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[ox] Fwd: Harold Varmus:"Werdet Teil der Revolution!"



Hi!

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						Mit Freien Grüßen

						Stefan

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Date:  Thu, 19 Jun 2003 19:55:01 [PHONE NUMBER REMOVED]
From:  Helmuth Supik <helmuth.s gmx.li>
Subject:  [chox] Harold Varmus:"Werdet Teil der Revolution!"
To:  chat <chat oekonux.de>
Message-Id:  <200306191955.01271.helmuth.s gmx.li>


"Werdet Teil der Revolution!"

Digitale Bibliotheken und elektronische Zeitschriften sollen das
wissenschaftliche Publizieren ändern. Ein Gespräch mit dem Nobelpreisträger
Harold Varmus

die zeit: Sie haben vor drei Jahren die Public Library of Science gegründet.
Was war Ihr Motiv?

Harold Varmus: Früher waren Zeitschriften auf die traditionelle Art des
Publizierens angewiesen. Das heißt: Artikel von Autoren einholen, Drucken auf
Papier, Abonnements verkaufen. Heute birgt das Internet das Potenzial, die
wissenschaftliche Literatur viel breiter zugänglich zu machen - für die
Wissenschaftler und für die Öffentlichkeit -, indem man digitale Bibliotheken
errichtet. Der größte Teil der Wissenschaft wird durch Steuern finanziert.
Deshalb sind wir der festen Überzeugung, dass die Publikationen allen
zugänglich sein sollten. Diese Datenbanken werden das digitale Äquivalent zur
Bibliothek von Alexandria oder zum Britischen Museum sein.

zeit: Aber Ihr Appell an die Verlage, ihre Publikationen wenigstens ein paar
Monate nach dem Erscheinen online zugänglich zu machen, hat nicht viel
gefruchtet.

 Varmus: Das stimmt. Da haben wir beschlossen: Jetzt gründen wir unsere
eigenen, kostenlosen Zeitschriften und zeigen, wie das System funktionieren
sollte.

zeit: Zeitschriften zu produzieren ist aber teuer - nicht wegen des
Papierpreises, sondern weil der Prozess teuer ist.

Varmus: Allerdings. Wir mussten Redakteure anstellen. Die kosten Geld. Und wir
haben einen Begutachtungsprozess, der Geld kostet. Kurzfristig bezahlen wir
das mit einem Zuschuss von neun Millionen Dollar, den wir von der Stiftung
des Computerpioniers Gordon Moore bekommen haben. Aber langfristig wollen wir
die Kosten decken, indem wir von den Autoren eine bescheidene Gebühr für
unsere Dienste verlangen. Das ist eine grundlegende Veränderung des
Geschäftsmodells von wissenschaftlichen Zeitschriften: Statt für die
Abonnements zahlen Wissenschaftler etwa 1500 Dollar für die Veröffentlichung
ihrer Arbeit - wenn sie es sich leisten können. Dafür werden unsere Journals
höchstes wissenschaftliches Niveau haben. PLoS Biology wird die gesamte
Biologie umfassen, vom Molekül bis zum Ökosystem, und wir werden nur Arbeiten
akzeptieren, die dasselbe Format haben wie Artikel, die in Zeitschriften wie
Nature, Science oder Cell erscheinen.

 zeit: Sie haben ein doppeltes Problem: Erstens müssen Sie die Autoren
überzeugen, überhaupt in Ihrer Zeitschrift zu veröffentlichen, und dann
sollen sie auch noch dafür bezahlen!

 Varmus: Forscher und Institutionen bezahlen doch jetzt schon eine Menge. Wenn
ich ein Paper veröffentliche, muss ich oft Gebühren pro Seite bezahlen. Mein
Institut und die Bibliothek zahlen für Print-Abonnements. Das
wissenschaftliche Veröffentlichungswesen läuft Amok, der ganze Prozess ist
völlig verzerrt. Es gibt Journals, nicht mal besonders gute, die verlangen
für ein institutionelles Abonnement bis zu 15000 Dollar pro Jahr - das ist
irrational, denn es behindert den Austausch von Information zwischen den
Forschern.

 Der zweite Punkt ist allerdings wichtig: Wie bringen wir die
wissenschaftliche Gemeinschaft dazu, eine neue Zeitschrift zu akzeptieren -
besonders wenn sie sich so radikal von den bestehenden unterscheidet? Und da
stellt sich heraus, dass viele Kollegen Sympathien für uns hegen und völlig
mit unseren Grundsätzen übereinstimmen, aber zögern, uns ihre besten Arbeiten
zu schicken. Das ist unsere größte Herausforderung: Wissenschaftler davon zu
überzeugen, ein Teil der Revolutionsarmee zu werden.

zeit: Seit dem 1. Mai nehmen Sie jetzt Artikel an. Können Sie schon etwas zur
bisherigen Resonanz sagen?

Varmus: Wir haben eine gute Zahl eingereichter Arbeiten - es ist schwer, sie
zu beurteilen, bevor der Gutachterprozess abgeschlossen ist.

zeit: Es hat immer wieder Anläufe zu elektronischen Zeitschriften gegeben -
mit mäßigem Erfolg. Die meisten haben einfach zu wenige Artikel.

