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[ox] Aus der systematischen Soziologie: Grundformen der Herrschaftsausuebung (was: Aus der systematischen Soziologie: Begruendung der Herrschaft)



Liebe Liste!

6 days ago Stefan Merten wrote:
Yesterday Stefan Merten wrote:
Wie gesagt folgt da noch einiges in dem
Buch, was ich gerne auch noch präsentieren möchte.

Dazu komme ich morgen hoffentlich - endlich.

Hier kommt's dann.

Ich habe mich entschlossen, noch einen dritten Teil anzufügen, den ich
ebenfalls sehr interessant finde. Mittelfristig werde ich es
hoffentlich nochmal schaffen, mich wirklich inhaltlich mit diesem
Rahmen in Bezug auf Freie Software und GPL-Gesellschaft
auseinanderzusetzen. Fände ich ein super-wichtiges Projekt.

Wer's nachlesen will: Der erste Teil findet sich
unter

	http://www.oekonux.de/liste/archive/msg04726.html

Und der zweite unter

	http://www.oekonux.de/liste/archive/msg04988.html

Ist alles in einem Thread.

Einen Kommentar liefere ich noch nach.

Dito.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

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7.3.1. Repräsentation

Das Handeln der Sozialeinheit und damit das Handeln der
Herrschaftspersonen erfolgt in den beiden Grundformen "Repräsentation"
und "Domination". Primär bezieht sich die Repräsentation auf soziale
Gruppen, die Mitglieder besitzen. Die Repräsentativfunktion wurde
bereits von Th. Geiger hervorgehoben. Er verwies darauf, daß nur durch
die Wahrnehmung der Repräsentation die Verkörperung der Gruppe als
etwas Körperlosem in der Körperwelt möglich sei. Die eigentlichen
Partner des Führungsverhältnisses sind nach ihm der Führer als solcher
und die Gruppe als Ganzes unter Einschluß des als Führer fungierenden.

Die Herrschaftsausübung in der Form der Repräsentation ist in den
Rahmen des rituellen Handelns einzuordnen. Im rituellen Handeln wird
eine soziale Gruppe vergegenwärtigt, durch das Mitglied dargestellt,
aber doch nur so, daß das Vergegenwärtigte gewissermaßen potentiell
anwesend ist, nämlich als Handlungsorientierung des Mitglieds. In der
Repräsentation ist das Vergegenwärtigte darüber hinaus aktualisiert
anwesend. Das Vergegenwärtigte ist nicht nur da, es äußert sich auch
mehr oder weniger konkret, es handelt durch den Repräsentanten.
Repräsentant und Repräsentiertes können in so starkem Maß
identifiziert werden, daß jede Beleidigung eines Repräsentanten die
repräsentierte Sozialeinheit selbst trifft. Früher war z.B. die
Beleidigung eines Botschafters nicht selten ein Kriegsgrund für den
betroffenen Staat.

Eine einzelne Führungsperson (oder eine Führungsgruppe) handelt also
für die Gesamtheit und verpflichtet die Gesamtheit. Durch die
Herrschaft werden z.B. verbindliche Erklärungen abgegeben, Warnungen
oder Drohungen mitgeteilt, Interessen bekannt gemacht und Verträge
abgeschlossen. Die Repräsentation richtet sich also nach außen auf
andere Sozialeinheiten oder Individuen. Zugleich richtet sich die
Repräsentation aber auch nach "innen", d.h. die Herrschaftsperson
stellt die soziale Gruppe in ihrer Gesamtheit auch gegenüber dem
einzelnen Mitglied dar. So gehört die Vergegenwärtigung der
Normengesamtheit des Systems fundamental zur Innenwirkung der
Repräsentation. Die Mitglieder erhalten dadurch die Möglichkeit, sich
in der (feierlichen oder alltäglichen) Anerkennung der Herrschaft mit
dem Sozialsystem zu identifizieren. Aber auch die Fixierung der
Normen, die Norminterpretation, die Sichtbarmachung der Ziele und
Werte der Gruppe gegenüber den Mitgliedern zählen zur
Herrschaftsaufgabe, die aus der Repräsentation nach innen fließt.

Während der Außenaspekt der Repräsentation in der Staatsrechtslehre
größere Beachtung gefunden hat, wird die Repräsentation nach innen
kaum berücksichtigt oder gar für unmöglich erklärt. Der Innenaspekt
steht jedoch an Bedeutung dem Außenaspekt keineswegs nach. Das gilt
für den Staat ebenso wie für alle anderen Sozialsysteme. Integrativer
Bestandteil der Repräsentation ist die Zusammenfassung und
Vergegenwärtigung der Bestrebungen der Mitglieder der Sozialeinheit.
Das heißt nicht, daß die Interessen der Mitglieder jemals einziger
Orientierungspunkt des Handelns der Herrschaft sein können. Vielmehr
muß die Herrschaft auch zu überzeugen versuchen und nötigenfalls auch
gegen die Meinungen der Mitglieder zu handeln bereit sein. Doch ist
der Repräsentationsvorgang niemals ein einseitiger Prozeß. Vielmehr
besteht zwischen der Herrschaft und den Mitgliedern ein
Wechselverhältnis. Es werden nicht nur die Mitglieder im
Repräsentationsvorgang dargestellt, im Dominationsvorgang betroffen,
sondern sie selbst können den Führungsprozeß direkt oder durch
bestimmte Institutionen beeinflussen, ja notfalls die Herrschaft
beseitigen. Wäre dieses Wechselverhältnis nicht gegeben, so könnte auf
Dauer die tatsächliche Orientierung der Herrschaft an der Gruppe nicht
erzwungen werden.

