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[ox] Sprachspiel, Wahrheit, Macht



Liebe Liste,

weil ich dachte, dass es vielleicht sinnvoll sei, zum Begriff des
Sprachspiels noch ein paar Hinweise zu geben, habe ich mal nach
"Wittgenstein Sprachspiel" gegooglet. Ganz interessant. Nett zu lesen
ist das Interview in

	http://www.stud.uni-hannover.de/user/69332/texte/spiel.html

und ein wenig ausführlicher

	http://www.sicetnon.cogito.de/artikel/historie/witti.htm

Ich beziehe mich mit meinem Halbwissen übrigens auf den späten
Wittgenstein.

Einen Artikel fand ich aber besonders interessant, weil er viele
Threads der letzten Zeit hier ganz nett auf überraschende(?) Weise
bündelt. Gefunden habe ich ihn unter

	http://www.philosophische-praxis.at/nihilismus.html

aber weil er so vieles hier bündelt, anbei komplett. Gibt sicher zu
denken.


						Mit Freien Grüßen

						Stefan

PS: Ich war schon stark am überlegen, diese Mail nach `chat' zu
schicken, aber weil sie mehrere Threads hier aufgreift, lasse ich es
mal hier - obwohl es schon ziemlich off-topic ist :-( .

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                              Unendliche Sinne

   Philosophischer Nihilismus muss nicht zwangsläufig in Depression enden
            - als Lob der Vielfalt kann er Bescheidenheit lehren


   Copyright: Eugen-Maria Schulak
   Veröffentlicht in der Wiener Zeitung vom 26. Mai 2000


   Schon in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhundert haben
   mitteleuropäische Denker damit begonnen, Begriffe wie "wirklich" oder
   "wahr" quasi unter Anführungszeichen zu setzen. Das Wirkliche wurde
   sukzessive zu etwas Relativem, gleich einem Standpunkt oder einer
   Perspektive. Nach dem zweiten Weltkrieg, spätestens aber mit dem
   Zusammenbruch des realen Sozialismus war der philosophische Nihilismus
   in Europa dann in aller Munde. Die etablierten Weltbilder
   zersplitterten und dementsprechend wuchs die allgemeine Unsicherheit.

   Das philosophische Denken, so scheint es, hat heute Abschied genommen
   von der Idee, alles auf einen Nenner und einen Punkt bringen zu
   müssen, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Es präsentiert sich
   mehr denn je als Vielfalt und als schillerndes Panoptikum. Die
   zeitgemäße Utopie ist es, fixe Punkte nicht mehr zu brauchen. Der
   Trend geht dahin, die traditionelle Harmoniebedürftigkeit ad acta zu
   legen, um vor dem Chaos endgültig zu ernüchtern. Diese philosophische
   Berücksichtigung aller möglichen Kontexte, d.h. letztlich die Demut
   vor dem Unermesslichen und Unabwägbaren, hat freilich etwas
   Erschütterndes an sich. Fehlt nämlich das Bewusstsein für die Kraft
   des Absoluten, löst sich die Welt in Relationen auf.


   Wahrheit ist Menschenwerk

   Dieses Problem wurde in Ansätzen bereits in der Antike formuliert.
   Schon die Sophisten stellten die Möglichkeit absoluter Erkenntnis
   grundsätzlich in Frage. Ihr berühmtester Vertreter, Protagoras,
   behauptete, "dass man über jede Sache mit gleichem Recht nach beiden
   Seiten diskutieren kann" und die Wahrheit folglich zu den "relativen
   Dingen" gehört. Und dies deshalb, weil "dem einen die Dinge anders
   erscheinen und sind als dem anderen". Die Menschen, so Protagoras,
   "erfassen bald das eine, bald das andere, entsprechend ihren eigenen
   verschiedenen Zuständen". Sie sind in das, was sie erfassen, notwendig
   involviert.

