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[ox] TELEPOLIS: Der Kongress diskutierte



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 Der Kongress diskutierte
 
 Marcus Hammerschmitt   04.06.2002 
 
 Über den Out of this world II - Kongress zu Science Fiction, Politik, 
Utopie 
 
 In Kim Stanley Robinsons Mars-Trilogie erstellen die Revolutionäre in 
großangelegten Endlosdiskussionen die politische und ökonomische 
Verfassung für einen erdunabhängigen Mars. Bei Out of this world II 
ging es etwas bescheidener und viel lockerer zu. 
 
 Die Verbesserung der Welt 
 
 Bremen ist nicht wie Hamburg. Bremen ist kleingemahlen, feingemahlen. 
Man kommt an und ist gleich da. In diesem Fall auf, im, am Sielwall. 
Eine bunte und harte Neighbourhood mit Berbern, Dönern, Headshops und 
bedenklich vielen Heilpraktikern. Am Tagungsort von [1]Out of this 
world herrscht der diskrete Charme der Antibourgeoisie: Nahezu 
einhundert Leute, einige davon aus Wien und Kopenhagen, treffen sich 
und besprechen die Verbesserung der Welt. 
 
 Ernsthafte bis drollige Vorschläge aus der ersten Runde: Die [2]freie 
Software und die Prinzipien, nach denen sie entsteht, müssten die Welt 
regieren. Oder: Man koppele doch kleinteilige Einheiten von der 
globalisierten Wirtschaft ab, das fördere die Befreiung im Lokalen. 
Oder, damit zusammenhängend: Ein anderes, [3]lokales Geld müsse her, 
das Vertrauen der locals in die selbstverwaltete Münze erzeuge von 
allein unerwartete Freiheitspotenziale. Es scheint, die Menschen, die 
solches im Zusammenhang mit Science Fiction sehen, diskutieren gern. 
Gespräche bis tief in die Nacht, wie früher. Unter anderem mit dem 
ehemaligen Offizier eines ehemaligen Ost-Geheimdiensts, der mir 
erzählt, wie es sich so anfühlte in den Steinmühlen des ehemaligen 
Sozialismus. 
 
 Spaziergang den Sielwall hinauf, die Weser. Am Ufer des Flusses ein 
übriggebliebenes Volksfest, komplett mit Hundescheiße, leeren 
Bierflaschen und übernächtigten Schaustellern. Auch Alternatives dabei: 
indianisches Essen, eine Hanfbäckerei, Rastafrisuren. Kleinteilig, 
bremisch. Auf grüner Anhöhe zur Altstadt hin: das [4]Kriegerdenkmal. 
Das ist allerdings groß. Die Lügenlyrik der stolzen Niederlage, in 
Sütterlin: 
 
    Und was wir an gültigen Sätzen gefunden
 Dran bleibt aller irdische Wandel gebunden
 Und unsere Töne, Gebilde, Gedichte
 Erkämpfen den Lorbeer im strahlenden Lichte       
 
 Was für eine Scheiße. Inmitten der depperten Großmaulereien steht auf 
einem Betonblock, der von kleinen, zerdrückten Steinlöwen getragen 
wird, die eigentliche Nachricht: 
 
    10000 Männer und Jünglinge zogen aus dieser Stadt in Krieg und Tod  
     
 
 Aber für wen? Und vor allem: Warum? Out of this world! Please! 
 
 Science Fiction - politische Utopie 
 
 Später habe ich etwas beizutragen zu der Frage, ob die Science Fiction 
beizutragen hat zur Verbesserung der Welt. Mein [5]Beitrag verneint 
das. Oder vielmehr antwortet er: Nicht direkt. Die Zukunft ist kein 
Leibgericht. Ich schreibe keine Kochbücher. Ich gebe ja zu, es ist ein 
bisschen widersprüchlich. Die Mars-Trilogie von Kim Stanley Robinson 
könnte meiner Definition nach eigentlich keine echte Science Fiction 
sein, weil sie eine echte Utopie ist. Das ist aber nicht wahr. Sie 
enthält sehr wohl einige Rezepte, zum Beispiel das [6]Rezept 
"Geschenkökonomie" und das Rezept [7]"genossenschaftlicher Sozialismus 
mit ökologischer Ausrichtung". 
 
