Message 06426 [Homepage] [Navigation]
Thread: oxdeT06424 Message: 3/5 L2 [In index]
[First in Thread] [Last in Thread] [Date Next] [Date Prev]
[Next in Thread] [Prev in Thread] [Next Thread] [Prev Thread]

mal wieder: Technikdeterminismus (was: Re: [ox] Stichpunkte aus deinem Vortrag)



Hallo Liste,

ein interessanter Vortrag, mich stoert nur Freyermuths Evolutionismus
und Technikdeterminismus. Open Source Praxis in einer ganz bestimmten
Interpretation wird als naechster Schritt prophezeit, den weder Ochs
noch Esel in seinem Lauf (von Kalifornien in die ganze Welt)
aufhalten. Das ist statthaft als politische Intervention, aber so ist
es nicht gemeint (zumindest nicht expressis verbis).

Was ist Technik- und Mediendeterminismus (s.a. die schoene Einfuehrung
http://www.aber.ac.uk/media/Documents/tecdet/tecdet.html )? Die Welt
als Ganze ist nur verstaendlich, wenn die Kommunikationsmedien oder
auch Technologie als Ganze verstanden wird. Dazu gesellt sich die
Annahme, dass es _ein_ Paradigma der jeweiligen 'wichtigen'
Technologie gibt, ein Buendel an Eigenschaften, das alle anderen
Technologien rahmt und formt, alles zusammen formt dann die Welt. Dies
verbindet sich oft mit Stufenmodellen: Koerperkraft -> Dampfmaschine
-> Elektronik -> digital ...

Freyermuths Vortrag ist voll mit technikdeterministischen Wendungen
(z.B.: "Jede Technologie hat eine Staatsform hervorgebracht").

_Aber_

er fuehrt auch die Nicht-linearitaet von Innovationen (v.a. von
Technologien: was auf dem Reissbrett entsteht, ist nicht identisch mit
dem, was spaeter genutzt wird) als 'Movens der Zivilisation' ein. Dies
ist ein klassisches Argument gegen Technikdeterminismus. Denn hier
kommt der gesamte soziale Wust an Macht, Staat, Eigentum, Nutzung,
Alltag, usw. ins Spiel. Letztendlich unterscheidet Freyermuth aber
dann doch ganz im Sinne des Technikdeterminismus verschiedene Phasen
der Exadaption, die mit Technikparadigmen korrespondieren (vor-,
industriell, nach-).

Exadaption ist nur ein (wichtiger) Teil der Geschichte.

TechnikhistorikerInnen (z.B. Thomas Hughes. Networks of Power:
Electrification in Western Society 1880-1930. Baltimore: Johns Hopkins
Uni Press, 1983) zeigen in der Tat, dass Innovationen nicht linear vom
Reissbrett auf die Strasse kommen. Erfolgreiche Innovatoren - Hughes
erzaehlt von Edison - sind 'heterogene Ingenieure', die die
materiellen Probleme (wie schaff ich es, dass der Draht nicht
verglueht) ebenso loesen, wie dass sie sich mit sozialen Gegebenheiten
(City Council) auseinandersetzen, hier _soziale_ Loesungen 'erfinden'.
Ohne die politische Durchsetzung von Elektrifizierung Amerikanischer
Grossstaedte, ist die Gluehbirne eben ein nettes Spielzeug, mehr
nicht.

Was am Ende herauskommt ist ein Gemisch aus der 'urspruenglichen'
Intentionen und kreativen Umnutzungen. Unterschiedlichste Gruppen
nehmen hier Teil, die NutzerInnen, die EigentuemerInnen (worauf Tian
hinweist), Institutionen und: die Technologie selbst, wie sie sich
materiell manifestiert. Viel spricht dafuer, dass der Prozess, der zu
einer einigermassen stabilen und verbreiteten Technologie fuehrt,
fundamental politisch ist, d.h. auf einer mehr oder minder
gewaltfreien Verhandlung von Interessen basiert. S.a. hierzu auch
Stuart Halls drei Optionen des Fernsehzuschauers, die auf das
Verhaeltnis des Nutzers zur Technologie angewendet werden koennen:
Gehorchen, Verhandeln, Widerstand leisten.

Das Verhaeltnis zwischen Technologie und Gesellschaft ist ein
Dauerbrenner in der Techniksoziologie. Gegen Technikdeterminismus
haben sich 'Sozialdeterministen' /die sich so nicht genannt haben/
gewendet, die die Form der Technik 100prozentig aus der jeweiligen
Gesellschaftsformation herleiten. Ein Beispiel fuer eine Gerinnung von
Rassismus in Technik erzaehlt z.B. Langdon Winner (1). Aber ist der
Stellenwert von Technik nicht doch groesser, determiniert sie nicht
doch auch soziales Handeln?

Eine radikale Antwort kurz skizziert:

VertreterInnen der Akteur-Netzwerk-Theorie (Bruno Latour, Michel
Callon, John Law) sagen: Es gibt keinen Unterschied zwischen
menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren, daher faellt die Frage
nach was Technik und was Gesellschaft einfach weg:

"So the argument is that the stuff of the social isn't simply human.
It is all these other materials [machines, animals, texts, money,
architectures -- any material that you care to mention, TB] too. Indeed,
the argument is that we wouldn't have a society at all if it weren't
for the heterogeneity of the networks of the social." John Law in
einer Art Einfuehrung:
http://www.comp.lancs.ac.uk/sociology/soc054jl.html )

Freyermuth: "Es kommt darauf an, ob die Technologie hinter dir steht
oder nicht."

Technologie steht nicht hinter uns, sondern was wir sind ist
untrennbar mit Technologie verbunden. Uns ohne Technologie
vorzustellen faellt ausserordentlich schwer. Was Technologie wiederum
ist, ist untrennbar mit uns verbunden. Ohne unser Gehorchen,
Verhandeln, Umnutzen, Nichtnutzen keine Technologie. Beides stimmt.

Ein digitales Zeitalter mag draeuen, wie es aussieht wird gerade
verhandelt mit digitalen Technologien, dir, mir, der Open Source
Praxis, Freyermuth, Oekonux, Microsoft, EU, USA, ... als Stakeholdern
unter vielen anderen. Die Wahrscheinlichkeit ist groesser, dass es
eher nicht so aussieht wie Freyermuth es schildert, sondern eher so
wie Microsoft es will. Aber das Resultat ist grundsaetzlich ungewiss
und am wahrscheinlichsten ist, dass es Zuege von beiden V[i|er]sionen
(und vielen anderen) traegt. Die Frage ist das Mischungsverhaeltnis.

Soweit so gut (muss demonstrieren gehen).

Thomas Be

(1)
zit. nach http://grimpeur.tamu.edu/~colin/Phil205/mar30.html :

"...Robert Moses, who is chiefly responsible for the development of
the parkway system in and around New York City. Many of the bridges on
this parkway were purposely built very low so that busses could not
pass on the roads underneath them. Robert Moses, who was a racist,
intended to prevent many minorities access to certain parts of the
city, because of the reliance that many minorities had on public
transportation (buses that could not pass under the bridges)."

________________________________
Web-Site: http://www.oekonux.de/
Organisation: projekt oekonux.de



[English translation]
Thread: oxdeT06424 Message: 3/5 L2 [In index]
Message 06426 [Homepage] [Navigation]