   Das Erfasste, die Erkenntnis, wird jeweils einen Stempel tragen, der
   von den Zielen und den Zwecken eines Menschen zu berichten weiß. Und
   dieser Mensch ist nicht allein. Auch er verweist auf etwas, steht in
   Beziehung und Verflechtung mit der Kultur und mit den Werten seiner
   Zeit. Nun sind "Werte" und "Kultur" aber Produkte menschlicher
   Bemühungen. Und so ist letztlich alle Wahrheit immer selbstgemacht,
   aus Menschenhand. Hier steckt kein Absolutes, keine göttliche
   Ideenwelt dahinter, auf die man sich verlassen könnte: "Der Mensch",
   so Protagoras, "ist der Maßstab aller Dinge, der Seienden, dass sie
   sind, der Nichtseienden, dass sie nicht sind". Der Mensch ist die
   Zentralfigur, der Wertmesser und Mittelpunkt, alle Beziehungen gehen
   von ihm aus.

   Wenn aber jede Einsicht, jede Wahrheit bloß am Menschen hängt, alles
   nur relativen Wert und relative Gültigkeit hat, dann muss der, der
   solches denkt, will er konsequent sein, auch seine eigene Relativität
   behaupten. Protagoras ist sich dessen bewusst. Und so kann man,
   behauptet er, nicht nur "über jede Sache mit gleichem Recht nach
   beiden Seiten diskutieren", sondern auch "eben darüber, ob sich über
   jede Sache nach beiden Seiten diskutieren lasse". Damit wird letztlich
   alles zu hinterfragen sein, selbst der eigene Ansatz. Dem Ansatz
   selbst tut dies in seinen Zwecken keinen Abbruch - im Gegenteil.

   Dass sich alles von verschiedenen Standpunkten aus betrachten lässt,
   scheint unmittelbar verständlich zu sein. Doch dass die Vielfalt zu
   Bewusstsein kommt und dann der Einfalt auf die Sprünge hilft, ist
   überaus selten. In der Regel klammern wir uns, Ertrinkenden gleich, an
   jenem Stückchen Wahrheit fest, das uns durch allerlei Zufall zuteil
   geworden ist. Wir meinen, dass unser Selbst an diesem Stückchen seine
   Wurzeln hat. So erreichen wir viel. Doch wir verlieren auch: Ganz
   bewusst verdichten wir das Denken um gewisse Regionen, fördern deren
   Durchblutung und nehmen in Kauf, dass uns der Rest der Welt verloren
   geht. Freilich: Tun wir dies nicht, haben wir auch nichts Konkretes in
   der Hand. So konzentrieren wir uns. Wir wählen und entscheiden, und
   indem wir uns für etwas entscheiden, entscheiden wir uns in einem Zug
   auch gegen das, was diesem Einen dann entgegensteht.

   Wir sollten deshalb, so Nietzsche in diesem Kontext, einmal "das
   Perspektivische in jeder Wertschätzung begreifen lernen [...] und die
   ganze intellektuelle Einbuße, mit der sich jedes Für, jedes Wider
   bezahlt macht". Wir sollten "die notwendige Ungerechtigkeit in jedem
   Für und Wider begreifen lernen, die Ungerechtigkeit als unablösbar vom
   Leben". Die Welt wird uns dann "noch einmal unendlich" werden, da wir
   die Möglichkeit keineswegs ausschließen können, dass sie "unendliche
   Interpretationen" in sich birgt. Es wird uns zu Bewusstsein kommen,
   dass es nicht eine Wahrheit, einen Sinn, sondern "unendliche Sinne" zu
   entdecken gilt, und dass sie niemals Tatsachen sind, denn: "Gerade
   Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen". Jede Erkenntnis ist
   ihrem Wesen nach "etwas Setzendes, Erdichtendes, Fälschendes"; jede
   Philosophie, die sich im Vollgefühl der Wahrheit glaubt, bloß eine
   "lächerliche Unbescheidenheit".

