz in Frage zu stellen.« 
(S. 22).

(20) Die beiden Bewegungsmodi personaler kooperativer Zusammenschlüsse lassen 
sich noch schärfer formulieren: Freie Kooperationen sind solche, in denen die 
Entfaltung des Einzelnen die Entfaltung der Anderen erfordert. Erzwungene 
Kooperationen sind solche, in der Durchsetzung des Einzelnen auf Kosten der 
Anderen funktioniert. Auch dies ist wieder nicht normativ oder statisch zu 
verstehen, sondern als Grundtendenz ihrer jeweiligen Entwicklung. Die Theorie 
der Freien Kooperation als Theorie von der Überführung erzwungener in freie 
Kooperationen würde an Klarheit gewinnen, formulierte sie den hier zugespitzten 
Unterschied explizit.

(21) Ich will es noch ein Schritt weiterdenken: In erzwungenen Kooperationen 
werde ich mir selbst zum Feinde, denn der Andere bin <i>ich</i>, und das 
Durchsetzen-auf-Kosten-Anderer ist immer reziprok ein Durchsetzen auf 
<i>meine</i> Kosten. Das ist eine mögliche Erkenntnis, die ich in erzwungenen 
Kooperationen nicht zulassen kann, die ich personalisierend auf Andere schieben 
und verdrängen muss. Mit der Freien Kooperation als Alternative werden 
Handlungsoptionen sichtbar: Welche Regeln und Bedingungen kann, will und muss 
ich ändern, damit ich mich entfalten kann? Denn die Bedingungen sind es, die mir 
Entfaltung ermöglichen oder nicht. Welche Ausstiegssicherheit brauche ich, um 
Vertrauen in die Stabilität der Kooperation zu gewinnen? Denn nur die 
Kooperation, die ich ohne Beschädigung verlassen kann, will ich erhalten. Die 
Freie Kooperation lenkt den Blick auf Situationen und nicht auf Personen. Es ist 
eine Ermöglichungs- und keine Verhinderungsperspektive.

Die Grenzen der Freien Kooperation

(22) Die Theorie der Freien Kooperation beginnt heute. Weil sie das tut, bewegt 
sie sich notwendig in den Formen, die heute möglich sind. Sie greift zu Mitteln, 
die in dieser Gesellschaft funktionieren: Verhandlungen, Drohungen, 
Verweigerungen. Sie verwendet diese Mittel jedoch nicht, um eine Organisation im 
vorgeblichen Gesamtinteresse »stark zu machen«, sondern ihre Perspektive ist die 
des Individuums: Wie kann der Einzelne ermächtigt werden, zur Geltung zu kommen, 
wie kann er oder sie wieder »jemand sein« - »to be someone« - oder um es mit den 
Erfahrungen der Freien Software zu formulieren: Wie kann ich mich selbst 
entfalten? (vgl. dazu das Projekt Oekonux).

(23) Was die Gewerkschaft für das Kollektiv der abhängig Beschäftigten, ist die 
Freie Kooperation für den individuellen Menschen. Die warenproduzierende 
Gesellschaft, der übergreifende, unsere Freiheit verhindernde Zusammenhang, wird 
nicht überschritten. Es geht »nur« darum, den Einzelnen hier und heute 
handlungsfähiger zu machen, ihm oder ihr den Rücken zu stärken. Aber das ist 
unter den heutigen Bedingungen schon viel.

(24) Will die Freie Kooperation noch ein Mehr an revolutionärer Potenz gewinnen, 
will sie dem Vertrauen auf einen Prozess noch Ideen für einen Weg hinzufügen, 
muss sich sie die warenproduzierende Gesellschaft als unhintergehbare 
gesamtgesellschaftliche Zwangskooperation erkennen und gedanklich überschreiten. 
Der »freie Prozess« wäre sonst im Zweifel nur die Wiederholung des ewig Gleichen 
mit den postmodernen Mitteln der Freien Kooperation. Viele Fundamental-Kritiken 
betonen zurecht diesen Punkt.

