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[ox] Re: Aussenstandpunkt vs. Gruppenstandpunkt



Hi Uli!

Yesterday Uli Holz wrote:
Am Samstag, 7. September 2002 um 13:18 schrieben sie:
SM> Damit sind aber auch die beiden Individuen im Rahmen dieser
SM> Liebesbeziehung - also erstmal nicht darüber hinaus - zunächst mal
SM> bestimmt. Dies spiegelt sich in den Individuen natürlich wieder. Die
SM> Liebenden nehmen z.B. Rücksicht auf die Wehwehchen / Bedürfnisse der
SM> geliebten Person. Im Idealfall sind sie daran interessiert, deren
SM> Selbstentfaltung zu befördern.

SM> Nun frage ich mich, was an einer solchen Situation transzendent oder
SM> äußerlich sein soll.

 Vielleicht hab ich dich nicht richtig verstanden, aber in gewisser
 Hinsicht ist eine Partnerschaft eben jenes Produkt, welches im
 Idealfall auf zwei gegenteiligen Polen beruht, deren Synthese die
 Liebe ist, welche bei weitem nicht rational zu erklären ist, auch wie
 sich das Individuum danach verhält ;-), also schon eine transzendente
 Erfahrung.

Von mir aus mag die Liebe eine transzendente Erfahrung sein. Das
Sozialsystem Liebespaar ist es aber nicht sondern zumindest in seinen
Wirkungen ziemlich klar erfahrbar.

 Aber Transzendenz hat auch was mataphysisches, ich kenne das Wort nur
 aus der hinduistischen Vorstellung, wo man die Welt als
 Traumkonstrukt sieht, hinter welchem eben die transzendente
 Vorstellung liegt, diese aber für westliches Verständniss schon fast
 bizarr zu erreichen gedenkt.

Grundsätzlich zum Begriff der Transzendenz: Wenn ich es richtig
überblicke, dann stammt der aus "Empire". Dazu können Benni und
StefanMz sicher viel mehr sagen als ich. Ich finde es auch keine
besonders glückliche Begriffsbildung.

SM> Aber natürlich kann der Gruppenstandpunkt zum Außenstandpunkt
SM> mutieren: Nämlich genau dann, wenn sich das Sozialsystem, zu dem ein
SM> Gruppenstandpunkt gehört hat, sich von diesem (alten)
SM> Gruppenstandpunkt entfernt / entfremdet. Dann tritt genau das auf, was
SM> du und Benni beschreiben: Der alte Gruppenstandpunkt ist von der
SM> Realität des Sozialsystems abgelöst und tritt den Menschen als fremdes
SM> Konstrukt gegenüber. Es ist sogar transzendent im obigen Sinne, da es
SM> sich in einer neuen Situation eben nicht mehr an einer bestehenden
SM> sozialen Praxis orientiert und *deswegen* eben nicht mehr erfahrbar
SM> ist.

Das ist eigentlich nicht transzendent, sondern eher nur eine andere
Meinung.

Wenn Transzendenz etwas mit sinnlicher Erfahrung zu tun hat, dann ist
es schon transzendent. Eine individuelle Meinung ist ein
Gruppenstandpunkt ohnehin nicht und eine intersubjektive ist es auch
nicht mehr, da die Subjekte sich von dem vorher im Gruppenstandpunkt
Intersubjektivierbaren entfernt haben.

Aber gehen wir mal davon aus, es ist Transzendent, dann würde
der alte Gruppenstandpunkt in einen anderen philosophischen Bereich
übergehen, der über die Erfahrung und sinnliche Wahrnehmung der
anderen Teilnehmer hinausführt, das heißt man verläßt das Rationale und
nähert sich der Metaphysik.

Genau das ist das Problem, das StefanMz meint. Ich gebe ihm hier
Recht, dass sich diese Metaphysik eben tendenziell gegen die Immanenz
/ Selbstentfaltung richtet.