   Für Nietzsche ist das Phänomen des Nihilismus auch ein Kennzeichen
   gesellschaftlichen Umbruchs. So ist er einerseits "Symptom davon, dass
   die Schlechtweggekommenen keinen Trost mehr haben", den sie in Form
   der Religion in früheren Zeiten durchaus hatten. Die Folgen sind
   generelle Unlust am Dasein, das Gefühl eines allgemeinen "Umsonst",
   Resignation und Passivität. Andererseits ist "Nihilismus" aber auch
   das "Anzeichen für ein einschneidendes und allerwesentlichstes
   Wachstum, für den Übergang in neue Daseinsbedingungen". Im Gegensatz
   zum Nihilismus der schlecht Weggekommenen tritt dieser aktive
   Nihilismus vor allem "bei günstiger gestalteten Verhältnissen auf.
   Schon, dass die Moral als überwunden empfunden wird, setzt einen
   ziemlichen Grad geistiger Kultur voraus; diese wieder ein relatives
   Wohlleben". "Nihilismus" ist für Nietzsche demnach nur insofern von
   Vorteil, als er einen auch nicht psychisch ruiniert. Für schlecht
   Weggekommene, für Menschen ohne Esprit und Lichtblick ist er das
   reinste Gift.


   Relativität der Sprache

   Auch das Problem der Relativität der Sprache warf bereits in der
   Antike nihilistische Gedanken auf. "Das Organ", so der griechische
   Philosoph Gorgias, "wodurch wir etwas mitteilen, ist das Wort. Das
   Wort aber ist nicht das Ding, das existiert. Wir teilen unseren
   Mitmenschen also nicht die Dinge mit, sondern Worte, die von den
   Dingen selber ganz verschieden sind". Die Dinge und die Worte, welche
   die Dinge bezeichnen wollen, sind miteinander nicht ident. Dinge
   repräsentieren unsere Außenwelt, Worte unsere Gedanken. Beide stehen
   freilich in Beziehung zueinander. Diese Beziehung kann einfach, doch
   auch problematisch sein, "denn auch die Skylla und die Chimaira", so
   Gorgias, "und vieles andere, was nicht existiert, kann man sich
   denken". Umgekehrt gibt es Dinge, von denen sich nur mit Mühe sprechen
   lässt, obwohl sie zweifellos zu existieren scheinen.

   Doch selbst wenn das Verhältnis zwischen Ding und Wort ein klares
   wäre, hätte man das Problem der Sprache damit noch keineswegs gelöst.
   Denn "wenn es auch möglich ist, ein Wort zu vernehmen, ja genau zu
   vernehmen - wie ist es möglich, dass sich der Hörende dasselbe wie der
   Redende darunter vorstellt?" - "Wo nun solche Schwierigkeiten
   aufgeworfen sind", so Gorgias, "ist das Kriterium der Wahrheit
   zunichte gemacht". Bloß: Die Sprache, ist das Medium der Philosophie.

   Wie sich aber "Sprache" als Gesamtphänomen nur in der Vielfalt ihrer
   weltweiten Ausprägungen zeigt, ist auch die Einzelform für sich erst
   in den vielfältigen Arten ihres Gebrauchs greifbar. Die Sprachen der
   Dichter, Arbeiter, Jäger und Computerfachleute werden unter Umständen
   um nichts weniger differieren als jene der Chinesen, Deutschen, Araber
   und Eskimos. Auch ob man ein und dasselbe Wort innerhalb eines
   Befehls, eines Theaterstücks oder eines Witzes verwendet, ob man mit
   diesem Wort "bittet, dankt, flucht, grüßt oder betet", wie
   Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen schreibt, ist
   für die tiefere Bedeutung dieses Wortes keineswegs gleichgültig.

   Der Sinn der Worte entsteht demnach erst innerhalb eines praktischen
   Zusammenhanges. Diesen Kontext nennt Wittgenstein "Sprachspiel". Denn
   wie beim Spielen eines Brettspiels, bei dem wir die Spielfiguren nach
   bestimmten Regeln nach und nach verschieben, setzen wir auch beim
   Spielen eines "Sprachspiels" Worte und Sätze regelhaft ein. Diese
   Regeln sind freilich komplexer als jene eines Brettspiels. Gleich
   Organismen entziehen sie sich der vollständigen Analyse.