Repräsentation ist grundsätzlich nicht isoliert zu denken. Stets ist
für die Repräsentation ein Adressat gegeben, der die vom
Repräsentanten vermittelte Botschaft erhält. Diese Botschaft ist aber
nicht eine inhaltlich bestimmte Nachricht über Sachverhalte, sondern
Übermittlung und Verlebendigung der Gruppenrealität. Deshalb
konstituiert repräsentatives Handeln in gewissem Sinne immer
(gruppenspezifische) Öffentlichkeit. Denn durch den Repräsentanten ist
die Gruppe im Kommunikationsvollzug anwesend.  Repräsentiert wird
nicht nur eine  "Wertsphäre" oder eine andere Herrschaftsperson
(z.B. der Monarch durch den Botschafter), sondern stets eine
Sozialeinheit und mit dieser deren gesamter Normenhorizont, so die
Familie durch den Vater - jedenfalls unter patriarchalischen
Verhältnissen -, das Rote Kreuz durch den Präsidenten, die
Aktiengesellschaft durch den (dreiköpfigen) Vorstand, das Staatsvolk
durch das Parlament (bzw. die Parlamentsmitglieder) und zugleich durch
den Staatspräsidenten.

[...Betrachtungen zum imperativen Mandat...]

[...Abgrenzung gegen weitere Verständnismöglichkeiten von
"Repräsentation"...]

Die Repräsentation einer sozialen Gruppe läßt sich stufenmäßig
gliedern. Das ergibt das Phänomen der Delegation. Jede Führungsstufe
hat gegenüber der nächsthöheren Stufe ein geringeres Maß an
Repräsentationsfähigkeit, d.h. ihre Würde ist geringer. Darin liegt
der Grundbestand der sozialen Schichtung, die also in erster Linie ein
Ausdruck der gegebenen Herrschaft ist. Die gesamte
Repräsentationsstufung nennt man eine "Hierarchie". Sie stellt in
ihrer Gesamtheit die normative Orientierung des sozialen Systems und
damit seine Strukturierung dar.

7.3.2. Domination

Die dominative Grundform der Herrschaft bedeutet Machtausübung durch
Androhung von Gewalt. Die Ausführung der Befehle wird durch sie
erzwungen mit Hilfe der ihr zur Verfügung stehenden Machtmittel und
Sanktionsmöglichkeiten. Die Domination gehört unter der Voraussetzung
zur Herrschaft hinzu, daß es den uneinsichtigen oder böswilligen
Normbrecher gibt, vor dem die Gesellschaft zu schützen ist. Zur
dominativen Herrschaft gehört damit die Kontrolle der Ausführung der
erlassenen Befehle, Anordnungen und Weisungen. Diese Seite der
Herrschaft ist so selbstverständlich für das zeitgenössische
Bewußtsein, daß die Grundform der Repräsentation demgegenüber oft -
besonders als Repräsentation nach innen - völlig übersehen wird.

Die Domination steht jedoch immer in der Gefahr, ein bestimmtes Tun
oder Lassen zu erzwingen, das nicht aus der Gerechtigkeit begründet
werden kann. Ungerechte Entscheidungen und Maßnahmen sind bis zu
einem bestimmten Grad in jeder Herrschaft vorhanden, ohne daß die
Herrschaft schon als in sich ungerecht bezeichnet werden dürfte. Die
eindeutig ungerechte Herrschaft wird zu ihrer eigenen
Aufrechterhaltung jedoch stets in größerem Maß Zwangsmittel einsetzen.
Dieses Erlebnis oder die Befürchtung der Möglichkeit solcher
Herrschaft kann so tief wirksam sein, daß Herrschaft in der Grundform
der Domination als eine permanente Bedrohung empfunden wird, besonders
dann, wenn die Machtausübung in starkem Maß physische Gewalt
beinhaltet.

Aus der Gegenüberstellung der beiden Grundformen der Herrschaft dürfte
deutlich geworden sein, daß die repräsentative Seite der Herrschaft
Voraussetzung und Grundlage der dominativen Seite ist. Denn die
Anwendung von Zwangsmitteln ist nur deshalb gerechtfertigt, weil die
Gerechtigkeit, der soziale Frieden und damit das Sozialsystem selbst
aufrechtzuerhalten ist. Eine Herrschaft, die sich nicht aus der
Repräsentation der Gesamtnormierung des Sozialsystems verstehen würde,
könnte nie die überzeugte Zustimmung der Mitglieder des Sozialsystems
gewinnen. Ohne Einsicht in den repräsentativen Gegenstand und ohne
Zustimmung zu ihm läßt sich moralisches Handeln im Sozialsystem nicht
konstituieren, so auch nicht die Einsicht in die Notwendigkeit
dominativen Verhaltens der Herrschaft und damit auch nicht in die
Berechtigung von Bestrafungen.