(25) Die entscheidende Grenze - praktisch wie in der Theorie - ist die 
gesamtgesellschaftliche Kooperation in warenproduzierender Form, die <i>als 
solche nicht</i> in eine gesamtgesellschaftliche <i>freie</i> Kooperation 
überführbar ist. Sie ist nur als Ganzes aufhebbar, denn ihre Regeln sind nicht 
Ergebnis einer Verhandlung, sondern setzen sich gleichsam als zweite Natur 
hinter dem Rücken der Beteiligten durch. Die Tatsache des 
»hinter-dem-Rücken-Durchsetzens« muss als Ganzes zur Disposition gestellt 
werden. Eine gesamtgesellschaftliche freie Kooperation, eine freie Gesellschaft, 
wirft noch ganz andere Fragen auf, als dies personale Kooperationen unterhalb 
der gesamtgesellschaftlichen Ebene tun.

Der wilde Dschungel der Freiheit

(26) Die auf der Warenform basierende gesamtgesellschaftliche Kooperation, 
dieser sich selbst regulierende und reproduzierende und alles beherrschende 
Mechanismus, leistet in jedem Fall eines: Er vermittelt. Er stellt ein Medium 
bereit, in dem wir uns und den vermittelnden Zusammenhang dieser Form 
reproduzieren. Diese Form der Vergesellschaftung, so erzwungen und alles 
verschlingend sie auch sein mag, hat - wie jede überdauernde Vermittlungsform - 
eine individuell entlastende Funktion. Es ist gut, wenn sich Dinge auch ohne 
mein Mitdenken und Mitmachen hinter meinem Rücken fügen. Fatal an der 
»unsichtbaren Hand des Marktes« ist, dass sie Resultat eines entfremdeten, 
inhumanen Verwertungsprozesses ist, dass die Verwertung nur ihrer eigenen Logik, 
aber nicht meinen Bedürfnissen genügt.

(27) Die Warenform der gesellschaftlichen Kooperation aufzuheben, bedeutet 
Zerstörung und Bewahrung gleichzeitig. Zerstört werden muss die »subjektlose 
Herrschaft« der kybernetischen Verwertungsmaschine. Bewahrt werden muss die 
Funktion der entlastenden Vermittlung. Das ist »eigentlich« selbstverständlich, 
denn wie ich vorher darstellte, ist das ein Kennzeichen von Gesellschaft 
überhaupt. Dennoch ist es notwendig, sich das Selbstverständliche immer wieder 
klar zu machen, um die zunächst theoretisch zu beantwortende Frage klar 
formulieren zu können: Wie muss ein gesellschaftlicher Vermittlungsmechanismus 
beschaffen sein, der einerseits individuell entlastend, also selbstorganisierend 
ist, andererseits aber von den Menschen nach ihren Kriterien, Regeln und 
Bedürfnissen gesteuert wird?

(28) Diese Frage liest sich auf den ersten Blick wie ein nicht aufzulösender 
Widerspruch. Ist es nicht so, dass nur eine umfassende Kontrolle (gar durch je 
mich) gewährleistet, dass die Kriterien gesellschaftlicher Kooperation im 
Interesse der Menschen (also von je mir) erfüllt werden? Ist also 
gesamtgesellschaftliche Planung und zentrale Steuerung unumgehbar? - Nein, das 
hat sich nicht nur als real gewesenes Experiment erledigt, sondern es 
widerspricht auch fundamental den Prinzipien freier Kooperation: Jede zentrale 
Planung und Steuerung schafft sakrosankte Regeln, bedeutet Herumpfuschen in je 
meinem Leben.

(29) Ist es aber andererseits nicht so, dass jeder »sich selbstorganisierende 
Mechanismus«, sich irgendwann stets gegen die Menschen verselbstständigt? - 
Nein, das ist ein Kurzschluss. Das gilt nur für erzwungene Kooperationen, 
insbesondere natürlich für die der »subjektlosen Herrschaft« der 
warenproduzierenden Gesellschaft. Das gilt nicht für freie Kooperationen. Ich 
will zeigen, dass gerade hier die systemsprengende Kraft der Theorie Freier 
Kooperation liegen kann: Sie ermöglicht es, eine Vergesellschaftung jenseits von 
Ware, Wert, Geld, Markt und Staat zu denken.

