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[ox] Broetchen im Zentrum? (was: [ot:wak] Re: Enteignung)



Hi Birgit und Oekonuxis!

Auch auf `liste oekonux.de' sicher von Interesse - deswegen Crosspost.

Eine uralte Frage, die ich mittlerweile ziemlich langweilig finde.
M.E. liegt der zentrale Dissens - ohne dessen Lösung es keine
Annäherung geben kann - hier:

2 days ago Birgit Niemann wrote:
Für konkrete Menschen, die
keine Chance mehr haben, sich innerhalb der Selbstreproduktion von
Kapitalen auch ihr eigenes menschliches Selbst zu reproduzieren (und die
historisch durch das Kapital von allen anderen stofflichen
Reproduktionsgrundlagen längst befreit wurden), erwächst ja eben dadurch
der Zwang, nach alternativen kollektiven Reproduktionsgrundlagen zu
suchen, um sie zu ergreifen oder zu krepieren (was auch eine Lösung des
Problems wäre). Wenn sich Alternativen aber durchsetzen sollen, dann
müssen sie die kollektive menschliche Selbstreproduktion auch
ermöglichen. Deren Zentrum aber ist immer noch die stoffliche
               ^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^^
ReProduktion. Varianten, die das ignorieren sind obsolet, bevor sie sich
  ^^^^^^^^^^^^^
durchsetzen können.

Das ist genau die offene Frage, die du - wie andere auch - einfach gar
nicht erst stellst.

Ich behaupte jedoch, dass die stoffliche Reproduktion (schon seit
einiger Zeit) nicht mehr im Zentrum der gesamtgesellschaftlichen
Produktion auf dem aktuellen Produktivitätsniveau steht. Ein einfaches
Gedankenexperiment - das ich niemals realisieren möchte - belegt das
m.E. eindrucksvoll: Lass uns einfach in Deutschland mal alle Computer
abschalten. Was glaubst du würde deine Brötchenfabrik dann noch
produzieren? Jedenfalls keine Brötchen mehr. Ah, du kaufst beim
Bäcker. Nehmen wir an, es ist einer, der tatsächlich nicht nur Tüten
aufreißt und zusammenkippt, sondern der seine drei Brotsorten noch
richtig mit der Hand backt. Ok, die Computerkasse fällt zwar aus -
wird gehen. Notfalls könnte er vielleicht auch noch ohne das
mittlerweile zusammengebrochene Bankensystem - also ganz ohne Geld -
auskommen. Dann lass uns noch die so unstofflichen
Kommunikationsmittel Fax, Telefone und Vergleichbares abstellen. Soll
alles nur noch per Brief gehen. Ich fürchte, du wärst verhungert bevor
dein erstes Brötchen gebacken ist...

So, und du behauptest nun allen Ernstes, dass die stoffliche
Reproduktion *im Zentrum* steht? Mir scheint vielmehr, dass die
stoffliche Reproduktion schon heute nur noch das Anhängsel der
"virtuellen Produktion", der Informationsproduktion und -kommunikation
ist. Dass stoffliche Reproduktion natürlich die Basis bildet ist ja
unbestritten. Dass sie im Zentrum steht, halte ich aber für eine
grandiose Blindheit, die du aber mit praktisch der ganzen Linken
teilst. (Noch ein Hinweis übrigens, wie sehr diese Linke nur die
Antithese zum Kapitalismus ist, sich also in den gleichen Kategorien
wie er bewegt.)

BTW: Die KapitalistInnen wissen übrigens ganz genau wie wichtig die
virtuelle Reproduktion mittlerweile ist. Es ist ja nicht völlig
grundlos, dass die eine Heidenangst haben, dass das Internet
zusammenbrechen könnte - weil das Finanzsystem dann nach zwei, drei
Tagen nicht mehr existieren würde. Die scheren sich dagegen kein Deut
um Brötchen, die für dich und andere Altvorderen aber immer noch im
Mittelpunkt stehen. Solche Opposition wünscht sich jede herrschende
Klasse :-( ...

Diese strukturelle Rückwärtsgewandheit bringt mich auch zu der anderen
Argumentationslinie mit den Epochenbrüchen. Hättest du vor 250 Jahren
gelebt, so wäre deine Argumentation gewesen, dass das "Zentrum der
kollektiven menschlichen Selbstreproduktion" die Bearbeitung des
Bodens ist und diese niemals in kapitalistischer Manier wird
organisiert werden können, sondern dass dies feudalistisch organisiert
sein muss. Nun, die Geschichte hat gezeigt, wie solche
strukturkonservativen Positionen sich über kurz oder lang überleben.

Nun muss das alles natürlich niemensch überzeugen. Dennoch: Ich halte
eine Analyse, die denkt, dass die stoffliche Reproduktion *im Zentrum*
moderner Vergesellschaftung steht, schlicht für überholt und deswegen
für langweilig. Sogar auf deinem eigenen Gebiet der Biologie ist
mittlerweile der Übergang zur Informationswissenschaft in vollem
Gange: Gentechnik.

Nun behaupte ich ja gar nicht, das diese beiden Thesen (die politische,
sowie die technologische Variante vom selben Wesen) a priori falsch
sind, aber deshalb verzichte ich doch nicht auf die Forderung, die
Möglichkeiten der o.g. dahinführenden Prozessabfolgen theoretisch
vorrauszudenken, einschließlich einer Analyse der dafür notwendigen
wirklichen Prozessbedingungen.

