[ox] Sprachspiel, Wahrheit, Macht
- From: Stefan Merten <smerten oekonux.de>
- Date: Fri, 21 Feb 2003 21:43:27 +0100
Liebe Liste,
weil ich dachte, dass es vielleicht sinnvoll sei, zum Begriff des
Sprachspiels noch ein paar Hinweise zu geben, habe ich mal nach
"Wittgenstein Sprachspiel" gegooglet. Ganz interessant. Nett zu lesen
ist das Interview in
http://www.stud.uni-hannover.de/user/69332/texte/spiel.html
und ein wenig ausführlicher
http://www.sicetnon.cogito.de/artikel/historie/witti.htm
Ich beziehe mich mit meinem Halbwissen übrigens auf den späten
Wittgenstein.
Einen Artikel fand ich aber besonders interessant, weil er viele
Threads der letzten Zeit hier ganz nett auf überraschende(?) Weise
bündelt. Gefunden habe ich ihn unter
http://www.philosophische-praxis.at/nihilismus.html
aber weil er so vieles hier bündelt, anbei komplett. Gibt sicher zu
denken.
Mit Freien Grüßen
Stefan
PS: Ich war schon stark am überlegen, diese Mail nach `chat' zu
schicken, aber weil sie mehrere Threads hier aufgreift, lasse ich es
mal hier - obwohl es schon ziemlich off-topic ist :-( .
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Unendliche Sinne
Philosophischer Nihilismus muss nicht zwangsläufig in Depression enden
- als Lob der Vielfalt kann er Bescheidenheit lehren
Copyright: Eugen-Maria Schulak
Veröffentlicht in der Wiener Zeitung vom 26. Mai 2000
Schon in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhundert haben
mitteleuropäische Denker damit begonnen, Begriffe wie "wirklich" oder
"wahr" quasi unter Anführungszeichen zu setzen. Das Wirkliche wurde
sukzessive zu etwas Relativem, gleich einem Standpunkt oder einer
Perspektive. Nach dem zweiten Weltkrieg, spätestens aber mit dem
Zusammenbruch des realen Sozialismus war der philosophische Nihilismus
in Europa dann in aller Munde. Die etablierten Weltbilder
zersplitterten und dementsprechend wuchs die allgemeine Unsicherheit.
Das philosophische Denken, so scheint es, hat heute Abschied genommen
von der Idee, alles auf einen Nenner und einen Punkt bringen zu
müssen, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen. Es präsentiert sich
mehr denn je als Vielfalt und als schillerndes Panoptikum. Die
zeitgemäße Utopie ist es, fixe Punkte nicht mehr zu brauchen. Der
Trend geht dahin, die traditionelle Harmoniebedürftigkeit ad acta zu
legen, um vor dem Chaos endgültig zu ernüchtern. Diese philosophische
Berücksichtigung aller möglichen Kontexte, d.h. letztlich die Demut
vor dem Unermesslichen und Unabwägbaren, hat freilich etwas
Erschütterndes an sich. Fehlt nämlich das Bewusstsein für die Kraft
des Absoluten, löst sich die Welt in Relationen auf.
Wahrheit ist Menschenwerk
Dieses Problem wurde in Ansätzen bereits in der Antike formuliert.
Schon die Sophisten stellten die Möglichkeit absoluter Erkenntnis
grundsätzlich in Frage. Ihr berühmtester Vertreter, Protagoras,
behauptete, "dass man über jede Sache mit gleichem Recht nach beiden
Seiten diskutieren kann" und die Wahrheit folglich zu den "relativen
Dingen" gehört. Und dies deshalb, weil "dem einen die Dinge anders
erscheinen und sind als dem anderen". Die Menschen, so Protagoras,
"erfassen bald das eine, bald das andere, entsprechend ihren eigenen
verschiedenen Zuständen". Sie sind in das, was sie erfassen, notwendig
involviert.