 Wir stellen fest: Kim Stanley Robinson kann Kochbücher schreiben, die 
streckenweise begeistern. Ich argumentiere trotzdem gegen eine 
leichtfertige Verwechslung von Science Fiction und Utopie. (Während ich 
dies schreibe, wiederum mit dem Rücken zum Kriegerdenkmal, zieht auf 
der Weser ein Kutter zwei Ruderboote in Stellung, und dann wird nach 
Wikingerart gerudert, was das Zeug hält. Menschen sind seltsame Wesen 
und tun seltsame Dinge. Die eigentlichen Aliens sind wir selber). 
 
 Frigga Haug, Soziologin und Mitherausgeberin des 
[8]Historisch-Kritischen Wörterbuchs des Marxismus findet meine 
Ansichten grottenfalsch. Ich habe ja wohl den Abstand von Science 
Fiction und politischer Utopie künstlich aufgeblasen und unzulässig 
verallgemeinert. [9]Planet der Habenichtse von Ursula K. LeGuin zum 
Beispiel (zuvor inhaltlich vorgestellt von der Soziologin Bianca 
Gustafson) sei eine gelungene konkrete Utopie, weil 
wirklichkeitsgetreu, unideologisch, durchdacht, begreifbar. Warum kommt 
mir die Geschichte trotzdem durchsichtig konstruiert und die Denk- und 
Erzählbewegung propagandistisch vor? 
 
 Rüdiger Haude trägt [10]seine Gedanken zur Herrschaftsfreiheit in 
sogenannten primitiven Gesellschaften bei. Er regt an, die Science 
Fiction-Autoren sollten aus dem Studium dieser Gesellschaften 
utopistische Kreativität für ihre Romane schürfen. 
 
 Das Publikum ist von all dem nicht eingeschüchtert, schweigt nicht 
stille, muss nicht zum Jagen getragen werden, wie so oft. Man 
bezweifelt, behauptet, belegt. Die Diskussion ist lebhaft, aber völlig 
frei von der sattsam bekannten Rechthaberei der Linksradikalen. Es ist 
ein anderer Tonfall, ein anderer Umgang, als ich ihn kenne. 
 
 Warum überleben in der Science Fiction starke Frauen selten? 
 
 Und wie das so ist bei gelungenen Konferenzen: Eine Pause gibt es 
nicht wirklich. Beim Frühstück wird viel gelacht über linke 
Begriffsneurosen von einst ("demokratischer Zentralismus") und die 
deutsche Kriegerdenkmalskultur von heute. 
 
 Am Tagungsort befragen [11]Alexandra Rainer und Andrea zur Nieden die 
seltsame Tatsache, dass starke Frauen in der Science Fiction selten als 
solche überleben: Am Ende sind sie meistens klein und schwach. Oder 
tot. Die These: Nach der Offensive der Frauenbewegung in den 70ern sei 
die Subkulturindustrie dazu übergegangen, starke Frauen zu zähmen, 
entweder indem sie im Verlauf der Medienprodukte immer schwächer und 
handhabbarer würden, oder indem sie beim Kampf gegen eine projizierte 
monströse Weiblichkeit (bestes Beispiel: das Monster in "Alien") ihr 
Leben verlören. 
 
 Dann ist es vorbei. Ich schultere meinen Rucksack und fahre zum 
Bahnhof. Im Zug denke ich: Es war so freundlich. In Frankfurt fällt mir 
ein Bahnbediensteter auf, der allen Ernstes auf seinem Dienstbuch einen 
Aufkleber der Polit-Punkband [12]Slime spazierenträgt. Man könnte 
sagen, ein Potenzial sei besser als kein Potenzial. 
 
 Links 
 
 [1] http://www.outofthisworld.de/
 [2] http://www.oekonux.de
 [3] http://www.christiania.org/~ditlev/utopia/engelsk/comcur.htm
 [4] http://www-user.uni-bremen.de/~bremhist/img_0901/GEFALL~1.JPG
 [5] http://www.outofthisworld.de/ootw/2002/text_mh.htm
 [6] http://www.wosamma.com/mag/2.html
 [7] http://www.leibi.de/takaoe/84_20.htm
 [8] http://userpage.fu-berlin.de/~hkwmred/hkwm/
 [9] 
http://www.feministische-sf.de/einzelne_romane/fsf_planet-der-habenichts
e.html#Planet
 [10] http://www.graswurzel.net/242/rotbuch.shtml
 [11] http://www.outofthisworld.de/ootw/2002/text_ar.htm
 [12] http://www.slime.de/
 
 Artikel-URL: http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/konf/12662/1.html 
 
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