[ox] TELEPOLIS: Memetik und Oekonomie
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- Date: Wed, 4 Dec 2002 12:28:26 +0100
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Ersetze in folgendem Text "Mem" durch "Wert" und er wird wahr ;-)
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Memetik und Ökonomie
Rolf Breitenstein 03.12.2002
Wie die Information die Wirtschaft nach ihrem Interesse lenkt
Die Information gilt in der Ökonomie immer als etwas, was da ist, an
sich aber harmlos ist. Information wird als Wissen verstanden, um etwas
anders oder besser zu machen. Wer es hat, hat Vorteile, wer es nicht
hat, macht so weiter, wie bisher. Die Information wird von den
Wirtschaftswissenschaftlern gehegt und gepflegt, sie ist ihr liebstes
Kind, denn wer mehr weiß, kann mehr richtig machen. Das
Wissensmanagement ist der Versuch, aus den im Unternehmen vorhandenen
Informationen Profite zu machen. Informationen sind nett und
ungefährlich.
So die Ansicht vieler Managementtheoretiker und -praktiker. Eine
andere, bisher in dem Bereich unbemerkte Richtung, schiebt der
Information den schwarzen Peter zu. Information ist böse, und je mehr
wir davon haben, desto schlechter geht es uns. Das Naschen von Baum der
Erkenntnis war schon im Paradies eine Sünde, warum sollte sich dies
geändert haben?
Lange Zeit hat man mit dieser biblischen Botschaft nichts anfangen
können, bis Richard Dawkins, ein Zoologe, das Memkonzept erschuf. Er
war derjenige, der der Information den eigenen Willen zuschrieb.
Eigentlich befasste er sich mit Genen und formulierte Darwins
Evolutionstheorie aus einer aufschlussreichen Perspektive neu.
Gene sind Informationen, die auf Aminosäuren gespeichert sind. Sie
haben nur den einen Willen und zwar den, zu überleben. Eine
Information, die diesen Überlebenswillen nicht hat, verschwindet von
der Welt, wenn sich ihre Trägersubstanz durch Materialermüdung auflöst.
Eine überlebenswillige Variante muss also permanent Kopien von sich
anfertigen, um dem kontinuierlichen Zerfall zuvor zu kommen. Die
genetische Information, als eine der ersten Informationen schlechthin
auf der Erde, erfand hierzu eine Vielzahl von Mechanismen. Wie auch
immer sie funktionieren, ist an dieser Stelle weniger interessant.
Wichtig ist, dass diese Information sich Hüllen, also Zellen, schuf,
die sich immer wieder teilten und damit die ganze Welt bevölkern
konnte. Informationen, die sich nicht eigenständig vervielfältigen
konnten, wurden irgendwann verdrängt. Menschen, Tiere und Pflanzen
vermehren sich in dem Sinne nur deshalb, damit ihre Erbinformation
nicht ausstirbt. Sie ist egoistisch und hat nur ihr eigenes
Fortbestehen im Sinn.
Information als ansteckender Virus
Nachdem das Konzept der Information mit dem eigenem Willen einmal
geschaffen war, konnte es auch verallgemeinert werden. Dawkins übertrug
das Konzept der egoistischen Gene auf alle anderen Informationen,
selbst die, die wir in unserem Kopf haben. Meme sind Ideen,
Vorstellungen, Rituale, Verhaltensanweisungen oder Gedanken, also
alles, was wir an Informationen in unserer geistigen Welt beherbergen
und worüber wir kommunizieren. Genau wie genetische
Informationseinheiten versuchen auch die Meme zu überleben und andere
ihrer Art zu verdrängen.
Brodie, ein ehemaliger Programmierer bei Microsoft, prägte das
negative Image der Meme ganz extrem ( [1]Die Evolution der Meme). Er
bezeichnete sie als Viren oder als Parasiten, die unser Gehirn belagern
und den Menschen dazu anregen über sie zu reden, damit ein Anderer nun
auch diese Meme hat. Die Information ist ganz im Gegensatz zu anderen
Sichtweisen nicht so harmlos, wie es scheint, sie ist eine gefährliche
Krankheit. So, wie man sich mit Pocken, Typhus oder Aids anstecken
kann, kann man auch Opfer von Modewellen, Managementtrends oder Kultur
werden - allerdings mit dem Unterschied, dass es gegen letzteres noch
keine zuverlässigen Impfstoffe gibt.