Das Erfasste, die Erkenntnis, wird jeweils einen Stempel tragen, der
von den Zielen und den Zwecken eines Menschen zu berichten weiß. Und
dieser Mensch ist nicht allein. Auch er verweist auf etwas, steht in
Beziehung und Verflechtung mit der Kultur und mit den Werten seiner
Zeit. Nun sind "Werte" und "Kultur" aber Produkte menschlicher
Bemühungen. Und so ist letztlich alle Wahrheit immer selbstgemacht,
aus Menschenhand. Hier steckt kein Absolutes, keine göttliche
Ideenwelt dahinter, auf die man sich verlassen könnte: "Der Mensch",
so Protagoras, "ist der Maßstab aller Dinge, der Seienden, dass sie
sind, der Nichtseienden, dass sie nicht sind". Der Mensch ist die
Zentralfigur, der Wertmesser und Mittelpunkt, alle Beziehungen gehen
von ihm aus.
Wenn aber jede Einsicht, jede Wahrheit bloß am Menschen hängt, alles
nur relativen Wert und relative Gültigkeit hat, dann muss der, der
solches denkt, will er konsequent sein, auch seine eigene Relativität
behaupten. Protagoras ist sich dessen bewusst. Und so kann man,
behauptet er, nicht nur "über jede Sache mit gleichem Recht nach
beiden Seiten diskutieren", sondern auch "eben darüber, ob sich über
jede Sache nach beiden Seiten diskutieren lasse". Damit wird letztlich
alles zu hinterfragen sein, selbst der eigene Ansatz. Dem Ansatz
selbst tut dies in seinen Zwecken keinen Abbruch - im Gegenteil.
Dass sich alles von verschiedenen Standpunkten aus betrachten lässt,
scheint unmittelbar verständlich zu sein. Doch dass die Vielfalt zu
Bewusstsein kommt und dann der Einfalt auf die Sprünge hilft, ist
überaus selten. In der Regel klammern wir uns, Ertrinkenden gleich, an
jenem Stückchen Wahrheit fest, das uns durch allerlei Zufall zuteil
geworden ist. Wir meinen, dass unser Selbst an diesem Stückchen seine
Wurzeln hat. So erreichen wir viel. Doch wir verlieren auch: Ganz
bewusst verdichten wir das Denken um gewisse Regionen, fördern deren
Durchblutung und nehmen in Kauf, dass uns der Rest der Welt verloren
geht. Freilich: Tun wir dies nicht, haben wir auch nichts Konkretes in
der Hand. So konzentrieren wir uns. Wir wählen und entscheiden, und
indem wir uns für etwas entscheiden, entscheiden wir uns in einem Zug
auch gegen das, was diesem Einen dann entgegensteht.
Wir sollten deshalb, so Nietzsche in diesem Kontext, einmal "das
Perspektivische in jeder Wertschätzung begreifen lernen [...] und die
ganze intellektuelle Einbuße, mit der sich jedes Für, jedes Wider
bezahlt macht". Wir sollten "die notwendige Ungerechtigkeit in jedem
Für und Wider begreifen lernen, die Ungerechtigkeit als unablösbar vom
Leben". Die Welt wird uns dann "noch einmal unendlich" werden, da wir
die Möglichkeit keineswegs ausschließen können, dass sie "unendliche
Interpretationen" in sich birgt. Es wird uns zu Bewusstsein kommen,
dass es nicht eine Wahrheit, einen Sinn, sondern "unendliche Sinne" zu
entdecken gilt, und dass sie niemals Tatsachen sind, denn: "Gerade
Tatsachen gibt es nicht, nur Interpretationen". Jede Erkenntnis ist
ihrem Wesen nach "etwas Setzendes, Erdichtendes, Fälschendes"; jede
Philosophie, die sich im Vollgefühl der Wahrheit glaubt, bloß eine
"lächerliche Unbescheidenheit".