Go ahead! Gerade revolutionäre Umwälzungen - und um solche handelt es
sich hier auch wenn vielleicht kein Bürgerkrieg stattfindet - sind
aber äußerst schwierig seriös zu prognostizieren. Und schon gar nicht,
wenn die Analyse sich noch in einer Welt wähnt, die seit mindestens 20
Jahren nicht mehr existiert.

Alles, was die Produktion von Freier Software stofflich ermöglicht, wird
wertförmig produziert.

Und alles was die stoffliche Reproduktion ermöglicht, hängt von der
Bearbeitung des Bodens ab. Ist damit die Bodenbearbeitung - also die
Reproduktionsgrundlage des Feudalismus - die entscheidende Größe? Wohl
kaum.

Aber interessanterweise wirst du hier inkonsequent, wenn es z.B.
Robert aufbringt:

Yesterday Birgit Niemann wrote:
Natürlich begann das Produktionskapital sein Dasein nicht
mit dem Backen von Brötchen. Hätte sich damals auch nicht gelohnt, weil
die Chemie noch nicht soweit war, ausreichend Treibmittel und
Konservierungsstoffe herzustellen um Brot über die langen Transporte
geniessbar zu halten und weil die meisten Leute noch Bauern waren, die
ohnehin ihren eigenen Backofen betrieben. Selbst meine Mutter wuchs noch
auf einem Hof auf, auf dem das eigene Brot gebacken wurde, bevor die
zurückweichende Wehrmacht sie zwang, vor dem russischen Feind zu
fliehen.

Genau! Das Produktionskapital hat sich nämlich *zuerst* z.B. mit der
Textilherstellung befasst (wenn ich es richtig weiß).
Nahrungsmittelproduktion dagegen hat noch sehr lange nach den alten
Prinzipien funktioniert, die aber heute zumindest in den
hochindustrialisierten Ländern nur noch absolute Nischen zwecks
Selbstentfaltung (auf dem überholten Produktivitätsniveau) sind.

Du unterstreichst selbst gerade noch, dass die Keimform *eben nicht*
in der Lage war, von Anfang an den Gesamtprozess organisieren. Die
Keimform hat sich vielmehr auf das konzentriert, was *für sie* auf dem
Stand der Produktivkraftentwicklung *wesen*tlich war

Aber diese Erkenntnis kannst du wohl nicht zulassen, denn sonst
müsstest du hier nicht gnadenlos biegen:

Aber das Produktionskapital gab den ansonsten mittellosen
Produzenten die notwendigen Brötchen (in Form von Talern) in die Hand.

Eben *Taler* und *nicht* die notwendigen Brötchen!! Das
Produktionskapital gab den LohnarbeiterInnen, das, was es geben
konnte: Geld, Arbeit und Produkte, die sich gut industriell fertigen
ließen. Wie sich das dann mit den Brötchen regelt, war der einzelnen
KapitalistIn damals so herzlich egal wie es ihnen es heute noch ist
und auch das Gesamtkapital "war froh", dass es nicht von Anfang an den
ganzen Laden übernehmen musste, sondern auf Überkommenem aufbauen
konnte. Das Produktionskapital war ja zunächst und sehr lange unfähig
Brötchen zu produzieren. Dass es die gesamte Brötchenproduktion
dennoch bald durchdrungen hat, zeigt wie die kapitalistische
Gesellschaftsformation sich insgesamt durchsetzen konnte. Übernommen
im Sinne von Industrieproduktion kam aber erst relativ spät.

Und in der Tat konnte sich die damalige Keimform auf das stützen, was
es vorher schon gab: Geldwirtschaft. Nur mit dem erheblichen
Unterschied, dass die Geldwirtschaft in der vorherigen
gesellschaftlichen Formation vor allem für die Mächtigen wichtig war -
nämlich für die Fürsten zum Bezahlen ihrer Kriege. Interessant auch:
Computer sind wie oben argumentiert heute auch vor allem für die heute
Mächtigen wichtig.

Es konnte sich also nur durchsetzen, weil es bereit in statu nascendi
(im Augenblick der Entstehung) in der Lage war, das (Über)Leben der
doppelt freien Produzenten zu sichern.

Und genau das ist nicht wahr. Das frühe Produktionskapital war dazu
genauso unfähig, wie...

Wessen Überleben aber sichert die
Freie Software?

...es die Freie Software heute ist. Wie uns der Kapitalismus aber
gezeigt hat, sagt das überhaupt nichts über die Potentiale einer
Entwicklung.

Die Einzigen die mir dabei vielleicht einfallen sind
die, die die Freie Software verpacken und diese Beipacks samt FS
verkaufen. Die sind sozusagen Pendants zu den Verlegern von Nature und
Science u.a.

Die Freie Software macht das Internet möglich (nicht M$ -
glücklicherweise). Freie Software ist auch auf dem Desktop für immer
mehr Leute nützlich. Freie Software als Keimform versorgt die Menschen
mit dem, was Freie Software kann: Freier Software - und neuem, auch
politischen Gedankengut möchte ich als Oekonuxi hinzufügen. Darin
unterscheidet sie sich von der Keimformeigenschaft her in *nichts* vom
frühen Kapital.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de


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