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[ox] TELEPOLIS: Das Datengitter



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von  <helmuth.s gmx.li> gesandt.

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Dann kann ich mit einem PIII 550 MHz weiter werkeln, ?
OpenSource4ever
Helmuth

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Das Datengitter

Mario Sixtus   19.07.2003 

Das CERN war die Keimzelle des WorldWideWeb. Zünden die CERN-Forscher 
nun die zweite Stufe der Medienrevolution? 

Als im Jahre Neunzig des vergangenen Jahrhunderts Tim Berners-Lee am 
Genfer Teilchenphysikforschungszentrum  CERN [1] einen virtuellen 
Schalter umlegte und das WWW in Betrieb nahm, fand dieses Ereignis 
weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Nach Sensation 
roch der Vorgang auch wirklich nicht: Eine neue Art von 
Computernetzwerkprotokoll sollte es Universitäten und 
Forschungseinrichtungen erleichtern, Dokumente und Dateien miteinander 
auszutauschen und zu verknüpfen. Toll. So eine Meldung schafft es noch 
nicht einmal im Sommerloch auf eine der letzten Seiten einer 
Tageszeitung. Wer damals den Begriff 'Revolution' in den Mund genommen 
hätte, hätte sich selbigen wohl gnadenlos verbrannt und wäre mit 
Verständnislosigkeit und Kopfschütteln belohnt worden. 

Technologische Revolutionen keimen meist im Verborgenen, bevor sie 
ihren Siegeszug durch Büros und Wohnzimmer antreten. Das war bei der 
Elektrifizierung oder bei der Erfindung von Telegraph und Telefon auch 
nicht anders als bei der Einführung des WorldWideWeb, auch wenn 
hinterher wieder alle Medienwissenschaftler den gesellschaftlichen und 
kommerziellen Impact frühzeitig vorhergesehen haben wollen. Prognosen 
funktionieren eben nur dann zuverlässig, wenn sie in die Vergangenheit 
gerichtet sind. 

Nächste Woche bietet sich nun die Möglichkeit einer Prognose, die in 
die Zukunft gerichtet ist, und der Deja vu-Effekt ist nicht ganz von 
der Hand zu weisen. Wieder ist das CERN in Genf im Spiel und wieder 
geht eine neue Form von Computernetz an den Start. Traut sich diesmal 
vielleicht jemand, 'Revolution' zu rufen? 

Nach dem Web das Grid 

Das Web ist eine tolle Sache. Dokumente, Grafiken, Film- und 
Audio-Dateien können von Servern heruntergeladen werden und auf dem 
eigenen Rechner betrachtet oder bearbeitet werden. Fein. Genau genommen 
ist es das dann aber auch schon. Bei der Verarbeitung dieser Daten ist 
der User nach wie vor auf die Leistung seines lokalen Rechners 
angewiesen. 

Selbst wenn der Webserver durch die Bereitstellung der Dokumente noch 
nicht einmal zu einem Prozent ausgelastet ist und die eigene Kiste bei, 
sagen wir mal, dem Abspielen einer hoch komprimierten Video-Datei schon 
beängstigend zu knirschen beginnt, besteht keine Möglichkeit, dieses 
Ungleichgewicht zu ändern. Selbst distributed computing, wie es 
beispielsweise durch das SETI Home-Projekt populär geworden ist, 
funktioniert nach dem gleichen Prinzip: Datenhappen saugen, durchkauen 
und die Ergebnisse wieder ausspucken. Jeder kaut so schnell wie er 
kann. Wahres 'verteiltes Rechnen' ist das nicht. 

Mag dieser Nachteil für den Heimanwender, der brav alle zwei Jahre 
seine alte Kiste auf dem Sperrmüll, äh, mittels Recycling entsorgt und 
sich den jeweils nigelnagelneuen Aldi-PC unter den Schreibtisch stellt, 
noch zu verschmerzen sein - Moores Gesetz sei Dank -, so ist dieser 
Zustand für Wissenschaftler, die Datenberge durchzukauen haben, die 
sich in komplett anderen Dimensionen bewegen, auf Dauer unhaltbar. 

Forschungsbereiche wie Hochenergiephysik, Biologie, aber auch die 
Erdbeobachtung benötigen Computerressourcen und Speichermöglichkeiten, 
wie sie sich keine Institution alleine leisten kann. Allein die 
Teilchenbeschleuniger im CERN werden demnächst jährlich bis zu zehn 
Petabyte Daten produzieren (zehn Millionen Gigabyte), die der 
Auswertung und Verarbeitung harren. 

Weiß nun schon der Volksmund, dass geteilte Freud doppelte Freud ist, 
so verhält es sich mit Computing Power im Grundsatz nicht anders. 
Trotzdem hat  The DataGrid [2], wie das von der EU mitfinanzierte 
Projekt getauft wurde (  Vom World Wide Web zum World Wide Grid [3]), 
sich einiges vorgenommen. Schließlich sollen die unterschiedlichsten 
Zugangs- und Verwaltungsmöglichkeiten der angeschlossenen Rechner unter 
einen Hut gebracht werden, um eine "einheitliche und für alle 
Beteiligten transparente Steuerung zu ermöglichen". Bei den 
verschiedensten Plattformen und Systemen, die da miteinander 
kommunizieren sollen, schon eine Aufgabe von babylonischem Ausmaß. 