Für Nietzsche ist das Phänomen des Nihilismus auch ein Kennzeichen
gesellschaftlichen Umbruchs. So ist er einerseits "Symptom davon, dass
die Schlechtweggekommenen keinen Trost mehr haben", den sie in Form
der Religion in früheren Zeiten durchaus hatten. Die Folgen sind
generelle Unlust am Dasein, das Gefühl eines allgemeinen "Umsonst",
Resignation und Passivität. Andererseits ist "Nihilismus" aber auch
das "Anzeichen für ein einschneidendes und allerwesentlichstes
Wachstum, für den Übergang in neue Daseinsbedingungen". Im Gegensatz
zum Nihilismus der schlecht Weggekommenen tritt dieser aktive
Nihilismus vor allem "bei günstiger gestalteten Verhältnissen auf.
Schon, dass die Moral als überwunden empfunden wird, setzt einen
ziemlichen Grad geistiger Kultur voraus; diese wieder ein relatives
Wohlleben". "Nihilismus" ist für Nietzsche demnach nur insofern von
Vorteil, als er einen auch nicht psychisch ruiniert. Für schlecht
Weggekommene, für Menschen ohne Esprit und Lichtblick ist er das
reinste Gift.
Relativität der Sprache
Auch das Problem der Relativität der Sprache warf bereits in der
Antike nihilistische Gedanken auf. "Das Organ", so der griechische
Philosoph Gorgias, "wodurch wir etwas mitteilen, ist das Wort. Das
Wort aber ist nicht das Ding, das existiert. Wir teilen unseren
Mitmenschen also nicht die Dinge mit, sondern Worte, die von den
Dingen selber ganz verschieden sind". Die Dinge und die Worte, welche
die Dinge bezeichnen wollen, sind miteinander nicht ident. Dinge
repräsentieren unsere Außenwelt, Worte unsere Gedanken. Beide stehen
freilich in Beziehung zueinander. Diese Beziehung kann einfach, doch
auch problematisch sein, "denn auch die Skylla und die Chimaira", so
Gorgias, "und vieles andere, was nicht existiert, kann man sich
denken". Umgekehrt gibt es Dinge, von denen sich nur mit Mühe sprechen
lässt, obwohl sie zweifellos zu existieren scheinen.
Doch selbst wenn das Verhältnis zwischen Ding und Wort ein klares
wäre, hätte man das Problem der Sprache damit noch keineswegs gelöst.
Denn "wenn es auch möglich ist, ein Wort zu vernehmen, ja genau zu
vernehmen - wie ist es möglich, dass sich der Hörende dasselbe wie der
Redende darunter vorstellt?" - "Wo nun solche Schwierigkeiten
aufgeworfen sind", so Gorgias, "ist das Kriterium der Wahrheit
zunichte gemacht". Bloß: Die Sprache, ist das Medium der Philosophie.
Wie sich aber "Sprache" als Gesamtphänomen nur in der Vielfalt ihrer
weltweiten Ausprägungen zeigt, ist auch die Einzelform für sich erst
in den vielfältigen Arten ihres Gebrauchs greifbar. Die Sprachen der
Dichter, Arbeiter, Jäger und Computerfachleute werden unter Umständen
um nichts weniger differieren als jene der Chinesen, Deutschen, Araber
und Eskimos. Auch ob man ein und dasselbe Wort innerhalb eines
Befehls, eines Theaterstücks oder eines Witzes verwendet, ob man mit
diesem Wort "bittet, dankt, flucht, grüßt oder betet", wie
Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen schreibt, ist
für die tiefere Bedeutung dieses Wortes keineswegs gleichgültig.
Der Sinn der Worte entsteht demnach erst innerhalb eines praktischen
Zusammenhanges. Diesen Kontext nennt Wittgenstein "Sprachspiel". Denn
wie beim Spielen eines Brettspiels, bei dem wir die Spielfiguren nach
bestimmten Regeln nach und nach verschieben, setzen wir auch beim
Spielen eines "Sprachspiels" Worte und Sätze regelhaft ein. Diese
Regeln sind freilich komplexer als jene eines Brettspiels. Gleich
Organismen entziehen sie sich der vollständigen Analyse.
