Message 04988 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT04726 Message: 12/13 L5 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

Aus der systematischen Soziologie: Begruendung der Herrschaft (was: Re: [ox] Aus der systematischen Soziologie: Das Herrschaftsphaenomen)



Liebe Liste!

Yesterday Stefan Merten wrote:
Wie gesagt folgt da noch einiges in dem
Buch, was ich gerne auch noch präsentieren möchte.

Dazu komme ich morgen hoffentlich - endlich.

Hier kommt's dann. Wer's nachlesen will: Der erste Teil findet sich
unter

	http://www.oekonux.de/liste/archive/msg04726.html

Einen Kommentar liefere ich noch nach.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

--- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< --- 8< ---

7.2.1. Inhaber der legitimen Macht

Es gibt vier wesentliche Begründungen für die Notwendigkeit von
Herrschaft, nämlich

1. es muß jemand vorhanden sein, der legitimerweise Macht gebrauchen
   darf,

2. das Sozialsystem muß zum Handeln befähigt werden,

3. der Standpunkt des Sozialsystems muß (möglichst institutionell
   geregelt) eingenommen werden,

4. das Sozialsystem muß integriert werden.

Das am häufigsten vorgetragene Argument zur Begründung der Herrschaft
besteht darin, daß es eine Einrichtung geben müsse, die legitimiert
sei, Macht auszuüben, um damit die Ordnung innerhalb des Sozialsystems
aufrecht zu erhalten. Danach hat die Herrschaft mit Hilfe der ihr zur
Verfügung stehenden Machtmittel dafür zu sorgen, daß die Gruppenziele
vor Augen geführt, eingeprägt und insbesondere, daß die für das
Sozialsystem wesentlichen Normen auch tatsächlich erfüllt werden. Die
Herrschaft gewinnt unter diesem Gesichtspunkt ihre Begründung aus der
Notwendigkeit der Regelung des sozialen Verhaltens im Hinblick auf die
Gruppenziele. Es muß eine Machtinstanz existieren, die in berechtigter
(legitimer) Weise durch Sanktionierungen die Befolgung der
Gruppenziele erzwingen kann. Dabei wird ausdrücklich oder
unausdrücklich auf die Grundbefindlichkeit des Menschen Bezug
genommen. Man nimmt vielfach an, daß der durchschnittliche Mensch
nicht in der Lage sei, die mehr oder weniger bedenkenlose Verfolgung
seines eigenen Interesses aufzugeben oder einzuschränken. So spricht
etwa Hobbes vom Menschen als "Wolf des Menschen" ("homo homini
lupus"). Ferner wird zur Begründung darauf hingewiesen, daß die
Verteilung der vorhandenen Güter, der Rechte und Pflichten in
sinnvoller Weise nur durch eine übergeordnete, mit besonderen
Machtmitteln ausgerüstete Instanz vorgenommen werden könne.
Schließlich wird das Argument genannt, daß Streitfälle unter den
Mitgliedern eines Systems geklärt werden müßten wozu es wiederum einer
übergeordneten Machtinstanz bedürfe. Die genannten Gründe lassen sich
zusammenfassen unter dem Aspekt der Notwendigkeit der Herstellung und
Aufrechterhaltung der berechtigten Normen, insbesondere der
Gerechtigkeit und des Schutzes der berechtigten Interessen der
Untergruppen sowie der Mitglieder.

Damit ist das in den Vordergrund gestellt, was an der Herrschaft für
das heutige zeitgenössische Bewußtsein besonders hervorsticht, nämlich
das Element der Macht und des Zwangs. Es ist jedoch zu fragen, ob
diese Sicht nicht einseitig, ja verkürzt ist, wenn man dem
Herrschaftsphänomen allein durch diese Begründung gerecht werden will.
Dazu ist bereits zu bedenken, daß die Herrschaft von den der
Herrschaft Unterworfenen grundsätzlich akzeptiert und gewünscht werden
kann. Das ist der Normalfall in allen Herrschaftsverhältnissen. Dieser
gilt in der Regel für alle Großgruppen, aber ebenso auch für die
Kleingruppen. Dafür gibt es z.B. auch in der Kleingruppenforschung
viele Beispiele. Zwar tritt Herrschaft in den Kleingruppen in einer
reduzierten Form gegenüber den Großgruppen auf, dennoch kann man auch
hier von Herrschaft reden, wenn die wesentlichen Herrschaftsfunktionen
erfüllt werden. Herrschaft ist also von der Anerkennung und von der
Zielsetzung her gruppenbezogen. Ja, sie durchdringt das gesamte Leben
in einem Sozialsystem.