   Die Komplexität der Sprache ergibt sich aus dem Umstand, dass es sich
   beim Sprechen eben nicht bloß um den Gebrauch von Wörtern und Sätzen
   handelt. Gebärden, psychische Verhaltensmuster, implizite Bedeutungen,
   Ziele, Zwecke, Vergangenheit und Zukunft, ja der komplette soziale
   Kontext, in dem sich der Sprecher und sein(e) Hörer befinden, geben
   dem Gesagten erst seine volle und wahre Bedeutung.

   Ein "Sprachspiel" zu beschreiben, kommt dem Erzählen einer langen,
   vielleicht unendlichen Geschichte gleich. Sprache, so Wittgenstein,
   ist "Teil einer Tätigkeit". Sich diese Tätigkeit umfassend vorstellen,
   heißt, "sich eine Lebensform vorstellen". Das "Sprachspiel", das ich
   spiele, die Lebensform, die ich lebe, bestimmt mein Weltbild. Und wie
   es nicht nur ein Spiel gibt, gibt es auch nicht nur eine Wahrheit.
   Diese Mannigfaltigkeit gilt es philosophisch zu verkraften und
   letztlich zu verstehen. Denn: "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die
   Grenzen meiner Welt".

   In der "Zerstreuung von Sprachspielen", so Lyotard im Anschluss an
   Wittgenstein, "scheint sich das soziale Subjekt selbst aufzulösen.
   Jeder ist auf sich selbst zurückgeworfen. Und jeder weiß, dass dieses
   Selbst wenig ist". Versucht man dem Gewirr an Stimmen eine klare Linie
   zu geben, tut man der Heterogenität der Sprachspiele zwangsläufig
   Gewalt an. Und zwar deshalb, weil "eine universale Urteilsregel in
   Bezug auf ungleichartige Diskursarten im Allgemeinen fehlt".
   Gerechterweise lässt sich die Welt nur in einer Vielzahl von
   Lebensformen, Differenzen, Widersprüchen und Gegensätzen fassen. Der
   Wunsch nach Einfachheit und klarer Linie kommt dagegen einer
   Kriegserklärung gleich. Als Ziel der Diskussion den Konsens anzusehen,
   ist blanke Aggression.


   Verhängnisvolle Ganzheit

   "Wir haben die Sehnsucht"
   , so Lyotard, "nach dem Ganzen und dem Einen [...] teuer bezahlt". Das
   kollektive Ziehen an einem Strang, der Gedanke des einen Ziels, an dem
   alle beteiligt sein sollen, an dem alle mitarbeiten müssen, hat
   letztlich die Schreckensherrschaft des Kommunismus wie den Faschismus
   produziert. Die Subsumierung vieler unter ein einziges Ziel erwies
   sich als verhängnisvoll. Demgegenüber "muss nunmehr die Betonung auf
   den Dissens gelegt werden". Dies "verfeinert", so Lyotard, "unsere
   Sensibilität [...] und verstärkt unsere Fähigkeit, das Inkommensurable
   zu ertragen".

   Dem philosophischen Nihilismus, so könnte man zusammenfassend sagen,
   geht es vorrangig um die Zerstreuung von Macht, um die Auflösung jeder
   Form von überindividuell fundierter Ganzheit, da diese als die Wurzel
   des Terrors und der Ungerechtigkeit begriffen wird. Stattdessen wird
   der Vielfalt an Perspektiven, Lebensformen, Denkstilen und
   Sprachspielen weitgehend Tribut gezollt.

   Dies hat die Auflösung des Wahrheitsbegriffes und eine fundamentale
   Skepsis zur Folge. Ob dieser Nullpunkt allen Denkens Paralyse und
   Dekadenz bedeutet oder den Sprung ins Wunderland der Philosophie, wird
   eine Frage der Konstitution des Einzelnen sein. Die Euphorie freilich
   ist in jedem Fall gedämpft: Das Philosophieren übt sich in maßvoller
   Bescheidenheit, der Weg wird zum Ziel der Bewegung.

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Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



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