Varmus: Das stimmt nicht ganz. Eine weniger bekannte, aber sehr renommierte
Zeitschrift, die schon seit einigen Jahren kostenlos online erhältlich ist,
ist das Journal of Clinical Investigation. Aber die Leute sehen das nicht als
elektronische Zeitschrift an, weil es auch auf Papier erscheint und die
meisten es in gedruckter Form lesen.

zeit: Wollen Sie Zeitschriften wie Nature und Science die Geschäftsgrundlage
entziehen?

Varmus: Nein, keinesfalls. Wir werden kein Nachrichtenmagazin sein wie Nature
und Science. Die sind attraktiv dadurch, dass sie auf unglaublich gute Weise
wöchentlich Artikel und Nachrichten über die gesamte Wissenschaftsszene
bringen. Die meisten von uns abonnieren sie deswegen. Wir wollen die Magazine
dazu bringen, ihre wissenschaftlichen Originalartikel kostenlos online zur
Verfügung zu stellen - und weiterhin mit ihren Nachrichten das Geschäft zu
machen. Außerdem gibt es mindestens 6000 biomedizinische Zeitschriften, da
ist bestimmt noch Platz für ein paar mehr. Wir wollen mit einem kostenlosen,
in erster Linie elektronischen Journal Erfolg haben. Aber das wirkliche Ziel
ist es, die Art und Weise zu transformieren, wie Wissenschaft kommuniziert
wird, sodass auf lange Sicht alle Zeitschriften unser Geschäftsmodell
übernehmen. Die meisten Forschungsartikel in den USA kosten rund 200000
Dollar. Man sollte es als Teil der Kosten eines modernen Forschungsbetriebs
betrachten, wenn man 1500 Dollar draufschlägt dafür, dass die Arbeit
überhaupt nutzbar, lesbar und anderen zugänglich wird und die Daten von
anderen ausgewertet werden können.

zeit: Der Wissenschaftschef des Elsevier-Verlags, Derk Haank,hat gesagt 

Varmus: Das ist der Teufel!

zeit: jedenfalls sagte er, er sympathisiere mit Ihrer Idee, aber man müsse
dafür nicht die gesamte Branche umkrempeln. Derk Haank will lieber das Geld
nehmen, das die Bibliotheken heute für die Zeitschriften-Abonnements
ausgeben, und es dafür einsetzen, dass jeder Wissenschaftler Zugang zu den
Artikeln hat, die er braucht.

Varmus: Das ist lächerlich. Leute wie Haank haben die Bibliotheken erpresst,
indem sie sie gezwungen haben, einen ganzen Stapel von Zeitschriften zu
abonnieren, um die eine zu bekommen, die sie eigentlich haben wollten.
Wissenschaftsverlage wie Elsevier wollen das Copyright nicht aufgeben, das
ihnen die Autoren der Artikel geschenkt haben. Diese Leute errichten
Barrikaden gegen die Schaffung einer digitalen Bibliothek mit alten Artikeln.
Da mache ich einen Unterschied zu anderen Verlagshäusern oder zu
wissenschaftlichen Gesellschaften, die Zeitschriften herausgeben. Aber auch
die werden sich verändern müssen.

zeit: Können Sie einem jungen Forscher, der ein großartiges Paper hat,
wirklich empfehlen, es in Ihrer neuen Zeitschrift zu veröffentlichen?

Varmus: Die Frage ist eher: Wie überzeuge ich ihn davon? Und das ist wirklich
schwierig. Wir sind alle sehr faul geworden und schauen zu sehr darauf, in
welcher Zeitschrift eine Arbeit veröffentlicht wird, anstatt den Artikel zu
lesen und seinen wissenschaftlichen Beitrag zu verstehen.

zeit: Aber das ist ja auch eine Art Filter.

Varmus: Ja, aber ein sehr ungerechter Filter. Wenn Sie zurückschauen und mit
einem Abstand von fünf bis zehn Jahren beurteilen, welche wissenschaftliche
Bedeutung eine Arbeit gehabt hat, dann finden Sie eine Menge sehr
einflussreicher Arbeiten, die nicht in den drei oder vier großen
Zeitschriften veröffentlicht worden sind. Und unsere professionellen und
wissenschaftlichen Redakteure, die wir für die PLoS verpflichtet haben,
werden innerhalb kürzester Zeit Journals auf die Beine stellen, die
mindestens genauso renommiert sind wie jedes andere.

Die Fragen stellte Christoph Drösser

Harold Varmus erhielt für seine Forschungen über Krebsgene im Jahr 1989 den
Nobelpreis für Medizin. Von 1993 bis 1996 war er Chef der Nationalen
Gesundheitsinstitute (NIH) der USA. In dieser Zeit rief er die
Online-Datenbank PubMed Central ins Leben. Heute leitet der 63-Jährige das
Memorial Sloan-Kettering Cancer Center in New York

(c) DIE ZEIT 18.06.2003 Nr.26
http://www.zeit.de/2003/26/N-Interview-Varmus












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