SM> Beispiel gefällig? Das sexuelle Exklusivitätsversprechen - oft
SM> fälschlich als Treue bezeichnet -, das in so vielen Beziehungen gilt,
SM> hilft der Beziehung nur so lange, so lange keiner der Liebenden eine
SM> dritte Person sexuell attraktiv findet (und das ggf. auch lebt). Dann
SM> wendet sich dieses Exklusivitätsversprechen gegen die Individuen. Die
SM> Individuen haben sich aufgrund ihrer individuellen Entwicklung davon
SM> wegentwickelt, dieses Exklusivitätsversprechen für richtig zu halten -
SM> dem sie ja vielleicht mal voller Überzeugung zugestimmt haben. Die
SM> Liebenden haben sich von ihrem alten Gruppenstandpunkt "sexuelles
SM> Exklusivitätsversprechen" entfremdet und er tritt ihnen als äußerlich
SM> und unterdrückend gegenüber.

Ich glaube nicht, daß man sie dann noch als Liebende bezeichnen kann,
eher will man mehr und mehr.

Ich wusste, dass dieses Beispiel ein bisschen heikel ist ;-) .

Grundsätzlich würde ich aber denken, dass diese Haltung des
Mehr-und-Mehr-Wollens keine sehr selbstentfaltete sondern eine
konsumorientierte ist. Hier zählt nicht das Interesse an einem
konkreten Erleben, sondern wieder ein Strich mehr auf der Strichliste.

SM> Und wenn ich Ordnung/Struktur will? Wenn ich es für meine je
SM> eigene Selbstentfaltung für sinnvoll erachte an gewisser Stelle eine
SM> Ordnung zu haben und wenn ich mich mit anderen darauf einige - jeweils
SM> mit engem Bezug auf die je eigene Selbstentfaltung? Was ist daran
SM> transzendent? Immanenz pur - aber dennoch als (überindividueller)
SM> Gruppenstandpunkt formulierbar. Oder, wenn der Gruppenstandpunkt nicht
SM> sein darf, anders herum: Wie würdest du diese überindividuelle
SM> Konstruktion namens Gruppe theoretisch fassen?

Ordnung und Struktur ist in gewisser Hinsicht schon transzendent, wenn
ich so darüber nachdenke. Die Menschen in der Frühzeit sahen die
Ordnung nur in den Sternen oder dem Mondzyklus welcher es ihnen
ermöglichte, Vorraussagungen zu treffen, deshalb auch diese Panik bei
einer Sonnenfinsternis, die dann diese Ordnung mangels Verständnis
stört. Aus dieser Ordnung heraus entwickelte sich dann die Mathematik
etc., wobei man nicht sagen kann, warum die Ordnung so ist, wie sie
ist, also transzendent.

Du beschreibst hier sehr schön eine Tendenz der Aufklärung: Die
Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit zu entlassen.
Wissenschaft, die in diesem Fall die Natur betrachtet, ermöglicht es
eben, dass die Menschen sich von der Metaphysik befreien und ihr Leben
in die eigene Hand nehmen. Dies ist ein Schritt hin zur Immanenz /
Selbstentfaltung - und übrigens auch zur Selbstverantwortung!

Eine Gruppe versucht mehr zu erreichen, als es dem einzelnen möglich
ist, eine Art Bildungspool. Dieser Bildungspool ist dann den wilden
Tieren oder den Naturkatastrophen überlegen und sichert somit seinen
Fortbestand. Oberstes Ziel einer Gruppe ist das Fortbestehen, in
weltlicher Hinsicht ganz lapidar Kinder, in geistiger der Fortbestand
der Idee. Um so größer die Gruppe, desto höher die Chancen für dieses
Anliegen. Die Entfaltung des einzelnen tritt dann allerdings hinter
diesen Auftrag, das heißt, ich bin bereit mich zu opfern, sollte es
nötig sein, damit den Fortbestand zu sichern.

Hier wird's m.E. heikel. Müsste mal eingehender untersucht werden -
aber m.E. erst, wenn sich die Wogen ein wenig geglättet haben.

Also nach außen hin, gegen rivalisierende Gruppen kann man mit einer
eigenen Gruppe immer besser bestehen, als allein.

Vielleicht können wir ja eine Gesellschaft denken, in der
rivalisierende Gruppen keine so große Rolle mehr spielen?