Die Gedanken und Ideen fressen sich eigenständig durch die
Gesellschaft, in der Hoffnung noch ein leeres Gehirn zu finden, in dem
sie weiterleben können. Genau wie die genetischen Informationen haben
die Meme bestimmte Tricks ausdifferenziert um unbemerkt neue Gehirne zu
besetzen. Bei Kettenbriefen wird dies deutlich:
"Dies ist ein Kettenbrief, er soll dich glücklich machen, schicke
ihn an 10 deiner besten Freunde. Wenn du es unterlässt, wird das
Unglück über dich kommen."
Grant erschuf ein [2]memetisches Lexikon, in dem er die einzelnen
Komponenten analysierte. Zuerst verkauft das Mem dem potenziellen
Träger seine eigentlich nicht existenten Vorzüge. Dann versucht es sich
von dort aus weiter zu vermehren. Dies scheint zu trivial, aber fast
jedes Glaubenssystem benutzt diese Mechanismen um in Raum und Zeit zu
überleben. Auf der einen Seite spricht es vom Paradies im Himmel, auf
der anderen Seite vom Missionieren. Wer sich dem entzieht, so sagt es
uns, wird in der Hölle schmoren. Je erfolgreicher eine Idee, desto
geschickter ihre Tricks um sich durchzusetzen.
Nicht die Menschen, die Produkte sind die Träger der wirtschaftlichen
Interessen
Das egoistische und böswillige an diesen Informationsparasiten wurde
bislang aus ökonomischer Perspektive nicht erkannt. Die Geldgier der
Manager verleitet sie in eine grenzenlose Naivität. Sie sehen nur die
versprochenen Vorteile der Information und übersehen das eigene
Interesse ihres Schmiermittels. Die Meme sind die Parasiten im System,
die die Menschen nach ihrer Pfeife tanzen lassen. Die Ökonomie ist auf
der Grundlage des gesunden Menschenverstandes konzipiert, und kommt
logischerweise zu dem Schluss, dass da wo keine Menschen sind, auch
keine Interessen sein können.
Im Rahmen eines memetischen Verständnisses von Wirtschaft ist das
anders. Nicht die Menschen versuchen in ihren Verträgen ihre Interessen
zu verwirklichen, sondern die Produkte, über die sie den Vertrag
schließen, veranlassen sie dazu, den Vertrag zu schließen. Beim
Autokauf sind also nicht mehr der Gebrauchtwagenhändler und der
ahnungslose Käufer die zentralen Akteure, sondern der rostige
Gebrauchtwagen wird zum entscheidenden Faktor. Es ist nicht mehr so,
dass sich Menschen dazu entschließen Häuser zu bauen, sondern dass die
Häuser durch ihre Existenz ihre Vorteile über den Schutz vor
Witterungseinflüssen und Kriminalität kommunizieren und sich damit
weitervermehren.
Die Menschheit wird immer wieder mit neuen Memen überschwemmt.
Bedürfnisse für hochhackige Schuhe, tiefergelegte Autos, Anzüge mit
Krawatten oder rotlackierte Fingernägel sind im Grunde nutzlos,
schaffen es aber immer wieder eine logische Rechtfertigung für ihre
Existenz zu finden. Alle diese kulturellen Errungenschaften sind
letztendlich nur für sich selber gut, werden vom Menschen aber
ökonomisch am Leben gehalten.
Die Meme verschieben Angebots- und Nachfragerelationen dahin, wo sie
nach vernünftiger Überlegung gar nicht sein dürften
Viele Hersteller von Modeartikeln sind froh, dass es solche Meme gibt,
denn nichts ist besser, als wenn ein möglichst einfaches Produkt ohne
jegliche Mithilfe einen reißenden Absatz findet. So wie sich die Einen
über die Meme freuen, fluchen Andere über sie. Es kommt immer wieder
vor, dass sich unscheinbare Ereignisse zu verhängnisvollen Tatsachen
auswachsen. Die Information, irgendwo in Schweden sei ein Auto
umgekippt, vermehrte sich mit hoher Geschwindigkeit in den Medien, so
dass Mercedes bei der Einführung seiner neuen A-Klasse eine klassische
Bauchlandung erlebte.
Auch eine kleine Anzahl von Demonstranten auf der Bohrinsel Brent Spar
produzierten in der Welt so viele Meme, dass Shell innerhalb weniger
Wochen einen Umsatzeinbruch von über 30% hinnehmen musste. Von anderen
Umweltskandalen wird nicht mehr geredet. Bayer musste wegen einigen
tragischen Ereignissen, zwei gerade eingeführte Produkte vom Markt
nehmen und kam damit liquiditätstechnisch ins Schleudern. Lipobay
vernichtete einige Menschenleben, die Meme dazu ein Vielfaches an
Arbeitsplätzen. Bei der Betrachtung der tatsächlichen Infektionsraten,
kann gesagt werden, dass das HIV-Virus eher in den menschlichen Köpfen,
als im menschlichen Blut zirkuliert.