Die freie Gesellschaft als freie gesamtgesellschaftliche Kooperation

(30) Ich hatte dargestellt, dass die Freie Kooperation auf der 
gesamtgesellschaftlichen Ebene an eine unverhandelbare Grenze stößt. Im 
Kapitalismus ist dies die subjekt- und endlose Verwertung des Werts, die den 
»selbstreproduktiven Kern« der warenproduzierenden Gesellschaft ausmacht. Auch 
in einer freien Gesellschaft wird es - wie in jeder Gesellschaft - einen solchen 
»selbstreproduktiven Kern« geben, nur wird seine Dynamik anders beschaffen sein. 
Die Fragen lauten nun also: Was kann ein solcher »selbstreproduktiver Kern« 
sein? Wie ist dann das Verhältnis der personalen Kooperationen zur dieser 
gesamtgesellschaftlichen Kooperation beschaffen?

(31) Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass durchaus auch personal-konkrete 
Vergesellschaftungsformen eine solche Dynamik konstituieren können. So war die 
»naturale Epoche« vor der Dominanz der warenproduzierenden Gesellschaften durch 
personale Abhängigkeitsverhältnisse bestimmt. Die Gesellschaft reproduzierte 
sich und ihre Herrschaftsformen über diese personalen Abhängigkeitsgeflechte. 
Diese waren durchaus sehr unterschiedlicher Gestalt: Sklaven/Sklavenhalter, 
Leibeigene/Feudale, Freie/Bürger etc. Davon unterscheidet sich qualitativ die 
Epoche abstrakter, »subjektloser Herrschaft« warenproduzierender Gesellschaften 
wie ich sie vorher beschrieben habe.

(32) Gewalt spielte in all diesen Formen der Vergesellschaftung eine zentrale 
»Vermittlungsrolle«, wobei die »Gewalt des Sachzwangs« z.B. der Märkte ungleich 
schwerer zu bekämpfen ist, als die Unterdrückung durch sinnlich erfahrbare 
Personen. So ist es kein Zufall, dass die personifizierende »Schuldzuweisung« 
mit all seinen rassistischen und auch antisemitischen Konnotationen in 
Gesellschaften »subjektloser Herrschaft« der gängige Modus der 
Konfliktaustragung ist.

(33) Für eine freie Gesellschaft ziehe ich daraus folgende Schlüsse:
- die gesamtgesellschaftliche Vermittelung ist personal-konkret strukturiert
- Träger der gesellschaftlichen Vermittlung ist die freie Kooperation
- Kern der freien Kooperation ist die Selbstentfaltung des konkreten
  einzelnen Menschen
- die je eigene Entfaltung hat die Entfaltung der Anderen zur Voraussetzung
- es ist je mein unmittelbares Eigeninteresse, die Entfaltungseinschränkung
  der Anderen zu verhindern

(34) Welche konkrete Ausprägungsform die Kooperationen haben, wie groß sie sind, 
wie sie ihre interne Struktur bilden, welche Regeln sie sich geben, wie sie sich 
mit anderen vernetzen - all das ist Sache der Kooperationen und der in ihnen 
tätigen Menschen. Die drei Prinzipien freier Kooperationen kommen erst in einer 
freien Gesellschaft voll zum Tragen, da erst hier die individuelle Existenz 
bedingungslos, also ohne Kopplung an eine zu erbringende Leistung erhalten wird. 
Erst dadurch wird die je individuelle Entfaltung auch angstfrei möglich, erst 
dadurch können die je individuellen Potenzen zum Tragen kommen, erst dadurch 
gewinnen Konflikte ihre Eigenschaft als Anstoß zu neuen Entwicklungen zurück.

(35) »Wir brauchen keine utopische Gesellschaft, um damit anfangen zu können. In 
gewissem Sinne ist es egal, wo wir anfangen. Die Frage ist nur, wie weit wir 
gehen.« (S. 40) - und wo wir lang gehen!

Literatur

(36) Gruppe Gegenbilder (2000), Freie Menschen in freien Vereinbarungen, Saasen: 
Eigenverlag. Internet: http://www.opentheory.org/gegenbilder

(37) Holzkamp, Klaus (1993), Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/M.: Campus.

(38) Projekt Oekonux, http://www.oekonux.de

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