Jedenfalls ist die Herrschaft keinesfalls zu reduzieren auf die
Funktion der Machtausübung und damit auf das Zwangsmoment, das im
Befehl zum Ausdruck kommt und Gehorsam verlangt. Die Definition von
Max Weber, wonach die Herrschaft "die Chance ... für spezifische
(oder: für alle) Befehle bei einer angebbaren Gruppe von Menschen
Gehorsam zu finden", ist, findet sich immer wieder in den
verschiedensten Veröffentlichungen zustimmend zitiert und kaum jemals
diskutiert. Dabei ist diese Definition ein Musterbeispiel einer
unzureichenden Definition. Sie erfaßt das Phänomen nicht und ist
außerdem einseitig. Die Chance (Häufigkeit, Wahrscheinlichkeit),
Gehorsam zu finden, setzt bereits ein Herrschaftsverhältnis voraus.
Die Durchsetzung der Herrschaft ist aber etwas ganz anderes als das
Herrschaftsverhältnis als solches. Die Einseitigkeit liegt darin, daß
der Definition das institutionelle Moment vollständig fehlt, das Max
Weber sonst in seiner Herrschaftstheorie so ausführlich zur Geltung
kommen läßt. Um das Phänomen der Herrschaft besser zu erfassen, müssen
weitere Überlegungen aufgenommen werden, welche die
System-(Gruppen-)bezogenheit der Herrschaft noch stärker zum Ausdruck
bringen.

7.2.2. Das Handeln der Gruppe

Es wird vielfach die Meinung vertreten, daß eine Gruppe als solche
nicht handeln könne. Eine Gruppe sei ein gedachtes Gebilde, das keine
eigene Realität besitze. Handeln sei grundsätzlich nur Individuen
möglich.

Auf den ersten Blick ist diese Meinung überaus plausibel, denn ein
geistiges Gebilde, das sich nur im Bewußtsein von Menschen befindet,
kann nicht von sich aus Aktivitäten ausstrahlen oder gar in
Kommunikation mit anderen Handelnden treten. Wenn z.B. eine Gruppe
(Arbeitsgruppe, Firma) ein Haus baut, stellt zwar nicht jeder einzelne
der Gruppe ein Haus her, sondern jeder wirkt im Rahmen der Gruppe
daran mit. Dennoch bleibt es zweifelhaft, ob die Gruppe in diesem
Beispiel als Gruppe handelt. Aber hier liegt ein unvollständiger
Gruppenbegriff vor, der unter einer Gruppe nur deren Mitglieder
versteht. Die Gruppe besteht ja nicht nur aus ihren Mitgliedern,
sondern auch aus ihren Normen, Verhaltensmustern, Traditionen,
technischen Mitteln usw. Diese Gesamtheit handelt offenbar im
genannten Beispiel nicht, sondern einige oder alle Mitglieder handeln
in Übereinstimmung mit der Gruppe und ihren Zielen, handeln als
Mitglieder.

Wenn es also Gruppenhandeln im vollen Sinne geben sollte, so müßte
alles, was zu einer Gruppe gehört, betroffen und in das Handeln
einbezogen sein. Das kann z.B. dann der Fall sein, wenn eine Gruppe
sich als solche zu etwas verpflichtet. Eine Familie verpflichtet sich
etwa in ein anderes Haus umzuziehen; eine Gemeinde verpflichtet sich
ein Schwimmbad zu erstellen; ein Verein verpflichtet sich zur Zahlung
von Schadensersatz; ein Staat verpflichtet sich zur Respektierung von
bestimmten Grenzen. Verpflichtet sich in diesen Beispielen jeweils
jedes einzelne Mitglied persönlich? Wohl kaum. Dennoch ist jedes
Mitglied verpflichtet, ja alles, was zur Erfüllung der Verpflichtung
rechtmäßiger Weise dienen kann, ist in die Verpflichtung einbezogen,
einschließlich der sachlichen Mittel.

Ebenso können Gruppen außenstehende Gruppen oder Individuen zu etwas
verpflichten und auch selbst Verpflichtungen gegenüber diesen
ausdrücklich übernehmen. Damit ist nichts anderes gesagt, als das
Gruppen Verträge schließen können. Ferner können Gruppen Meinungen
äußern, Drohungen abgeben und Gewalt ausüben. Darin besteht das
Gruppenhandeln nach außen.

Zum Abschluß von Verträgen, zur Abgabe bindender Erklärungen für eine
Gruppe sind immer nur wenige Personen oder nur eine einzige Person
berechtigt (legitimiert). Durch diese wird die Gruppe vertreten, durch
diese handelt die Gruppe. Es muß daher festgestellt werden, daß eine
Gruppe sehr wohl als Gruppe zu handeln vermag, allerdings nur durch
Individuen. Diese nehmen gerade darin, daß sie für die Gruppe handeln,
die Aufgabe der Herrschaft wahr. Keinesfalls handelt die
Herrschaftsperson nur im Auftrag der Gruppe, weil dann die
auftraggebende Gruppe ohne Herrschaft gedacht werden müßte.