7.3.3. Herrschaftsreduktion

Betrachtet man beispielsweise die Familie als ein
Herrschaftsverhältnis der Eltern über ihre Kinder, so ist es
zweifellos so, daß die Domination zunächst stärker ausgeübt wird, dann
aber mit zunehmendem Mündigwerden der Kinder immer mehr zurückgehen
muß. Die Kinder sind also immer weniger der Gewalt unterworfen, die
Anwendung von Gewalt ist von einem bestimmten Alter ab nicht mehr
gerechtfertigt, es sei denn, die Einsicht (Reifegrad) und das daraus
entspringende Verhalten bleiben zurück, z.B. bei debilen Kindern.
Dagegen bleibt die Repräsentationsfunktion der Eltern mindestens
solange erhalten, bis die Kinder eine eigene Familie gegründet haben.

Zu fragen ist, ob nicht jede Herrschaft auf die Ausübung von
Domination mit zunehmender Selbständigkeit und Einsicht der der
Herrschaft Unterworfenen verzichten muß. Grundsätzlich ist diese Frage
zu bejahen. Die Domination muß auf ihre eigene Aufhebung hinwirken.
Die Anwendung von Zwang ist also niemals durch sich selbst
gerechtfertigt. Alle Zwangsmittel müssen immer wieder überprüft
werden, ob sie wirklich nötig und unentbehrlich sind. Die Beweislast
dafür, ob die Domination beizubehalten ist, liegt jedoch keineswegs
allein bei der jeweiligen Herrschaftsperson. Die Entscheidung hängt
vom gesamten Herrschaftsgefüge und damit von der gegebenen
Gruppenstruktur ab. Jedenfalls ist die Forderung auf Abschaffung der
Herrschaft als Domination im Kern eine berechtigte Forderung.

Wenn man nun aber Herrschaft nur als Domination begreift und das
repräsentative Moment der Herrschaft übersieht oder unterschlägt,
wandelt sich die Forderung auf Abschaffung der Domination in eine
Forderung auf Abschaffung der Herrschaft schlechthin. Hier liegt das
grundlegende Mißverständnis des Anarchismus und zu einem erheblichen
Grad auch das politisch gewollte Mißverständnis der marxistischen bzw.
kommunistischen Herrschaftstheorie, die Herrschaft stets als Ausübung
partikularer Interessen einer "herrschenden Klasse" diffamiert
(Lenin. "Der Staat ist eine Maschine zur Aufrechterhaltung der
Herrschaft einer Klasse über andere").

Natürlich gibt es einen Mißbrauch der Herrschaft. Geschichte und
Gegenwart weisen genügend Beispiele dafür auf. Die Herrschaft wird
dadurch degeneriert zum bloßen Machterwerb für Einzelne oder eine mehr
oder weniger große Clique von Nutznießern. Auf diese Weise entfremdet
sich Herrschaft ihrem eigentlichen Ziel, verliert ihren
repräsentativen Charakter und wird tendenziell zur illegitimen
Gewaltausübung. Von einem Mißbrauch her kann man aber keinen
Gegenstand definieren, so auch nicht die Herrschaft. Berechtigung oder
gar Notwendigkeit der Herrschaft in einem sozialen System müssen von
einem solchen Ansatz verfehlt werden. Eine systematische Analyse der
Herrschaft wird vielmehr berücksichtigen müssen, daß die
Aufrechterhaltung der Normen des Sozialsystems, die Befähigung eines
Sozialsystems zum Handeln und das dauerhafte Einnehmen eines nicht
partikulären Standpunkts, nämlich des Standpunkts des Gesamtsystems,
Herrschaft unaufgebbar notwendig machen.

Eine herrschaftslose Gesellschaft wird es also niemals geben, auch
keine herrschaftslose soziale Gruppe, sofern sie ein Mindestmaß von
Institutionalisierung aufweist. Selbst in einem denkbaren künftigen
Weltstaat wird kein herrschaftsloser Zustand geschaffen werden können.
Ein Weltstaat ist nämlich keineswegs mit dem Verlust jeder sozialen
Strukturierung verbunden. Es wird in jedem denkbaren Weltstaat noch
die verschiedensten sozialen Gruppen geben, die eine relative
Eigenständigkeit besitzen, also muß es auch die verschiedensten
Herrschaften geben. Aber selbst wenn der Weltstaat vollkommen
unstrukturiert wäre, müßte es eine Weltherrschaft geben, die den
Zustand der Nichtstrukturierung zu garantieren hätte.

aus: Wigand Siebel: Einführung in die systematische Soziologie. Beck
Verlag, München. 1974; S 220 - 224.

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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