Nach dem Vorbild des Stromnetzes 

Die Grundidee des Datengitters lässt sich sehr schön mit der so 
genannten Stromnetz-Metapher beschreiben: Das elektrische Netz liefert 
eine standardisierte Spannung und Stromstärke und jedes elektrische 
Gerät, das diesen Spezifikationen folgt und obendrein über einen 
ebenfalls standardisierten Stecker verfügt, kann daran angeschlossen 
werden, ohne dass der Benutzer sich darüber Gedanken machen muss, ob 
der Saft aus der Steckdose direkt nebenan oder in einem Hunderte 
Kilometer entfernten Kraftwerk produziert wird. 

Das DataGrid-Projekt will nun eine ähnliche Universalität in der 
Computerwelt schaffen. Foster und Kesselmann beschrieben die Situation 
in ihrem 1998 erschienen Buch The Grid: Blueprint for a New Computing 
Infrastructure wie folgt: 

Die Situation, die wir momentan im Computerbereich haben, ähnelt in 
vielen Aspekten der, in der sich die Elektrifizierung im Jahre 1910 
befand. Damals war es zwar möglich, elektrischen Strom zu erzeugen und 
immer neue Geräte wurden entwickelt, die sich Elektrizität zu Nutze 
machten, aber die Notwendigkeit, dass jeder Anwender sich zunächst 
einen eigenen Generator besorgen und diesen betreiben musste, hinderte 
die Verbreitung doch enorm. Die wahre Revolution war somit nicht die 
Entdeckung der Elektrizität, sondern die Einführung des Stromnetzes.   

Mit Hilfe des DataGrids wird es den Benutzern nun möglich sein, über 
ein einheitliches grafisches User-Interface die gewünschte 
Computeranwendung zu starten und diese mit den notwendigen Anfangsdaten 
zu speisen. Das Grid-System wird sich daraufhin selbständig die 
passenden und verfügbaren Verarbeitungs- und Speicher-Ressourcen 
zusammensuchen, die jeweiligen Prozesse starten und überwachen, den 
momentanen Fortschritt anzeigen und schließlich dem Anwender die 
Ergebnisse präsentieren. 

Der Nutzer muss sich dabei weder darum kümmern, welche oder wie viele 
Rechner gerade an seiner Aufgabe arbeiten, oder gar, wo sich diese 
befinden. Alles, was der User sieht, ist eine einheitliche Oberfläche, 
egal mit welchem Gerät oder von wo aus er sich ins Grid einloggt. Die 
Leistungsfähigkeit des eigenen Rechners spielt bei diesem Verfahren 
überhaupt keine Rolle mehr. 

Im ersten Schritt sollen nun insgesamt zehn Institutionen an das Grid 
angeschlossen werden, ausgelegt ist das System allerdings für eine 
unbegrenzte Zahl von beteiligten Rechnern und Subnetzen. 

Revolution? 

So. Und jetzt wollen wir doch langsam mal die Spekulationsmaschine 
anwerfen. Da die Geschichte des Web gezeigt hat, wie schnell aus einer 
kleinen Netzwerkidee, aus dem und für den Forschungsbereich, ein 
globales Massenmedium werden kann: Was wäre, wenn wir demnächst alle 
unsere Rechenknechte ans Grid bringen würden? Alte und neue, starke und 
schwache, große und kleine? Die Leistungsfähigkeit des Zugangsgerätes 
wäre bekanntlich künftig absolut unerheblich. Ein Smartphone würde 
ausreichen, um irgendwo im Grid die Leistungsfähigkeit der 
3D-Rendering-Engines der Pixar-Studios anzuwerfen und den fertigen Film 
in Kino-Qualität mal eben irgendwo zwischenzuspeichern, bevor man ihn 
sich zu Hause auf dem Beamer anschaut. Wo zwischenspeichern? Wo rendern 
lassen? Mir doch egal! Soll sich doch bitte das Grid darum kümmern! 
[Hier bitte selbst weiterspinnen...] 

Um also wieder zum Anfang zurück zu kehren: Eine Handvoll Rechner von 
einigen Forschungseinrichtungen werden im Laufe der nächsten Woche eine 
neue Form von Netzwerkkommunikation in Betrieb nehmen. Traut sich hier 
jemand, das Wort 'Revolution' in den Mund zu nehmen? Mutige bitte 
vortreten. 

Links 

[1] http://www.cern.ch/
[2] http://eu-datagrid.web.cern.ch/eu-datagrid/
[3] http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/co/4681/1.html

Telepolis Artikel-URL: 
http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/lis/15215/1.html 

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