Es gibt allerdings des Gruppenhandelns als das Abgeben von bindenden
Willenserklärungen wie das Abschließen von Verträgen. Die Gruppe
vermag auch nach innen, in Richtung auf ihre Mitglieder zu handeln.
Dazu gehört z.B. die Bestrafung.

7.2.3. Der Standpunkt der Gruppe

Wenn jemand die Gruppe als Gesamtheit vertritt und an ihrer Stelle
handelt, so muß es einen Standpunkt der Gruppe geben, auf den er sich
stellen kann, um von hier aus erkennen und im Interesse der Gruppe gut
und richtig handeln zu können. Ist es möglich, seinen individuellen
Standpunkt zu verlassen und einen verallgemeinerten Standpunkt
einzunehmen? Die notwendigen Überlegungen wurden oben bereits geführt
[an anderer Stelle des Buches: 2.2.4.1. Standpunkte im System]. Danach
läßt sich zwischen individuellen und systematischen Standpunkten
unterscheiden. Ein systematischer Standpunkt ist der Standpunkt eines
Systems, das mehrere individuelle Standpunkte zusammenfaßt. Geht man
auf den Begriff der Relation zurück, so ist daran zu erinnern, daß der
Relator als Einheitsstifter eines Sozialsystems identisch ist mit dem
Inbegriff der sozialen Normen des Systems und den Standpunkt des
Systems konstituiert.

Der systematische Standpunkt findet sich grundsätzlich in allen
Sozialeinheiten, sei es eine Freundschaft, ein Verbrechersyndikat,
eine Feuerwehreinheit oder ein Staatenbund. Dieser Standpunkt stellt
im Grunde den Relator dar, der die Gesamtheit der sozialen Normen
zusammenfaßt. Jedes Mitglied kann sich auf diesen Standpunkt stellen,
um von hier aus zu erkennen und zu handeln. Die Einnahme eines
systematischen Standpunkts ist für die Gewissensbildung und das
moralische Handeln überhaupt unentbehrlich. Jede Feststellung, die ein
Mitglied in der ersten Person Plural macht, zeigt, daß von dem
Standpunkt des Systems aus geurteilt wurde. Auch ausdrückliche
Forderungen können von diesem Standpunkt aus geäußert werden. Wenn ein
Kind z.B. zu Eltern und Geschwistern sagt: "Wir müssen die Großeltern
besuchen!", so äußert es seiner Meinung nach bestehende Norm
(Normierung), der die anderen Mitglieder der Familie gegebenfalls auch
nachkommen werden. Damit wird das Kind noch nicht zur
Herrschaftsperson, doch gehört sein Handeln zu dem wesentlichen
Grundbestand von Herrschaft hinzu.

Es ist für die Herrschaft zugleich rechtfertigend und verpflichtend,
daß sie vom Standpunkt der Allgemeinheit aus zu urteilen und zu
handeln hat. Da aber alle Mitglieder dazu prinzipiell in der Lage und
in gewisser Weise auch aufgefordert sind und daher einander
widersprechende Normen formulieren könnten, kommt es darauf an,
diejenigen Mitglieder zu kennzeichnen, die ausdrücklich und
berechtigterweise den systematischen Standpunkt als ihren
Hauptstandpunkt im System ansehen sollen. Derjenige, der die
Herrschaftsposition einnimmt, ist dann vom Standpunkt des gesamten
Systems aus verpflichtet, aus seiner Rolle das Gemeinwohl des Systems
zu fördern. Herrschaftsausübung bedeutet daher von ihrem Kern her, daß
partikulare Interessenswahrnehmung dem Herrschaftsauftrag
widerspricht. Herrschaftspersonen, die eine Sozialeinheit nur
benutzen, um Vorteile für sich oder bestimmte innerhalb oder außerhalb
des Herrschaftsbereichs stehende Gruppen zu erreichen, sehen die in
Frage stehende Sozialeinheit nur als Mittel der Ausbeutung an und
verlieren damit ihre Legitimität. Wegen der Wichtigkeit der Aufgabe,
das Gemeinwohl zu fördern, ist es gut, wenn es in einem Sozialsystem
institutionell geregelt ist, wer die Herrschaftsposition einzunehmen
hat. So lassen sich überflüssige Machtkämpfe und Unsicherheiten des
Handelns zurückdrängen.