Die Komplexität der Sprache ergibt sich aus dem Umstand, dass es sich
beim Sprechen eben nicht bloß um den Gebrauch von Wörtern und Sätzen
handelt. Gebärden, psychische Verhaltensmuster, implizite Bedeutungen,
Ziele, Zwecke, Vergangenheit und Zukunft, ja der komplette soziale
Kontext, in dem sich der Sprecher und sein(e) Hörer befinden, geben
dem Gesagten erst seine volle und wahre Bedeutung.
Ein "Sprachspiel" zu beschreiben, kommt dem Erzählen einer langen,
vielleicht unendlichen Geschichte gleich. Sprache, so Wittgenstein,
ist "Teil einer Tätigkeit". Sich diese Tätigkeit umfassend vorstellen,
heißt, "sich eine Lebensform vorstellen". Das "Sprachspiel", das ich
spiele, die Lebensform, die ich lebe, bestimmt mein Weltbild. Und wie
es nicht nur ein Spiel gibt, gibt es auch nicht nur eine Wahrheit.
Diese Mannigfaltigkeit gilt es philosophisch zu verkraften und
letztlich zu verstehen. Denn: "Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die
Grenzen meiner Welt".
In der "Zerstreuung von Sprachspielen", so Lyotard im Anschluss an
Wittgenstein, "scheint sich das soziale Subjekt selbst aufzulösen.
Jeder ist auf sich selbst zurückgeworfen. Und jeder weiß, dass dieses
Selbst wenig ist". Versucht man dem Gewirr an Stimmen eine klare Linie
zu geben, tut man der Heterogenität der Sprachspiele zwangsläufig
Gewalt an. Und zwar deshalb, weil "eine universale Urteilsregel in
Bezug auf ungleichartige Diskursarten im Allgemeinen fehlt".
Gerechterweise lässt sich die Welt nur in einer Vielzahl von
Lebensformen, Differenzen, Widersprüchen und Gegensätzen fassen. Der
Wunsch nach Einfachheit und klarer Linie kommt dagegen einer
Kriegserklärung gleich. Als Ziel der Diskussion den Konsens anzusehen,
ist blanke Aggression.
Verhängnisvolle Ganzheit
"Wir haben die Sehnsucht"
, so Lyotard, "nach dem Ganzen und dem Einen [...] teuer bezahlt". Das
kollektive Ziehen an einem Strang, der Gedanke des einen Ziels, an dem
alle beteiligt sein sollen, an dem alle mitarbeiten müssen, hat
letztlich die Schreckensherrschaft des Kommunismus wie den Faschismus
produziert. Die Subsumierung vieler unter ein einziges Ziel erwies
sich als verhängnisvoll. Demgegenüber "muss nunmehr die Betonung auf
den Dissens gelegt werden". Dies "verfeinert", so Lyotard, "unsere
Sensibilität [...] und verstärkt unsere Fähigkeit, das Inkommensurable
zu ertragen".
Dem philosophischen Nihilismus, so könnte man zusammenfassend sagen,
geht es vorrangig um die Zerstreuung von Macht, um die Auflösung jeder
Form von überindividuell fundierter Ganzheit, da diese als die Wurzel
des Terrors und der Ungerechtigkeit begriffen wird. Stattdessen wird
der Vielfalt an Perspektiven, Lebensformen, Denkstilen und
Sprachspielen weitgehend Tribut gezollt.
Dies hat die Auflösung des Wahrheitsbegriffes und eine fundamentale
Skepsis zur Folge. Ob dieser Nullpunkt allen Denkens Paralyse und
Dekadenz bedeutet oder den Sprung ins Wunderland der Philosophie, wird
eine Frage der Konstitution des Einzelnen sein. Die Euphorie freilich
ist in jedem Fall gedämpft: Das Philosophieren übt sich in maßvoller
Bescheidenheit, der Weg wird zum Ziel der Bewegung.
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