Was auch immer die Meme für ein Unwesen treiben, oft werden
ökonomische Größen dadurch beeinflusst. Menschen kaufen plötzlich
etwas, oder kaufen etwas plötzlich nicht mehr. Autofahrer kaufen kein
Benzin mehr an der einen Tankstelle, obwohl das Benzin einer anderen
Tankstelle genauso viele Umweltschäden in der Produktion verursacht
hat. Der Markt für Kondome wäre bestimmt nicht so groß, wenn nur die
Leute sie kaufen würden, die sie auch wirklich brauchen. Die Meme leben
in unserer Unsicherheit, in den Nischen unseres Geistes und verschieben
Angebots- und Nachfragerelationen dahin, wo sie nach vernünftiger
Überlegung gar nicht sein dürften.
Sehr prägnant ist es mit Produkten, die nur aus Information bestehen.
Software und Musik im MP3-Format stellt ihre Schöpfer vor ein ganz
besonderes Problem. Sie haben genau wie Meme den egoistischen Wahn sich
zu vermehren, was dabei mit ihrem Schöpfer passiert, ist ihnen dann
egal. Wenn ein solches Produkt einmal das Fabrikgelände verlassen hat,
befinden sich in kürzester Zeit Tausende von Kopien im Umlauf. Das
Produkt übernimmt selbst die Marketing- oder Vertriebsfunktion und
besetzt eigenständig weite Bevölkerungsschichten. Das herstellende
Unternehmen muss jetzt sehen, wie es an die Erlöse kommt.
Sind für das irrationale Handeln der Menschen die Meme Schuld?
Die Memetik löst in der Ökonomie einen der zentralen Widersprüche auf.
Wirtschaftliche Entscheidungen werden nach der Theorie auf Grund von
Rationalität getroffen. Der Mensch versucht seinen Nutzen zu
maximieren, handelt also so, dass er zwischen Aufwand und Ertrag bzw.
Input und Output ein für sich günstiges Verhältnis realisiert.
Viele haben diese Konzept bisher kritisiert, da es in vielen Fällen
gar nicht mit der Realität übereinstimmt. Meistens wird argumentiert,
der Mensch kann nicht über alle entscheidungsrelevanten Informationen
verfügen, die er für eine rationale Entscheidung benötigt. Das stimmt,
er verfügt nur über die Information, die ihn bis zum
Entscheidungszeitpunkt besiedelt hat. Er entscheidet auf Grund der
Meme, die so geschickt und egoistisch waren, sich in seinem Kopf
niederzulassen. Damit sie überleben, geben sie dem Menschen eine
Realität vor, die ihn so entscheiden lässt, dass die Meme sich weiter
vermehren können.
Anders formuliert: Irrational handeln heißt, dass der Mensch
offensichtlich gegen seinen Willen handelt, denn wenn er nach seinem
Willen oder nach seinem Interesse handeln würde, würde er rational
handeln. Wenn ein Mensch nun irrational handelt, manifestiert sich in
seinem Tun das Vermehrungsinteresse der Meme.
Die Ökonomie ist nun neben dem Interesse der Menschen auch mit dem
Interesse der Meme konfrontiert. Das erscheint auf den ersten Blick
problematisch, weil die Meme nicht sichtbar sind, aber trotzdem ihre
Finger im Spiel haben sollen. Auf den zweiten Blick hat diese
Wissenschaft schon ihre Tradition mit Elementen, die transzendental
über den Dingen schweben. Der Auktionator oder die unsichtbare Hand bei
Adam Smith sind genauso wirkungsvoll wie das virtuelle und egoistische
Interesse der Meme.
Literatur (1)
Links
[1] http://www.heise.de/tp/deutsch/special/mem/2081/1.html
[2] http://virus.lucifer.com/lexicon.html
Artikel-URL: http://www.telepolis.de/deutsch/special/mem/13649/1.html
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Literatur
Breitenstein, R. (2002): Memetik und Ökonomie - Wie die Meme Märkte
und Organisationen bestimmen. Lit-Verlag, Münster.
Blackmore, S. (2000): Die Macht der Meme. Heidelber.-Berlin.
Brodie, R. (1996): Virus of the Mind - The new Science of the Meme.
Seattle. Dawkins, R. (1976): Das egoistische Gen. Oxford. Lynch, A.
(1996): Thought Contagion: How Belief Spreads Through Society. New
York.
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