7.2.4. Integration

Eine weitere Begründung findet die Herrschaft darin, daß jedes
Sozialsystem einen ständigen Einfluß benötigt, der die einzelnen Teile
des Systems auf die Gesamtziele des Systems ausrichtet. In einem
ständigen Prozeß muß allen Erscheinungen, die die Einheit des
Sozialsystems von innen bedrohen, Einhalt geboten werden. Dieser
Prozeß bedarf der Steuerung, und dazu ist eine Herrschaft
erforderlich.

Alle Aufgaben, die eine Herrschaft zu erfüllen hat, sind von der
Erhaltung der Sozialeinheit her bestimmt. Darin eingeschlossen ist die
Zielsetzung, daß die Sozialeinheit mit deutlich erkennbaren Zielen
existiert, so daß es jeweils möglich ist, klare Abgrenzungen gegen die
Umwelt vorzunehmen. Das ist aber keineswegs als Selbstverständlichkeit
der Fall. [...]

Die Herrschaft steht daher immer vor der Aufgabe, die Grenzen zu
anderen Sozialsystemen zu verdeutlichen und alle Mitglieder auf innere
Übereinstimmung und auf Orientierung an der Erhaltung und Kräftigung
der Einheit des Sozialsystems auzurichten. Dieser Prozeß ist der
Prozeß der "Integration". Zweifellos gehen die Initiativen dazu nicht
allein von der Herrschaft aus, sondern auch von Mitgliedern ohne
Herrschaftsbefugnis. In erster Linie ist die ständige Aktivierung des
Vereinheitlichungsprozesses aber eine Funktion der Herrschaft.

Der Integrationsprozeß hat wenig oder nichts zu tun mit einer
Vereinheitlichung im Sinne einer Schematisierung oder Gleichmacherei.
Vielmehr bezweckt er die Verinnerlichung der Normen bei den
Mitgliedern der Sozialeinheit und zugleich die Ausrichtung auf die
Sozialeinheit als Ganzes. Die dadurch erfolgte Bewußtseinsbildung
rückt die Tatsache und die Lage der Grenze vor Augen. Man kann daher
auch sagen, daß der Integrationsprozeß nichts anderes als der Prozeß
der Identifikation ist, wenn man ihm vom Sozialsystem her betrachtet.

[...]

7.2.5. Herrschaft als grundlegendes Strukturmoment

Nach den bisherigen Überlegungen ist es unangemessen, Herrschaft als
eine Funktion zu begreifen, die neben anderen in einem Sozialsystem
ausgeübt wird. Vielmehr gehört Herrschaft zu den grundlegenden
Strukturbestandteilen eines Sozialsystems. Man kann sich natürlich
fragen, ob man von Herrschaft bereits bei Vermittlungen oder bei
Kleingruppen reden soll. Gewiß ist hier Herrschaft weniger stark
ausgeprägt als in Großgruppen wie Betrieben oder Staaten. Wer die
Herrschaftspersonen hier sind, ist eher zu erkennen, weil eine Anzahl
von Formalisierungen wie ausdrückliche öffentliche Übertragung der
Herrschaft, vorgeschriebene Formen der Herrschaftsausübung usw.
vorliegen. Betrachtet man jedoch die genannten vier Begründungen für
die Herrschaft, so läßt sich zeigen, daß diese auch für kleine Gruppen
wie die Freundschaft bereits zutreffen. Dabei ist es durchaus möglich,
daß die Freunde - weil keine institutionelle Regelung vorliegt -
nacheinander den Standpunkt ihrer Gemeinsamkeit und damit den
Standpunkt der Herrschaft einnehmen und jeweils den anderen
verpflichten. Es braucht sich also nicht notwendig eine dauerhafte
Überlegenheit des einen über den anderen herausgebildet zu haben.

Versteht man Herrschaft in diesem Sinne, so stellt sie die
entscheidende Artikulation dar, die ein soziales System, eine
Gesellschaft, eine soziale Gruppe besitzt. Ohne Herrschaft ist die
Einheit des Sozialsystems nicht zu gewährleisten. Herrschaft ist auf
ein soziales System als Ganzes hin orientiert und kann auch nur von
dort her verstanden werden. Der Herrschaft kommt folglich eine
spezifische Würde oder Hoheit zu, die den zentralen Inhalt der
Autorität ausmacht. Diese Würde übersteigt die Mitgliedschaftswürde.
Das läßt sich mit dem Begriffspaar "Repräsentation und Domination"
noch tiefergehend begründen.

aus: Wigand Siebel: Einführung in die systematische Soziologie. Beck
Verlag, München. 1974; S 214 - 219.

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


[English translation]
Thread: oxdeT04726 Message: 12/13 L5 [In index]
Message 04988 [Homepage] [Navigation]