SM> Wie anti-emanzipatorisch Demokratie aber auch ist, muss ich hier nicht
SM> ausführlich erläutern. Und auch hier muss ich wieder auf den Konsens
SM> kommen: Konsens ist für mich immer noch die emanzipatorischste Form
SM> sich innerhalb der nicht-entfremdeten Gruppenstandpunktswolke zu
SM> bewegen, sich ihr asymptotisch im Prozess der Konsensfindung
SM> anzunähern . Auch oder vielleicht sogar gerade weil Konsens die
SM> Ablösung und damit Entfremdung vom Sozialsystem maximal erschwert.

Konsens ist der Grundpfeiler einer Gruppe, am wichtigsten ist aber
Toleranz, nur wann muß diese aufgehoben werden ?

Das ist genau die Frage - wobei ich das muss eben nicht so
transzendent fassen würde, wie du es hier aussprichst. Vielmehr würde
ich so etwas formulieren wie "Wann ist es im an die individuelle
Selbstentfaltung gebundenen Interesse eines konkreten Sozialsystems
legitim, Mittel der Domination einzusetzen?" Mit dem Spam-Blocking
hatte ich schon einen wohl allgemein anerkannten Fall angegeben.

SM> Du würdest vermutlich argumentieren, dass das nicht geht, dass
SM> Normatives Selbstentfaltung immer verhindert. Dann eine Frage: Worauf
SM> stützt du denn dein Handeln sobald du es sozial tust (also eigentlich
SM> immer)? Ich behaupte: Die Richtlinien deines Handelns, die
SM> Verantwortung, die du dafür empfindest, speisen sich zumindest zum
SM> Teil aus Normensystemen, die dir in deinem bisherigen Leben über den
SM> Weg gelaufen sind. Nur dass du sie internalisiert und variiert hast
SM> und jetzt als deine eigenen ansiehst. Wenn du diese Internalisierung
SM> leugnest, dann postulierst du letztlich die gesellschaftlich
SM> entbettete Monade, die eben ausschließlich aus sich selbst heraus
SM> verantwortliches Handeln konstituiert. Wenn du mich fragst: Eine
SM> bürgerliche Illusion mit den bekannten Folgen.

Seh ich auch so. Was fehlt ist wohl das gemeinsame Ziel.

Hier scheint mir in der Tat ein Knackpunkt zu liegen, den ich in
meiner ursprünglichen Mail ja auch schon angedeutet hatte: Was ist das
Ziel eines Sozialsystems? Gerade für solche Dinge wie Staat kann ich
mir hier nichts vorstellen, was nicht entfremdet ist.

SM> Genau hier gelte es aus emanzipatorischer Perspektive zu unterscheiden
SM> zwischen Normensystemen, die je deiner Selbstentfaltung helfen und
SM> solchen, die sie behindern. M.E. ist die Entfremdung hier der
SM> Schlüssel.

Was denn für eine Selbstentfaltung, die sollte ja auch irgendwohin
führen. Ist Selbstentfaltung, wenn ich mich auf den Balkon stelle und
herunterpinkle ? Das Problem ist m. E. das fehlende gemeinsame Ziel,
man ist mittlerweile wieder an dem alten römischen Problem der 'panem
et circenses' Gesellschaft angekommen, in der es an jedem sozialen
Verhalten irgendwann mangelt, da man nicht weiß, was nun noch gemacht
werden sollte.

Wie es emanzipiert genau gehen soll, weiß ich auch nicht im Detail.
Lass uns überlegen :-) .

Exkurs-Ende und Bogen zuende gespannt: bürgerlich nenne ich nun eine
Sichtweise, die einen transzendenten Ort bemühen muss, ein gedachter
abstrakter Standort ausserhalb des zu Bedenkenden (Gottesreich,
Kommunismus, Gruppenstandpunkt etc.).

Nun, eben das gemeinsame Ziel. Ansonsten gebe es ja keine
Fortentwicklung, und ohne einen tranzendenten Ort wäre es das Ende
aller Illusionen.

Nun, ich brauche keinen transzendenten Ort um mich weiterentwickeln zu
wollen. Da reicht mein inneres Bedürfnis eigentlich vollkommen aus.

Und von den Illusionen würde ich mich in der Tat gerne verabschieden
:-) .


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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